Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland

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2.3 Nach 1945

Nach der deutschen Kapitulation 1945 führte die Suche nach neuen Orientierungen u.a. dazu, dass viele Schleswiger sich der dänischen Minderheit anschlossen; deren Mitgliederzahlen stiegen in dieser Phase etwa um das Zehnfache auf zirka 100.000 Mitglieder. Von ihnen wurde auch die Beherrschung der dänischen Sprache erwartet, um als Dänen akzeptiert zu werden; es sollte eine Übereinstimmung zwischen Gesinnung und Sprache bestehen. Diese Forderung betraf sowohl Erwachsene als auch Kinder. Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen folgte dieser Erwartung mit großem Engagement. Zu diesem Zeitpunkt begann Dänemark auch, die Kulturbewilligungen wieder bereitzustellen.

Nach der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 wurde die dänische Minderheit in der Kieler Erklärung als gleichberechtigt anerkannt.

Die Mitgliederzahl der dänischen Minderheit stieg weiter an. Mit der dänischen Sprache und Kultur waren Erwartungen an eine neue und bessere Zukunft verknüpft, und die Zahl der dänischen Schulen und Kindergärten stieg, um die Nachfrage zu decken. 1950 bestanden 80 Schulen mit insgesamt 13.239 Schülerinnen und Schülern; 1955 waren es 89 Schulen, jedoch war die Schülerzahl auf 7.722 gesunken. Die Zahl der dänischen Kindergärten stieg von 1950 bis 1955 von 13 (446 Kinder) auf 30 (924 Kinder), und eine größere Zahl einsprachig dänischer Lehrkräfte kam nach Südschleswig. Sie waren für den Unterricht monolingual dänischer Kinder ausgebildet; in Südschleswig, wo viele der Schülerinnen und Schüler Dänisch als neue Zweitsprache erwarben, war diese Unterrichtsform gleichbedeutend mit einer standarddänischen Immersion der Zielgruppe.

Im Laufe der 1950er Jahre fiel die Zahl der Minderheitsangehörigen auf zirka 50.000. Als politische Abmachungen traten die Bonn-Kopenhagener-Erklärungen 1955 in Kraft; vier Monate danach wurde die Kieler Erklärung, die damit überflüssig geworden war, außer Kraft gesetzt (vgl. Kap. 3.3).

Wie der Name andeutet, handelt es sich bei den Bonn-Kopenhagener-Erklärungen um eine Erklärung einerseits der Regierung des Königreichs Dänemark in Kopenhagen und andererseits der Regierung der Bundesrepublik Deutschland in Bonn.

In der Bonner Erklärung (1955), welche sich auf die dänische Minderheit in Deutschland bezieht, wird festgesetzt, dass es jeder Person freisteht, sich als zur dänischen Minderheit zugehörig zu erklären, und dass diese Entscheidung keiner amtlichen Einmischung unterliegt.

In Artikel 5 der schleswig-holsteinischen Verfassung von 1990 ist weiterhin festgelegt, dass nationale Minderheiten und Volksgruppen ein Anrecht darauf haben, geschützt und in ihren Anliegen unterstützt zu werden. Die Zusicherung hat jedoch nicht dazu geführt, dass Dänisch und Friesisch in Schleswig-Holstein als offizielle Sprachen anerkannt wurden; diesen Status hat aktuell nur Deutsch, das nach §82a Landesverwaltungsgesetz Schleswig-Holstein (LVwG SH) Amtssprache in Schleswig-Holstein ist.1 2016 wurde das LVwG SH um §82b ergänzt, der die Verwendung von Regional- und Minderheitensprachen vor Behörden regelt (vgl. auch Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein 2017: 9; 59). Seitdem können im Gebiet der dänischen Minderheit Schriftstücke jeglicher Art auf Dänisch vorgelegt werden; sollte eine Übersetzung ins Deutsche notwendig werden, trägt die Behörde die Kosten (§82b Abs. 4 LVwG SH). Zum mündlichen Gebrauch des Dänischen heißt es:

Verwendet eine Bürgerin oder ein Bürger im Verkehr mit den Behörden eine der Sprachen gemäß Satz 1 oder Satz 2 [d.h., Niederdeutsch, Friesisch oder Dänisch (Erg. d. Verf.)], können diese Behörden gegenüber dieser Bürgerin oder diesem Bürger ebenfalls die gleiche Sprache verwenden, sofern durch das Verwaltungshandeln nicht die Rechte Dritter oder die Handlungsfähigkeit von anderen Trägern der öffentlichen Verwaltung beeinträchtigt wird. (Auszug aus §82b LVwG SH, in dieser Fassung gültig seit 26.10.2018)2

Die Kann-Regelung bringt zum Ausdruck, dass kein Anspruch darauf besteht, in der entsprechenden Minderheitensprache auch angesprochen zu werden (vgl. Kap. 3.3).

Deutsch, die offizielle Sprache, ist größtenteils auch die Muttersprache bzw. Erstsprache der dänischen Minderheit. Diese Entwicklung ist Folge eines bereits langandauernden Sprachwechsels von Dänisch zu Deutsch als dominanter Sprache in der gesamten südschleswigschen Bevölkerung. Ausgehend von den städtischen Gebieten setzte sich dieser Sprachwechsel auch in der ländlichen Bevölkerung durch. Eine deutsche Sprachzählung in Flensborg/Flensburg von 1905 zeigte, dass zu diesem Zeitpunkt nur (noch) 6,6 Prozent der dortigen Bevölkerung dänischsprachig war. Obgleich viele Kinder und Jugendliche mit Deutsch als Erstsprache nach 1920 zweisprachig wurden, da sie Dänisch in Schulen und Vereinen erwarben, hatte das keinen Einfluss darauf, dass Deutsch weiterhin die Familiensprache war. Eine Volkszählung von 1933 ergab, dass in Flensburg und Mittelschleswig 2.826 Personen dänischsprachig und 1.301 Personen bilingual Dänisch-Deutsch waren. Hinzu kamen vermutlich zirka 600 dänischsprachige Ausländer, so dass von etwa 5.000 Personen mit Dänisch als Muttersprache ausgegangen werden kann.3

Während zur Zeit der Weimarer Republik dänische Sprachkenntnisse als ein wesentliches Merkmal der Zugehörigkeit zur Minderheit gesehen wurden (Rasmussen 2011: 91f.), muss Dänisch spätestens seit der Bonner Erklärung nicht mehr Familien- oder Erstsprache sein, damit man der dänischen Minderheit angehören kann. Auch die Mitgliedschaft in einer dänischen Vereinigung ist nicht notwendig. Die Zugehörigkeit zur dänischen Minderheit ist ausschließlich eine Frage der eigenen Entscheidung. Wer sich als zugehörig wahrnimmt, ist Mitglied; wer sich gegen die Zugehörigkeit entscheidet, ist Teil der Mehrheitsgesellschaft.

Nach Kühl (1994: 56ff.) lässt sich die Minderheit mithilfe von konzentrischen Kreisen beschreiben, in deren Mitte sich Dänisch befindet. Im innersten Kreis sind Angehörige der Minderheit anzusetzen, deren Wurzeln in die Zeit vor den Weltkriegen zurückreichen. Im zweiten Kreis befinden sich Dänen, die im 20. Jahrhundert von Dänemark nach Südschleswig zugezogen sind, und ihre Nachkommen. Der dritte Kreis umfasst Familien, die nach dem Zweiten Weltkrieg per Erklärung ihre nationale Zugehörigkeit wechselten und Angehörige der Minderheit wurden. Der vierte und äußerste Kreis bildet den Rahmen um diejenigen, deren Zugehörigkeit zur Minderheit als lose und vor allem als situationsbezogen beschrieben werden kann, zum Beispiel durch die mehrjährige Mitgliedschaft in einem dänischen Sportverein oder durch die Inanspruchnahme dänischer Beschulung oder Kindergartenbetreuung.

3 Rolle und Präsenz der Minderheitensprache in Bezug auf Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung

Die sprachbezogenen Rechte, welche bereits die Bonner Erklärung von 1955 der Minderheit zusichert, finden sich in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992 wieder; Deutschland ratifizierte diese Charta 1998. Daran anschließend legte die Landesregierung in Kiel 2003 fest, auf welche Weise die Sprachencharta umgesetzt werden sollte. Von amtlicher Seite aus wurden seit 2008 zweisprachige Ortsschilder installiert, und in öffentlichen Verwaltungsräumen und Büros wurden Kennzeichnungen eingeführt, welche auf die sprachlichen Kompetenzen der Mitarbeitenden hinweisen, wie zum Beispiel Dänisch (vgl. oben und Kap. 3.3).1 Desweiteren wurden in verschiedenen Gemeinden Hinweise (Wegweiser u.ä.) zu dänischen Institutionen angebracht (vgl. auch Kap. 7).

Die Rahmenkonvention des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995 wurde 1997 von Deutschland ratifiziert; sie hat ebenfalls Gültigkeit für die dänische Minderheit.

Diese beiden internationalen Garantien wurden 2010 aktiv von der dänischen Minderheit genutzt. Zu diesem Zeitpunkt wollte die schleswig-holsteinische Landesregierung die Förderung der Schülerinnen und Schüler der Minderheit von 100 Prozent auf 85 Prozent der durchschnittlichen Landesschülerkostensätze kürzen. Nach zahlreichen Verhandlungen von dänischer Seite mit Land und Bund beschloss das Bundesinnenministerium für 2011 und 2012 eine Sonderzuwendung an den Dansk Skoleforening for Sydslesvig als Kompensation für die gekürzten 15 Prozent. Nach den Landtagswahlen von 2012 erkannte die Landesregierung in einer Koalitionsabsprache zwischen der SPD, den Grünen/Bündnis90 und der Minderheitenpartei SSW an, dass die Schulen der Dansk Skoleforening die öffentlichen Schulen der dänischen Minderheit sind; daher wurden die Kostensätze ab 2013 wieder auf 100 Prozent angehoben.

Ein Expertenkommittee der deutschen UNESCO-Kommission setzte 2018 das Zusammenleben zwischen Minderheit und Mehrheit im dänisch-deutschen Grenzgebiet auf die Liste zur Anerkennung als immaterielles Kulturerbe, nachdem vom SSF und dem Bund Deutscher Nordschleswiger (BDN) gemeinsam ein entsprechender Antrag gestellt worden war.2 Im nächsten Schritt wurde am 31. März 2020 ein Nominierungsdossier der dänischen und der deutschen Regierung an die UNESCO weitergeleitet, mit dem die Aufnahme in das internationale UNESCO-Register beantragt wird. Eine ensprechende Entscheidung des Zwischenstaatlichen Ausschusses zum Immateriellen Kulturerbe wird Ende 2021 erwartet.3

3.1 Wirtschaftliche Situation

Die Minderheit verfügt über keine ausgebaute wirtschaftliche Infrastruktur. Sie hat ihren eigenen Dienstleistungssektor in Verbindung mit der Verwaltung und dem Betrieb ihrer Vereine und Organisationen. Die dort Beschäftigten umfassen Verwaltungsangestellte, Lehrkräfte, Erzieher und Erzieherinnen, Pfarrerinnen und Pfarrer, Bibliothekare und Bibliothekarinnen, Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenpflegekräfte. Dazu kommt eine Reihe von Freiwilligen innerhalb der Vereine, die ehrenamtlich arbeiten.

 

3.1.1 Finanzielle Ausstattung

Dänemark bewilligt der dänischen Minderheit, vertreten durch eine Reihe von Vereinen und Einrichtungen 1 eine staatliche Förderung von jährlich zirka 650 Millionen Kronen (ca. 87 Mio. Euro)2. Etwa zwei Drittel des Haushalts der Minderheit sind damit abgedeckt. Die übrigen Mittel bestehen aus Zuschüssen des deutschen Staates und aus Mitgliederbeiträgen zu den Vereinen. Die staatlichen Zuschüsse aus Dänemark für die Minderheit südlich der Grenze werden vom Sydslesvigudvalget (‚Südschleswig-Ausschuss‘) verwaltet und verteilt. Dieser Ausschuss besteht aus fünf Mitgliedern; er wird vom Folketing (dem dänischen Parlament) ernannt, und seine Zusammensetzung richtet sich nach den Zahlenverhältnissen des Folketing.

3.2 Politische Situation

Die politische Partei der dänischen Minderheit ist der Sydslesvigs Vælgerforening/Südschleswigsche Wählerverband (SSW), der auch die Minderheit der Friesen vertritt. Der SSW wurde 1948 als politischer Repräsentant für die dänische Minderheit gegründet und ist seitdem im schleswig-holsteinischen Landtag vertreten, mit Ausnahme der Wahlperiode 1954–1958.1 Der SSW ist von der Fünf-Prozent-Hürde ausgenommen.

Zur Finanzierung des SSW leistet der dänische Staat mit zirka 80 Prozent den größten Beitrag, während der öffentliche Zuschuss aus Deutschland etwa 13 Prozent ausmacht.2

Seit den 1970er Jahren übt der SSW erfolgreich seinen Einfluss als regionale Minderheitspartei aus und prägt die politische Entwicklung in Schleswig-Holstein mit, besonders in der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik sowie der dänisch-deutschen Zusammenarbeit. Zentrales Anliegen des SSW ist es, im Sinne der Minderheiten zugunsten der dänischen und friesischen Sprache und Kultur zu arbeiten.

Der SSW ist in Ortsverbänden, Kreisverbänden und dem Landesverband organisiert.3

An höchster Stelle in der Parteiorganisation steht der Landesvorstand (mit sieben Mitgliedern). Er wird vom Landesparteitag gewählt, dem obersten Organ des Landesverbandes und der Partei. Der Landesparteitag tritt i.d.R. einmal jährlich zusammen. Er setzt sich zusammen aus Delegierten der Orts- und Kreisverbände, den Landtagsabgeordneten, dem SSW-Landesvorstand und Mitgliedern des Landesverbandes Jugend sowie ggf. Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Holstein-Hamburg. Der Landesverband besteht aus dem Zusammenschluss der vier Kreisverbände Flensborg by/Flensburg-Stadt, Slesvig-Flensborg amt/Kreis Schleswig-Flensburg, Nordfrisland amt/Kreis Nordfriesland (mit Helgoland) und Rendsborg-Egernførde amt/Kreis Rendsburg-Eckernförde (mit Kiel). Die Kreisverbände wiederum konstituieren sich aus den insgesamt 70 Ortsverbänden.

Bei der Landtagswahl 2012 erhielt der SSW 4,6 Prozent der Stimmen, das höchste Ergebnis seit 1950. Dadurch gewann er drei Landtagsmandate und kam zusammen mit der SPD und dem Bündnis90/Die Grünen mit einem Ministerposten in die Regierung. 2017 erhielt der SSW 3,3 Prozent der Stimmen und drei Mandate,4 kam jedoch nicht in die Regierung, die nun aus der CDU, dem Bündnis90/Die Grünen und der FDP bestand.

Bei der Kommunalwahl 2018 erhielt der SSW 25.954 Stimmen, d.h. 2,3 Prozent im gesamten Schleswig-Holstein.5 Dabei ist zu beachten, dass der SSW nur im Landesteil Schleswig zur Wahl antrat. Das Ergebnis entsprach einem geringfügigen Rückgang im Vergleich zu dem Ergebnis der Wahl im Jahr 2013, das bei 2,9 Prozent lag. Besonders in Flensborg/Flensburg erhielt der SSW 2018 einen hohen Stimmenanteil von knapp 18 Prozent.6

Auf seiner Homepage weist der SSW darauf hin, dass er „[a]uf die Zahl der Mitglieder bezogen […] mit seinen rund 3.600 Mitgliedern die drittstärkste Partei in Scheswig-Holstein [ist]“.7

3.3 Rechtliche Stellung
3.3.1 Kieler Erklärung 1949

1949 stimmte der Landtag in Kiel einstimmig einer Erklärung zu, die festlegte, dass das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur frei ist. Wesentliches Element war, dass die dänische Minderheit alle demokratischen Rechte des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland genießt.

3.3.2 Bonner Erklärung 1955

Die Bonner Erklärung für die dänische Minderheit von 1955 ist eine parallele Erklärung zur Kopenhagener Erklärung für die deutsche Minderheit in Dänemark. Mit den fast gleichlautenden, jeweils unilateralen Bonn-Kopenhagener-Erklärungen wurden beide Minderheiten in gleicher Weise anerkannt. Die Erklärungen garantieren den Minderheiten ihre allgemeinen Rechte und die formelle Gleichberechtigung, eine subjektive Definition des Nationalitätsprinzips wurde festgestellt, und der Gebrauch der dänischen Sprache von den Angehörigen der dänischen Minderheit ist in der Bonner Erklärung garantiert. Wörtlich heißt es:

Artikel II Absatz 1: Das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur ist frei und darf von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden.

Artikel II Absatz 2: Angehörige der dänischen Minderheit und ihre Organisationen dürfen im Gebrauch der gewünschten Sprache in Wort und Schrift nicht behindert werden.

Der Gebrauch der dänischen Sprache vor den Gerichten und Verwaltungsbehörden bestimmt sich nach den diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften.1

Die Erklärung macht keine Aussage darüber, ob die Minderheitensprache die Muttersprache der Mitglieder oder Ausdruck der Zugehörigkeit zu dem Staat ist, dem sich die Minderheit verbunden fühlt. Es heißt dort lediglich, dass die Mitglieder der dänischen Minderheit und ihre Organisationen nicht daran gehindert werden dürfen, die Sprache ihrer Wahl zu sprechen und zu schreiben. Es wird jedoch hinzugefügt, dass die Verwendung der Minderheitensprache „vor den Gerichten und Verwaltungsbehörden […] sich nach den diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften [bestimmt]“ (Art. II. Abs. 2, s.o.). Das bedeutet, dass die Sprachwahl und der Sprachgebrauch frei bestimmt werden können, dass jedoch die Gesetzgebung Deutsch als Amtssprache in bestimmten Situationen vorschreiben kann.

Die Verwendung der Formulierung „die gewünschte Sprache“ anstelle von „die Minderheitensprache“ macht den Absatz interpretierbar. Aus heutiger Sicht bestand jedoch 1955 kein Zweifel daran, dass die Absicht der Erklärung zur Sprachverwendung darin bestand, den Mitgliedern der Minderheit die Wahl der Minderheitensprache zu gewähren. Zu dieser Zeit waren Sprachpolitik und Sprachplanung in den meisten europäischen Nationalstaaten von der Idee des Sprachnationalismus dominiert. Ihr zufolge sind nationale Identität und nationale Sprache naturgemäß und untrennbar miteinander verbunden. Die Nationalsprache gilt in diesem Konzept als Ausdruck der Solidarität des Volkes sowie der Einheit der Nation und ist das Bindeglied zwischen den nationalen Minderheiten und dem Staat, dem sie sich verbunden fühlen. Demgegenüber beinhaltet die Idee des Sprachpluralismus ein Konzept von Mehrsprachigkeit und sprachlicher Vielfalt und akzeptiert, dass jede Sprache oder jeder Dialekt eine Reihe von Bereichen hat, in denen ihr bzw. ihm ein hoher Stellenwert zukommt. Wenn der Wortlaut der Kopenhagener Erklärung, „die gewünschte Sprache“, sprachpluralistisch interpretiert wird, könnten die dänischen Minderheitsmitglieder – bis auf wenige Ausnahmen – Dänisch bzw. Sydslesvigdansk oder den dänischen Dialekt Sønderjysk oder Deutsch und Niederdeutsch verwenden. Im täglichen Leben zeigt sich ein Sprachverhalten, das diesen Sprachpluralismus widerspiegelt. Einige ältere Mitglieder der Minderheit interpretieren den Wortlaut jedoch eher sprachnationalistisch und plädieren für die alleinige Verwendung der Minderheitensprache Dänisch. Das Nebeneinander dieser beiden Konzepte führt zu einer anhaltenden Sprachdebatte.

3.3.3 Der Minderheitenartikel in der Landesverfassung von 1990

Die Landesverfassung von 1990 baute in Artikel 5 die Kieler Erklärung von 1949 aus und legte fest, dass die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe Anspruch auf Schutz und Förderung haben.

3.3.4 Der Minderheitenschutz des Europarates

Die Bonner Erklärung ist kein völkerrechtlich bindendes Dokument. Erst einige Jahrzehnte später hat Deutschland zwei Abkommen ratifiziert, die völkerrechtliche Bindung haben und die dänische Minderheit erfassen: das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (Rahmenkonvention) im Jahre 1992 (ratifiziert 1998)1 und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (Sprachencharta) von 1995 (ratifiziert 1997). Die Rahmenkonvention bestätigt die Rechte, die der dänischen Minderheit in der Bonner Erklärung bereits zugesichert worden waren: die Zugehörigkeit zur Minderheit ist frei; Angehörige einer nationalen Minderheit haben das Recht, sich zu versammeln und sich frei zusammenzuschließen; sie haben Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie Zugang zu den Medien.

Diese generellen Rechte werden in der dänischen Minderheit nicht so oft diskutiert wie die Sprachencharta, welche die Regionalsprachen oder Minderheitensprachen schützt und fördert. Die Charta bestätigt die bereits in der Bonner Erklärung verankerten Rechte.

Sie enthält Pflichten für die Staaten, aber keine Rechte für Einzelpersonen oder Personengruppen. Daher können die Mitglieder der Minderheit nicht das Recht geltend machen, innerhalb der Behörden der Mehrheitsgesellschaft und vor Gericht in dänischer Sprache verstanden und angesprochen zu werden. Der Staat hat jedoch die Pflicht, sich darum zu bemühen, Wünschen zur Verwendung der dänischen Sprache nachzukommen.

3.3.5 Offizielle Sprachregelungen

2016 erließ der Landtag auf Initiative des SSW eine Ergänzung zum LVwG SH, das festlegte, dass Dänisch in Südschleswig (in den Kreisen Nordfriesland und Schleswig-Flensburg, in den kreisfreien Städten Flensburg und Kiel sowie im Kreis Rendsburg-Eckernförde) im Kontakt mit den Behörden verwendet werden darf (s. 2.3). Dieser Schritt geht über die Bonner Erklärung hinaus; er reflektiert die Wünsche der Minderheit an den Sachverständigenausschuss der Sprachencharta, der die Sprachsituation der Minderheit ausgestaltet.