Historische Begegnungen

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Die Verzweiflung Conrad Grebels



Schon in Frankreich, wo er von Ende 1518 bis Sommer 1520 studierte, wusste Conrad Grebel, wie problematisch die Stipendien waren, von denen er lebte. Dem Humanisten und Stadtarzt von St. Gallen, Vadian, der in Wien sein Lehrer gewesen war und seine Schwester Martha geheiratet hatte, klagte Grebel – in Latein – noch aus Paris sein ganzes Leid. Im bereits erwähnten Brief vom 14. Januar 1520 heisst es da über seinen Vater: «Er weiss nicht, was ich durch seine Schuld leide, seitdem er mich zuerst vom Kaiser und dann vom französischen König füttern lässt. Hätte er mich nur gelehrt, nach Väterart mit wenigem selbstverdienten Gelde auszukommen (ich hoffe nur, dass er von verbotenen Geschenken nichts empfangen hat), und hätte er gewollt, dass ich die Federn nicht höher strecke als das Nest, so würde mir nicht öffentlich und hinter dem Rücken Böses nachgesagt . Dann müsste ich nicht, wenn solche Gespräche geführt werden, bald erröten, bald erbleichen; so könnten nicht päpstliche Ritter und andere Leute immer sagen, mein Vater begünstige einseitig die Interessen des französischen Königs. Des Volkes Reichtum saugt der König aus und raubt ihm aus dem Munde wie ein Wolf die Nahrung, mit der ich mich glänzend ziere, im Überfluss lebe und einst, wenn das Gemeinwesen mich zu Würden und Ehren erhebt, zu Gott weiss was gezwungen werde.»



Es spricht manches dafür, dass Conrad Grebel sich im ersten Winter 1518/19 in Paris wegen des feuchten, kalten Zimmers eine Polyarthritis zuzog, auf jeden Fall klagte er noch im Juli 1521 gegenüber seinem Schwager Vadian über Gelenkschmerzen in Füssen und Händen gleichzeitig. Die kehrten mit Unterbrüchen ständig wieder. Manchmal war er für lange Tage ausserstande zu irgendwelcher Tätigkeit.



Zurück in Zürich, musste er bei Abwesenheit seines Vaters unvermeidlich in dessen Eisengrosshandelsgeschäft aushelfen. Er hatte in Paris Griechisch gelernt und las nun nebenbei weiter Epigramme, arbeitete auch an einem erläuternden Buch zu Homers Werken. Doch war er ziemlich verzweifelt, in Zürich das unabhängige Leben nicht mehr fortführen zu können. Er wünschte sehnlichst, sein Studium fortzusetzen. Der unzufriedene Vater drängte ihn zur Wahl einer Universität im päpstlichen Machtbereich, Pisa oder Bologna. Dies in Sachsen, das heisst im lutherischen Wittenberg, zu tun, blieb Conrad Grebels unerfüllbarer Wunsch. Aussicht auf ein Stipendium gab es nur von Seiten des Papstes – und solches Geld wollte Conrad Grebel nicht mehr annehmen müssen. Nicht nur wegen der causa Luther.



Eigenes Geld stand dem Vater offenbar nicht zur Verfügung, sogar seinem Schwiegersohn Vadian musste Junker Jakob Grebel die Mitgift lange schuldig bleiben. Das Eisengeschäft ging in jenen Jahren schlecht: Wegen der Pest von 1519/20 und dann wegen des Kriegs in Norditalien 1521 scheint es schwierig geworden zu sein, noch genügend Nachschub an Roheisen zu erhalten. Umgekehrt war Junker Jakob Grebel als Mitglied des Kleinen Rats zu einem seiner Geltung entsprechenden Lebensstil verpflichtet – mit Pferden für diplomatische Reisen sowie Gelagen und Geschenken zur Sicherung der periodischen Wiederwahl. Er gehörte der Konstaffel an, der Stubengesellschaft der Vornehmsten in der Stadt.



Das Geld war schon in Paris zum Hauptstreitpunkt zwischen Conrad Grebel und seinem Vater geworden. Aufgrund der Berichte über unvorsichtigen Umgang mit Geld hatte der ihm nämlich einen Teil des französischen Stipendiums – 400 Gulden – gar nicht mehr zukommen lassen. Ursprünglich erschien das als Erziehungsmassnahme. Er enthielt ihm dieses heikle Geld auch in Zürich weiter vor, vielleicht aus Angst, es würde unnötig zu reden geben und ihm als Ratsherrn in der sich 1521 zuspitzenden Auseinandersetzung um die aussenpolitische Ausrichtung der Stadt schaden.



Vieles deutet aber darauf hin, dass Junker Jakob Grebel 1519/20 diese Summe benutzte, um Löcher im Eisenhandelsgeschäft zu stopfen oder die mit grossen Ausgaben verbundene Hochzeit seiner Tochter Martha mit Vadian am 19. August 1519 auf Schloss Wädenswil auszurichten – zu der nota bene Conrad Grebel, der die Verbindung der beiden überhaupt gestiftet hatte, mangels Geld nicht mal hatte anreisen können. Die Sache belastete die Vater-Sohn-Beziehung schwer. Im Bedürfnis, sich abzugrenzen und der Empörung Luft zu verschaffen, zog Conrad Grebel trotz Vadians Ermahnungen zu strengem Stillschweigen alle seine Freunde ins Vertrauen, darunter auch Zwingli. Der vergass die Sache nicht und machte das ihm anvertraute Geheimnis 1526 zum Hauptanklagepunkt gegen den einflussreichen Ratsherrn, obwohl Junker Jakob Grebel die Summe inzwischen wieder zurückgelegt hatte – die 400 Gulden fanden sich bei seiner Verhaftung im Herbst 1526 in einem Beutel, sorgsam aufbewahrt bei ihm zu Hause. Formal gesehen war er nur Treuhänder dieses Geldes gewesen, das rechtmässig seinem Sohn gehörte.



Es gab noch einen weiteren dramatischen Konflikt: Ohne seinen Eltern auch nur ein Wort zu verraten, hatte sich Conrad Grebel kurz nach der Rückkehr aus Paris in eine junge Frau verliebt. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie zu jenem Zeitpunkt Novizin im Zürcher Oetenbach-Kloster, und eine Tante, die dort als Nonne lebte, deckte diese geheime platonische Liebe. Eine jüngere Schwester Conrads, Euphrosyne, die dasselbe Kloster gewählt hatte, war kurz vor seiner Heimkehr nach Zürich gestorben. Vielleicht stattete Conrad der Tante einen Trauerbesuch ab und sah die junge Frau bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal. In dem Fall hätte sie nach Ablauf des Noviziats seinetwegen auf die Ablegung eines Gelübdes verzichtet und das Kloster verlassen. Wäre sie Nonne geworden, hätte sie erst zwei Jahre später im Zuge der Reformation austreten dürfen – frühestens im Juni 1523.



Fest steht, dass die beiden den Plan fassten, nach Basel durchzubrennen. Conrad Grebel bereitete alles vor. Er hatte Kontakte zum Basler Buchdrucker Cratander, der händeringend nach Hilfskräften suchte. Der Buchhandel in Basel florierte. Conrad wusste, er könnte als Korrektor für Latein und Griechisch eigenes Geld verdienen – und an der Universität Basel fertig studieren. Noch zögerte er den Absprung hinaus, wegen einer Lungenentzündung seiner Mutter. Im Sommer 1521 reiste die junge Geliebte, die wie seine älteste Schwester Barbara hiess, ihm voraus, mit 50 Gulden, die Conrad Grebel sich unter Vortäuschung falscher Tatsachen beim Sekretär des päpstlichen Legaten verschafft hatte – der glaubte, der junge Mann wolle nun doch mit einem päpstlichen Stipendium in Pisa studieren.



Allein zurückgeblieben, fühlte sich Conrad Grebel in Zürich wie in der Verbannung. Wenn er ihr nicht auf der Stelle folge, werde er elend sterben, klagte er Vadian. Schliesslich stimmte der Vater, der noch immer nichts von der Existenz jener jungen Barbara wusste, der Abreise des Sohnes nach Basel zu und gab ihm 40 «francos» – umgerechnet 20 Gulden – mit. Offenbar setzte Junker Jakob Grebel nun ganz auf den jüngeren Sohn Andreas als Nachfolger im Eisengeschäft.



Ein «Oceanus» der Glückseligkeit warte auf ihn, schrieb Grebel dem Schwager Vadian, als er sich auf die Reise machte. In Basel verlebte er wohl die wunderbarste Zeit seines Lebens, blühte gesundheitlich auf und entfaltete in der Buchdruckerei Cratanders, für die auch der Künstler Hans Holbein der Jüngere tätig war, vielfältige Eigeninitiativen. Doch dann starb sein Bruder Andreas am 3. September 1521 plötzlich an unbekannter Ursache. Und da erzwang der Vater die Rückkehr Conrads– als einziger männlicher Erbe. Widerstrebend fügte er sich.



Noch finden sich keine reformatorischen Töne in den Briefen, noch fühlte er sich als humanistischer Dichter mehr den Musen und Gottheiten der Antike verpflichtet. Erst im November 1521 berichtet Conrad Grebel, dass er und zwei Freunde mit Zwingli einen Plato-Lesekreis gegründet hätten. Noch immer hielt er seine Liebe zur ehemaligen Novizin Barbara geheim. Seine Befürchtung, dass sich Vater und Mutter der Verbindung widersetzen würden, bewahrheitete sich, als er schliesslich alles offenlegte. Da nutzte Conrad Grebel die erste sich bietende Gelegenheit, als sein Vater wegen einer diplomatischen Mission nicht in der Stadt war, und heiratete die junge Frau gegen den erklärten Willen der Eltern am 6. Februar 1522, indem er sie vor aller Augen zum Fraumünster führte.



Von da an gestalteten Conrad und seine Frau Barbara ihr eigenes, wenn auch kärgliches Leben, offenbar in einem Haus, das ebenfalls der Familie gehörte. Seit November 1522 hatten sie einen Sohn – Theophil. Ein zweiter, Joshua, wurde im August 1523 geboren. Conrad gab Privatstunden in Griechisch, und als die Reformation in jenem Frühling 1522 mit dem Fastenstreit einsetzte, zählte er sogleich zu Ulrich Zwinglis engstem Anhängerkreis. Dies traf auch auf Felix Manz zu, als der in eben jenem Jahr 1522 nach zwei Jahren Studium aus Paris zurückkam. Manz hatte in Frankreich Hebräisch gelernt und vertiefte es in Zürich, zusammen mit Zwingli, der sich damit anfänglich aber noch schwer tat.





Zwingli – vom humanistischen Kirchenrebell zum Gehorsamsprediger



In seiner Anti-Fasten-Schrift «Von der Auswahl und der Freiheit der Speisen» vom April 1522 schrieb Zwingli wohl für die jungen Heisssporne einladend genug: «Der Herr ist mit seinem Licht gekommen und hat die Welt mit dem Evangelium erleuchtet, damit sie ihre Freiheit erkenne.» Die Schrift trug den Titel «Von Erkiesen und Freiheit der Speisen». Diese christliche Freiheit – die sowohl von seinen jüngeren Anhängern wie von den Bauern auf dem Land befreiungstheologisch verstanden wurde – schränkte Zwingli dann aber in der Folge, durch Drohungen der Eidgenossen und das Drängen des Zürcher Rats genötigt, zwischen Sommer 1523 und 1525 im Sinn einer strengen Obrigkeitstheologie wieder stark ein.

 



Kann es wirklich erstaunen, dass da, spätestens vom Herbst 1523 an, Zwinglis jüngere Freunde offen und herausfordernd Kritik an ihm übten und ihn immer wieder an seine Frühthesen erinnerten, von denen er bereits im Januar 1523, an der Ersten Zürcher Disputation, nicht alle schriftlich niederzulegen wagte? Seit Mai 1522 trafen sich die Radikalen in Castelbergers Bibelkreis – der Bündner Andreas Castelberger galt als der wichtigste reformatorische Buchhändler der Stadt und war lange Zeit Zwinglis Vertrauter. Aus diesem Bibelkreis ging Anfang 1525 die Täuferbewegung hervor. Castelberger muss in Zürich insbesondere die Schriften von Andreas Bodenstein von Karlstadt verbreitet haben, der weiter ging als Luther und auf den sich Zwingli erst recht nicht offen berufen wollte.



Den jungen Kritikern zufolge schritt Zwingli mit der Kirchenreform überhaupt zu zaghaft voran – nicht «unerschrocken» genug, wie es in einer späteren Formulierung hiess – und schien eben seine radikalen Frühthesen zu verwässern oder gar ins Gegenteil zu verkehren. Verstanden die Radikalen seine Taktik nicht, wollte sich Zwingli im kräftigen Gegenwind, auf den er stiess, «unterstellen», wie bei einem «Gewitter»? So schrieb Zwingli es dem eng mit ihm befreundeten Vadian am 11. November 1523, der als Conrad Grebels Schwager eine schwierige Stellung hatte.



Als Zwingli anlässlich der Zweiten Disputation vom 26. bis 28. Oktober 1523, die sich mit der Forderung nach Abschaffung der Bilder und der Messe befasste, die Entscheidungsbefugnis über diese nächsten grossen kirchlichen Reformschritte formell an den Zürcher Rat abtrat, der den Beschluss, wie kaum anders zu erwarten gewesen war, auf die lange Bank schob, rebellierten die jungen Radikalen, allen voran Simon Stumpf, ein guter Freund Conrad Grebels, der in Höngg das Predigtamt ausübte, aber kein Zürcher war. Darauf liess Zwingli diesen Stumpf als lästigen Kritiker fallen. Auch die ersten Bilderstürmer schmorten weiter in der Haft und wurden daraufhin vom Rat aus der Stadt verbannt, so auch der aus Zollikon stammende Schuster Niklaus Hottinger. Dieser hatte im September 1523 mit einem Gefährten das Stadelhofer Kreuz umgelegt. Später sollte er von den Eidgenossen gefasst und im März 1524 in Luzern öffentlich als Ketzer verbrannt werden.



Im wachsenden Ärger sagten sich die Jungen schliesslich von Zwingli als ihrem früheren Wortführer los. Conrad Grebel schrieb seinem Schwager Vadian am 18. Dezember 1523 aufgebracht: «Wer von Zwingli meint, glaubt und sagt, er handle gemäss der Pflicht eines Hirten, der meint, glaubt und redet gottlos.» Das war zwar fundamentalistisch gedacht – Zwingli aber war nicht notwendigerweise weniger wortgläubig. Der Streitpunkt lag auf einer anderen Ebene und betraf sozusagen die politische Theologie: Conrad Grebel beharrte auf einer Distanz der Kirche zum Staat und schien den Eindruck zu haben, Zwingli liefere die Kirche dem Staat aus. Wenn sich Zwingli von einem zwar anfänglich menschlich milden, aber stets schon scharf disputierenden Kirchenrebellen zu einem harten Verfechter des Obrigkeitsprinzips wandelte, so ist leicht zu ersehen, dass sich diese Umgestaltung seiner Theologie unter dem Drängen des Zürcher Rats und als Reaktion auf die Drohungen der Eidgenossen vollzog, welche die Reformation verabscheuten.



Die Spannungen zwischen Zürich und den übrigen Eidgenossen erreichten im Sommer 1523 einen ersten Höhepunkt. Zwingli liess sich zwar gegen aussen nichts anmerken, aber er fühlte sich zunehmend verfolgt. In der Innerschweiz gab es ein Spottlied auf ihn, das auf seine rötlichen Haare Bezug nahm – die auch in dem bekannten Gemälde von Hans Asper zu erkennen sind: « der Zwingli, der ist rot, wärint die von Zürich nit, er käm in grosse Not». Anlässlich eines Fasnachtsspiels Ende Februar 1523 war er in Luzern in effigie, also als Puppe oder Bild, verbrannt worden. In einer merkwürdigen Spukgeschichte erfand ausserdem eine Frau in Zürich, die später alle ihre Lügen gestand, ein angebliches Mordkomplott der städtischen Predigermönche gegen ihn. Die Befürchtungen Zwinglis wuchsen, als die Tagsatzung in Baden, die am 15. Juni 1523 zusammenkam, etwas zum Traktandum machte, das Zwingli gerüchteweise gepredigt haben soll: Die Eidgenossen «verkaufen das christliche Blut und essen das christliche Fleisch». Brisant war der Vorwurf deshalb, weil da Zwinglis ethische Solddienstkritik und seine reformatorische Abendmahlkritik direkt vermengt schien.



Die Eidgenossen wollten am darauffolgenden Tagsatzungstreffen – das war durchgesickert – auch schauen («luogen»), wie man Zwingli loswerde. Der Streit liess sich nicht beilegen, und wirklich beschloss daraufhin die Tagsatzung in Bern vom 7. Juli 1523, den Landvogt vom Thurgau und den Landvogt von Baden zu beauftragen, «den Zwingli von Zürich auf Betreten zu verhaften, aus Ursachen, die jeder Bote weiss». An dieser Verhandlung hatte Junker Jakob Grebel offenbar teilgenommen, denn sein Sohn Conrad erwähnt am 28. Juli, der Vater werde als Leiter einer Delegation im Auftrag des Zürcher Rats nach Bern «zurückkehren».



Erst am 27. Juli 1523 befahl der Zürcher Rat selbst eine Untersuchung. Diese brachte zutage, dass denen von Luzern zugetragen worden war, wie Magister «Uolrich Zwingli» unlängst auf der Kanzel öffentlich («offenlich») geredet habe, «die von Luzern» seien «Blutverkäufer oder Blutfresser». Zwingli hatte genaue Kenntnis davon erhalten, dass er an jenem 7. Juli in Bern Gegenstand der eidgenössischen Verhandlungen werden würde, und der Tagsatzung eine Schrift zukommen lassen, in der er die ihm zur Last gelegten Worte dementierte. Er gab lediglich zu, im Jahr zuvor, 1522, während der Fastenzeit gepredigt zu haben: «Es schilt manch einer das Fleischessen übel und hält es für eine grosse Sünde ; aber Menschenfleisch verkaufen und zu Tode schlagen hält er nicht für eine grosse Sünde.»



Genützt hatte diese gedruckte Rechtfertigung nichts. Zürich geriet im eidgenössischen Bündnis in immer grössere Bedrängnis. Mit reger diplomatischer Aktivität sollten wenigstens Bern und Solothurn, die der Stadt an der Limmat eher gewogen schienen als Luzern, davon überzeugt werden, dass sich wegen der neuen Predigtweise niemand bedroht zu fühlen brauche: Sie dürften nicht glauben, schrieb Zürich bereits am 25. Juni 1523, was geredet werde, dass durch die «lutherische Sache etliche in ihrem eigenen Haus nicht mehr sicher» seien. In Zürich werde, «soviel wir wissen», nichts anderes gepredigt und gelehrt als das «heilige Evangelium und das, was mit der göttlichen Lehre und der heiligen Schrift bewährt» werden mag. Ihre Prediger würden sich nicht «des Luthers beladen». Wo sie das täten, «würden wir es ihnen nicht gestatten».



Zürich stellte im Brief auch die Gerüchte in Abrede, dass es «Zwietracht in unserer Stadt und unserer Landschaft» gebe und dass die Bauern den Zins und den Zehnten «nicht mehr geben wollten». Aber die ersten bäuerlichen Zehntenverweigerungen auf reformatorischer Grundlage waren schon 1522 erfolgt und sollten 1523 – was die Eidgenossen anscheinend schon voraussahen – im Erntemonat August grosse Ausmasse annehmen. Zwingli muss im Sommer 1523 jedenfalls endgültig bewusst geworden sein, welch enge Grenzen seinen Reformationszielen gesteckt waren. Er musste den Zusammenhang mit Luther bestreiten und die Bauern streng darauf verpflichten, weiter die Zehntabgabe zu leisten, um jeden Eindruck zu vermeiden, die Kirchenreform führe in irgendwelcher Form zu Unruhen – zu «Aufruhr», wie das Schlüsselwort damals lautete. Die Pflicht zum Gehorsam stellte seit einem Übereinkommen aus dem Jahre 1370, dem sogenannten «Pfaffenbrief», einen Grundpfeiler in der Alten Eidgenossenschaft dar.



Gerade in jenem Sommer arbeitete Zwingli intensiv an der Ausarbeitung der Thesen, die er an der Ersten Disputation im Januar 1523 vorgetragen hatte. In Buchform erschienen sie – ausgiebig erläutert und an etlichen Stellen entschärft – am 14. Juli 1523. Gleichzeitig brachte er ein zweites Werk heraus und gab ihm den Titel «Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit». Das Wort «Gerechtigkeit» stand damals für «Gesetz» oder sogar «Herrschaft». Gedruckt wurde das Buch am 30. Juli 1523. Darin legte er sich mit Bezug auf Paulus’ Römerbrief 13 darauf fest: « ein jeder lebender Mensch soll den übergeordneten Obrigkeiten oder Oberen gehorsam sein. Denn es ist keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre. Die Obrigkeiten aber, die sind, die sind von Gott verordnet. Also, welcher sich wider die Obrigkeit legt, der ist der Ordnung Gottes widerstanden. Diejenigen aber, die widerstehen, werden ihr eigenes Urteil oder Verdammnis nehmen.» Auch baute Zwingli eine für die ganze Entwicklung des Protestantismus in der Schweiz folgenschwere Theorie vom Strafgericht Gottes in seine Staatsphilosophie ein – was die Menschen quäle und bedrücke, sei eine gerechte Strafe für ihre Sünden: «Zum ersten heisst Gott durch den Mund Pauli, dass alle Menschen der Obergheit gehorsam sein sollen; denn alle Obrigkeit sei von Got. Woraus wir merken, dass auch die bösen, gottlosen Oberen von Gott sind; doch gibt Gott solche Oberen, um unsere Sünden zu strafen.»



Mit den beiden Büchern vollzog Zwingli eine Wende. Unmissverständlich sagte er sich von früheren, radikalen Positionen los, gewichtete die Argumente neu und wollte gegenüber den besorgten Eidgenossen den Beweis führen, dass die Kirchenreform keinerlei Unordnung nach sich zöge. Nachdrücklich forderte er den Gehorsam ein, Aufruhr schloss er kategorisch aus. Am 5. August 1523 wies er in einem Brief an die mit Zürich befreundete Stadt Konstanz auch als «unchristliche Lüge» zurück, was zum «Blut Christi» über ihn «erdacht» worden sei. Doch seine Anhänger Conrad Grebel und Felix Manz hielten an den zwinglischen radikalen Frühthesen fest und verweigerten sich seinem staatspolitischen Gehorsamkeitsdiktat.





Radikale Opposition zu Zwingli



In der Täuferforschung gilt gemeinhin die Zeit von Dezember 1523 bis September 1524 als quellenlose Zeit. Es klafft eine Lücke zwischen dem bereits zitierten Brief von Conrad Grebel an Vadian, in dem er Zwingli verdammt, und einem aufschlussreichen Brief Grebels und seiner Freunde an den predigenden Rebellen und Anführer des Bauernkriegs Thomas Müntzer vom 5. September 1524 – den dieser aber vermutlich nie erhalten hat.



Diese knapp neun Monate, in denen das Denken der kleinen radikalen Gruppe definitiv eigene Formen annahm, lässt sich aber rekonstruieren: Letztlich war es die Radikalisierung der bäuerlichen Reformation, die der städtischen Reformation einen neuen Schub verlieh. Die Zehntenverweigerung der Bauern, die sich 1523 trotz scharfen, von Zwingli gedeckten Mandaten ausbreitete, wurde von den Bauern reformatorisch begründet: Die Abgaben wollten sie nicht mehr länger ohne seelsorgerische Gegenleistung an Klöster geben, sondern direkt für ihre evangelischen Prediger verwenden. In der Zielsetzung ebenfalls klar reformatorisch war der Aufstand in Wädenswil am Zürichsee zum Jahreswechsel 1523/24. Der Versuch des städtischen Rats, einen bei den Bauern beliebten evangelischen Pfarrer zu verbannen, hatte die Unruhen ausgelöst.



Eine ähnliche reformatorische Ursache hatte die Mobilisierung der Bauern in Weiningen – sie versuchten im Januar 1524 ihren bilderstürmerischen Pfarrer Georg Stähelin vor dem Zugriff des eidgenössischen Landvogts von Baden zu schützen. Bei Stähelin hatte niemand anders als der aus Höngg vertriebene Conrad-Grebel-Freund Simon Stumpf Unterschlupf gefunden. Stumpf und Stähelin sorgten schon im November 1523 durch eine Doppelhochzeit, bei der sie sich gegenseitig mit je einer Frau trauten, für einen Skandal bei den Eidgenossen.



Ebenfalls im Januar 1524 verlangten die Bauern des Chorherrenstifts im zürcherischen Embrach mit evangelischer Logik die Abschaffung der Leibeigenschaft, und zwar in Punkt drei der acht Artikel ihrer Beschwerdeschrift: «Zum dritten: diewil jetzt im heiligen Evangelio und rechter göttlicher Schrift die Freiheiten gefunden werde, insbesondere dass kein Mensch des andern Eigen sein solle .»



Der illegale Zollikoner Bildersturm vom 15. Mai 1524 schliesslich zeigte, dass die Forderung nach Abschaffung der soeben noch inbrünstig angebeteten Heiligenbilder auch auf dem Land Zustimmung fand. Doch erst der überraschende Tod der zwei sich halbjährlich ablösenden älteren Bürgermeister am 13. und 15. Juni 1524 machte in der Stadt den Weg frei für den – peinlich geordnet verlaufenden – Zürcher Bildersturm, der am 20. Juni begann und 13 Tage dauerte. Es sollte ihm alles Anstössige genommen werden, doch es blieb eine Kulturzerstörung grössten Ausmasses. Schrittweise muss sich in jenen Sommermonaten 1524 die Stossrichtung der jungen Radikalen um Conrad Grebel und Felix Manz gewandelt haben.

 



Den grössten Einschnitt aber, politisch gesehen, brachte kurz darauf der sogenannte Ittinger Sturm vom 18./19. Juli 1524 – die Besetzung und Zerstörung der Kartause Ittingen. Sie lag in der von den Eidgenossen gemeinsam verwalteten Herrschaft Thurgau. Zürcher Bauern waren massgebend daran beteiligt. Deshalb drohte ein eidgenössischer Bürgerkrieg. Nur durch die Auslieferung einiger vermeintlicher Hauptverantwortlicher – zweier bäuerlicher Untervögte und zweier dörflicher Prediger – an die katholischen Eidgenossen konnte die Stadt Zürich ihn vermeiden.



Die schwierigen Verhandlungen in Baden endeten am 28. September 1524 mit der Hinrichtung von drei der vier Ausgelieferten, darunter die zwei dörflichen Untervögte. Von Zürcher Seite war niemand anders als der Vater von Conrad Grebel, Junker Jakob Grebel, hindelegiert worden, und dass er nur das Leben von Adrian Wirth, des jüngsten der beiden zum Tod verurteilten evangelischen Prediger, hatte retten können und schon froh war, den befürchteten eidgenössischen Bürgerkrieg verhindert zu haben, verzieh ihm Zwingli nie.



In dieser aufgeheizten Stimmung reiste Grebels Freund Felix Manz nach Basel und sorgte im Herbst 1524 heimlich für den Druck etlicher Schriften des bis zu jenem Zeitpunkt radikalsten reformatorischen Denkers überhaupt: des ehemaligen Luther-Gefährten und Doktors der Theologie Andreas Bodenstein von Karlstadt. Seine 1520 erschienene Schrift über das Weihwasser – «Von gewychem Wasser und Salcz» – hatte sich in verschiedenster Hinsicht als bahnbrechend erwiesen. Karlstadt war der Semiotiker unter den Reformatoren. Den Sakramenten wies er nur noch eine Zeichenfunktion zu. Während Luthers Untertauchen auf der Wartburg hatte er in der Universitätsstadt Wittenberg die Reformation radikalisiert und im Januar 1522 den ersten Bildersturm ausgelöst. Darauf kehrte Luther im März 1522 überraschend zurück und vertrieb Karlstadt.



Zwingli – und in noch höherem Mass nachher Conrad Grebel und Felix Manz – richteten sich viel stärker an Karlstadt aus als an Luther, und auch der spätere Streit Zwinglis mit Luther über die Bedeutung des Abendmahls liess sich im Grund nur deshalb nicht beilegen, weil Luther in Zwinglis Argumentation jene seines ehemaligen Wittenberger Widersachers Karlstadt herausspürte: Wein und Brot galten auch Zwingli nur als Zeichen, selbst wenn er dem Abendmahl den Charakter eines Sakraments beliess. Luther indessen – auch wenn er die katholische Lehre der Verwandlung (Transsubstantion) ablehnte – hielt mit Berufung auf die Allgegenwart (Ubiquität) von Jesus am Glauben einer realen Gegenwart Gottes im Abendmahl fest.



Wie der Brief Conrad Grebels und seiner Freunde an Müntzer vom 5. September 1524 zeigt, stand für sie nun – nach Erledigung der Bilderfrage – die bedingungslose Abschaffung der Messe, also die Beseitigung des herkömmlichen Opfergottesdienstes, auf dem Programm. Das Abendmahl sollte in Zürich strikt nach dem Evangelium gefeiert werden.



Verblüffend ist, dass Conrad Grebel und Felix Manz auch in der Tauffrage direkt an frühere Überlegungen ihres einstigen Vorbilds Zwingli anknüpften. Schon im Zusammenhang mit der Fegefeuer-Kritik hatte dieser nämlich 1521 – laut der Klageschrift des Zürcher Chorherrn Konrad Hofmann – verlauten lassen, «dass kleine Kinder, die nicht getauft sind», im Falle eines Todes «nicht verdammt werden». In der Auslegung seiner 18. These sprach sich Zwingli am 14. Juli 1523 auch dafür aus, dass die «Sitte» wieder «angenommen» werden sollte, «die Kinder» erst zu taufen, «so sie den festen Glauben im Herzen» hätten und ihn «mit dem Mund» bekennen würden. Wie bei der Absage an die Bilder und an die Messe hätte sich zwischen den Streithähnen auch in dieser Tauffrage leicht ein Kompromiss finden lassen müssen. Denn was das Weihwasser und den Akt der Taufe betraf, so blieb Zwingli dem Argument Karlstadts treu, dass dem geweihten Wasser keinerlei Kraft innewohne und es sich lediglich um ein äusserliches Zeichen handle. Dennoch erblickte Zwingli in der Taufe weiterhin ein Sakrament, und gerade als Zeichen wollte er die Kindertaufe spätestens ab 1524 nachdrücklich erhalten wissen – als äusseres Merkmal der Einheit der Kirche. Damit änderte er seine ursprüngliche Meinung.



In zahlreichen hitzigen Taufdebatten und zum Teil öffentlichen Disputationen stritten sich Conrad Grebel, Felix Manz und deren Freunde mit Zwingli – und stritt Zwingli im Grund mit sich selbst, da seine glühendsten Anhänger von einst nur eine Meinung verfochten, auf die er sie selbst fr