Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht

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Zwischenschritt: Schule und Menschrechte

Wenn ich im Folgenden ‚Interkulturelle Pädagogik‘ und die hierzulande so genannte ‚Flüchtlingskrise‘ versuche in einen Zusammenhang zu bringen, so beziehe ich mich zunächst, aber nur um mich dann von ihr abzugrenzen, auf Hannah Arendt. Arendt (2001, Kapitel neun) formulierte ihre These vor dem Hintergrund der weitgehenden Alternativlosigkeit des Nationalstaats und postulierte, dass jede neue Generation ja erst in die bestehenden Verhältnisse eingeführt und mit diesen vertraut gemacht werden müsse. Aber was heißt Nationalstaat zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Sicher sind Nationalstaaten noch immer die weitgehend alternativlose Organisationsform menschlicher Gesellschaften. Aber schon bei ‚menschlich‘ fängt die Diskussion an spannend zu werden und bei territorialer Organisation erst recht. Denken wir an aktuelle Debatten zu Transhumanismus oder Posthumanismus, so ist sofort evident, dass zeitgenössische Sozialtheorien nicht nur den Menschen, sondern auch die Mitgeschöpfe in den Blick nehmen. Ebenso evident ist, dass die noch gültigen territorialen Demarkationen keinen dauerhaften Bestand haben werden. Bürger- und Menschenrechte sind zu rekonfigurieren und zwar im Horizont vulnerabler Geschöpfe auf einem vulnerablen Planeten. Daher soll in den folgenden Ausführungen die Differenz zwischen Universalismus und Partikularismus, zwischen genereller und konkreter Inanspruchnahme zum Gegenstand gemacht werden. Ins Pädagogische übersetzt bedeutet dies, dass in der Rede über die Flüchtlingskrise zwei unterschiedliche und traditionsreiche Bildungsdiskurse angesprochen sind, ohne als solche kenntlich gemacht zu werden: die Menschenbildung oder vielleicht auch Menschenerziehung und die Bürgerbildung oder Bürgererziehung. Es ist nicht uninteressant, dass die Pädagogik der europäischen Aufklärung diese Differenz thematisierte, ohne sie lösen zu können und dass sie in der Folge immer mehr verwischte und uns bis heute etwas hilflos macht.

Eines der Urdokumente dieses Spannungsverhältnisses ist Rousseaus Erziehungsroman „Emile“, den er nicht zufällig im gleichen Jahr veröffentlichte wie seinen „Contrat Social“. In „Emile“ geht es genau darum: Wie kann die Erziehung zum Menschen gesichert werden, ohne durch die Erziehung zum Bürger überlagert und sozusagen vereinnahmt zu werden? Rousseau muss daher eine künstliche pädagogische Situation schaffen, um seine Dreiteilung, dass der Mensch durch die Natur, die Dinge und andere Menschen erzogen wird, zu verdeutlichen. Dabei richtet er aber seine Menschenerziehung, die nach seiner Vorstellung der Bürgererziehung vorausgehen muss, an einem durchschnittlichen Kind aus. Er konstruiert für seine Pädagogik einen Knaben, der modern gesprochen, in der Mitte der Gaus’schen Normalverteilungskurve angesiedelt ist: ein normales Kind. An diesem normalen, vernunftbegabten, aber eben noch nicht vernünftig handeln könnenden Kind richtet sich die gesamte moderne Pädagogik aus und entwickelt im deutschsprachigen Raum für die diesen Vorstellungen nicht entsprechenden Kinder eine Sonderpädagogik, die erst im Zuge der jüngsten Inklusionsdebatten infrage gestellt wurde. Diese Kritik kommt, auch dies ist kaum ein Zufall, aus der Menschenrechtsdiskussion und wurde prominent von der UNESCO vorangetrieben, als derjenigen Unterorganisation der Vereinten Nationen, die sich unter anderem mit Bildungsfragen befasst. Warum erwähne ich diesen Zusammenhang? Bei der Relektüre von John Rawls Theorie der Gerechtigkeit stolperte ich nochmals über seine Urszene der Gerechtigkeit als Fairness. Ich darf aus der Übersetzung zitieren:

in der Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß spielt die ursprüngliche Situation der Gleichheit dieselbe Rolle wie der Naturzustand in der herkömmlichen Theorie des Gesellschaftsvertrags. Dieser Urzustand wird natürlich nicht als ein wirklicher geschichtlicher Zustand vorgestellt, noch weniger als ein primitives Stadium der Kultur. Er wird als rein theoretische Situation aufgefaßt, die so beschaffen ist, daß sie zu einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung führt. Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, daß niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebensowenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, daß die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter dem Schleier des Nichtwissens festgelegt. (Rawl 2000: 29)

Hier soll es gar nicht um die Fragen von Gerechtigkeit und Menschenrechten im Einzelnen gehen, sondern um die Einsicht, dass dieser Strang, der in der Pädagogik der Aufklärung aufschien, um dann gleich wieder verwischt zu werden (siehe Rousseau), nie systematisch weiterentwickelt wurde. Dies hat zur Folge, dass die Frage nach der Menschenbildung nicht unabhängig von konkreten gesellschaftlichen Bedingungen behandelt wurde, Menschenbildung und Bürgerbildung also immer zusammengedacht sind. Hannah Arendt hat dies eindrücklich ebenfalls mit Blick auf Flucht und Vertreibung auf den Punkt gebracht: Es gibt keinen schlimmeren Zustand, als nicht gewollt zu sein, nirgendwo Aufnahme zu finden. Nicht nur, nicht dahin zurück zu können, wo man herkommt, ist tragisch, sondern auch nirgends sonst anzukommen. Es wundert daher nicht, dass Arendt Menschenrechte nicht jenseits von Bürgerrechten dachte, und so ist es bis heute. Mit unserem Insistieren auf Differenzen, der Betonung vernünftiger Subjekte mit eigenen Zielen, haben wir den Zustand der Fairness übergangen. Die Menschenbildung geht, so finden wir es bei Humboldt, von einem Menschheitsideal aus, dem Ausdruck zu verleihen jedem Menschen als Aufgabe gestellt ist. Wie wir einander als Menschen zu begegnen, uns zu verhalten haben, was unser Menschsein ausmacht; wie wir einander als Menschen erkennen usw., sind Fragen, die in diese Richtung gehen. Dies sind, ganz im Sinne Rawls oder auch der Naturrechtstheoretiker, vorgesellschaftliche Fragen, Fragen, die jenseits kontingenter Ordnungen gestellt sind, sondern die sozusagen den Urgrund unserer Erfahrungen als verletzliche und endliche Wesen ausmachen. Die Kritik, es handele sich bei den Menschenrechten eben letztlich doch um historisch und kulturell situierte Artikulationen (europäischer) Vorstellungen, ist zwar berechtigt, sollte aber nicht dazu führen, dass wir den keinesfalls einzigartigen Grundgedanken aufgeben: nämlich das Menschsein an sich zu denken, ohne die Signifikanz von Differenzen. Und daran knüpft sich nun die alles entscheidende Frage an, auf die uns die aktuelle ‚refugee crisis‘ verweist: Können wir Mensch differenzlos denken, haben wir einen Diskurs entwickelt, der es zulässt, Menschen jenseits der gesellschaftlich relevanten Differenzlinien zu denken?

Migration und wie Schule mit ihr umgeht

Sowohl die Theorie der Schule als auch die Interkulturelle Pädagogik sind Arenen, in denen gesellschaftliche Kämpfe ausgetragen werden. Die Schule ist traditionell eher auf Homogenität ausgerichtet und soll nun mit Vielfalt umgehen, ohne die Vielfalt in einer Einfalt aufgehen zu lassen. Was Schule genau zu tun habe, wie sie mit Vielfalt umgehen solle, markiert den Schauplatz zahlreicher Auseinandersetzungen, an denen neben der Pädagogik auch die Politik und die Medien maßgeblich beteiligt sind. Es wundert folglich nicht, dass die Beantwortung der Frage, warum Kinder mit Migrations- oder Fluchthintergrund noch immer oft auf der Strecke bleiben und von der Schule in ihren Möglichkeiten nicht hinreichend gefördert werden, sehr unterschiedlich beantwortet wird. Sehr oft ist die Perspektive die einer mangelnden Passung: einer mangelnden Passung zwischen dem, was das Herkunftsmilieu für die Kinder tun will oder tun kann; und spiegelbildlich dazu: einer Ausrichtung der Schule an Vorstellungen von Normalität oder an den Werten und Normen der Mittelklasse. In diesem Zusammenhang zu nennen wäre beispielsweise der Ansatz der kulturellen Reproduktion, der mit dem Namen Pierre Bourdieu verbunden ist. Dieser, wie andere Reproduktionstheorien, geht davon aus, dass die Schule gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht nur spiegelt, sondern auch aktiv hervorbringt. Im Falle der kulturellen Reproduktionstheorie Bourdieus wäre der Habitus der Mittelklasse der maßgebliche Bezugspunkt, an dem sich das Handeln der Lehrerinnen und Lehrer ausrichtet. Kinder aus Arbeiterfamilien oder aus depravierten Familien, so die These, bringen keine der Kapitalformen mit, die in der Schule geschätzt werden: weder kulturelles noch soziales noch symbolisches Kapital. Sie tun sich daher mit den schulischen Anforderungen eher schwer. Eine ähnliche Sichtweise findet sich in den soziolinguistischen Studien der sechziger und siebziger Jahre. Auch diese Studien gehen davon aus, dass die Schule eine andere Sprachform erwartet oder voraussetzt als die von den Kindern in ihren Familien praktizierte. Unter anderem arbeiten diese Studien mit der mit dem Namen Basil Bernstein verbundenen Unterscheidung in den so genannten elaborierten und restringierten Sprachcode.

Ganz anders dagegen der Ansatz der institutionellen Diskriminierung, der mit den Namen Frank-Olaf Radtke und Mechtild Gomolla (2009) verbunden ist. Der Kern der Argumentation ist, dass durch das Routinehandeln der Organisation Diskriminierungen erfolgen – ohne eine wie auch immer geartete Absicht. Um zu verdeutlichen, dass Diskriminierungen relativ beliebig sind, nennen die AutorInnen das Beispiel des Schicksals der Katholischen Arbeitertochter vom Lande. Dies war eine soziologische Kunstfigur der sechziger Jahre und galt als Inbegriff der Bildungsbenachteiligung. Sie war weiblich, weil Mädchen aufgrund der noch vorherrschenden Vorstellung des männlichen Ernährers als weniger in ihren Bildungsaspirationen zu unterstützen galten als Jungs. Dies wurde verstärkt durch den eher mit konservativen Wertvorstellungen assoziierten Katholizismus. Hinzu kam die soziale Herkunft in den unteren sozialen Schichten (Arbeiterkind). Diese galten und gelten noch immer, das ist konstant geblieben, als bildungsfern und wenig geeignet, Kinder, gleich welchen Geschlechts, auf höheren Bildungswegen zu unterstützen. Ländliche Regionen, im Unterschied zur Stadt, waren in den sechziger Jahren noch deutlich schlechter versorgt mit weiterführenden Schulen, eine Bildungsungerechtigkeit ergab sich also allein schon durch den Wohnort. Nun wäre die heutige Kunstfigur eher der muslimische Arbeiterjunge aus dem sozial benachteiligten Viertel der Großstadt. Daran sieht man, dass sich fast alle „Markierungen“ oder „Differenzlinien“ geändert haben, außer der sozialen Herkunft. Für Frank-Olaf Radtke und Mechtild Gomolla sind dies klare Indizien dafür, dass die Diskriminierungen nicht erfolgen, weil die Lehrerinnen und Lehrer xenophob oder rassistisch sind, sondern nur aufgrund der Handlungsroutinen der Organisation Schule – schließlich sind die Mädchen nicht auf einmal klüger geworden, sie haben keine großräumigen Fördermaßnahmen erfahren; vielmehr hat nur die Schule ihre Routine verändert und andere Entscheidungen getroffen. Mit der Bildungsexpansion einher ging die Suche nach bisher unausgeschöpften „Bildungsreserven“ – und die fand man unter anderem in den Mädchen. Im letzten Teil des Beitrags werden diese unterschiedlichen Zugänge nochmals kommentiert. Allerdings sollen zunächst Beispiele aus ethnographischer Perspektive angeführt werden, welche den Gedanken des Titels des Beitrags aufnehmen: Othering „Other People’s Children“.

 

Othering „Other People’s Children“

„Other People’s Children“ lautete der Titel einer ethnographischen Studie von Lisa Delpit aus dem Jahre 1995. Im Untertitel: „Cultural Conflict in the Classroom“. In einer Rezension ihres Buches in der Harvard Educational Review wird vor allem hervorgehoben, dass sich Lisa Delpit einer wichtigen, aber oft vermiedenen Frage stelle, nämlich wie die gesellschaftlichen Machtungleichgewichte Resonanz im schulischen Unterricht fänden. Durch aussagestarke Gespräche, heißt es dort weiter, die Delpit mit Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern sowie mit Eltern unterschiedlichen sozialer und kultureller Hintergründe geführt habe, sei es ihr gelungen zu zeigen, wie ‚aufgeladen‘ die alltäglichen Interaktionen sind mit negativen Zuschreibungen und spekulativen Annahmen hinsichtlich der Fähigkeiten, der Motivationen und Interessen, aber auch der persönlichen Integrität von sozial benachteiligten und farbigen Kindern.

In der Tat zeugen viele der von Delpit beschrieben Szenen von den Alltagstheorien, die in der Kreuzung von medialer Darstellung, Politik und Pädagogik entstehen und sich oft unreflektiert verbreiten. Die Vignetten, die in verdichteter Form die Missverständnisse und unbegründeten Attributionen schildern, die täglich in den Klassenzimmern zu beobachten sind, sehen etwa so aus: Kann ein Kind mit dunkler Hautfarbe, dessen Familie offensichtlich Empfängerin wohlfahrtsstaatlicher Zuwendungen ist, die Schere bei einer Bastelarbeit nicht so halten, wie es die Entwicklung der Feinmotorik nach dem Lehrbuch vorsieht, führt das schnell zu Spekulationen, die aber nicht als solche zu erkennen gegeben, sondern als sicheres Faktenwissen präsentiert werden. So wird behauptet, die nicht entwickelte Fähigkeit sei auf schlechte Familienverhältnisse zurückzuführen, auf unübersichtliche Verwandtschaftsbeziehungen und auf mangelnde Förderung der kindlichen Entwicklung. Ganz ähnlich eine andere Szene: ein kleiner ‚schwarzer‘ Junge (ca. fünf Jahre alt) gibt einem kleinen ‚weißen‘ Mädchen einen enthusiastischen Bear Hug, eine große mit Verve ausgeführte Umarmung. Diese Szene bietet ebenfalls Anlass zu Spekulationen hinsichtlich des unterstellten promiskuösen Lebens der Mutter, welches, so vermuten die Lehrerinnen / Erzieherinnen, dazu führt, dass der Junge schon sehr früh und für sein Alter bei weitem zu früh unangemessene Sexphantasien ausleben wolle. Solche Zurechnungen und Stereotype sind auch im deutschen pädagogischen Diskurs anzutreffen. Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert habe man von sittlicher Verwahrlosung gesprochen, wobei sich die Zuschreibungen um andere Differenzmerkmale angelagert hätten. Nicht Hautfarbe, sondern Armut sei das Distinktionsmerkmal gewesen, aber die Logik der ‚Rettungsanstalten‘ war diesen bürgerlich-protestantischen Askriptionen nicht unähnlich. Wobei sich die „Rettung“ eher auf Jugendliche bezog und nicht auf die unterstellte sittliche Verwahrlosung Fünfjähriger.

Es ist von diesen wenigen Beispielen her betrachtet klar, dass es sich um Othering-Prozesse handelt, also um solche Zuschreibungen, die Kinder, die nicht den gesellschaftlichen Normal- und Normalitätserwartungen entsprechen, zu ‚anderen‘ machen. Dieses Othering kann sich an sehr viele Differenzmerkmale anlagern: an Hautfarbe, soziale Herkunft, Geschlecht. Diese Zuschreibungen lassen sich mit schulisch relevanten Kontexten in Beziehung setzen: mit erwarteter familialer Unterstützungskultur zur Bewältigung der schulischen Anforderungen, mit Bildungsorientierung, mit allen Praktiken, die schulischerseits herangezogen werden können, um Bildungserfolg und Bildungsteilhabe zu plausibilisieren. Folglich ist eines der wesentlichen Themen, das zum Lackmustest für Unterstützungswilligkeit avanciert, die Frage nach der Integration. Die Migrierten und Geflüchteten sollen möglichst schnell und umfassend mit unserer Kultur, oft als christlich abendländisch bezeichnet, vertraut gemacht werden und sich, das ist der meist unausgesprochene, aber doch deutlich unterlegte Wunsch, mit unseren Werten und Normen identifizieren, um damit, so ließe sich der Gedanke weiterführen, Othering-Prozesse zu vermeiden oder zumindest zu mildern. Dass die Wertedebatte selbst eine problematische Geschichte hat, dass die Frage, auf welche „Werte“ wer antwortet, letztlich der Kontingenz geschuldet ist, mit der sich Gesellschaften, die auf transzendentale Verankerung, auf ihre Begründung in einer wie auch immer gearteten jenseitigen Verortung verzichten, herumschlagen müssen, bleibt dabei oft ausgeblendet. Werte sind mitnichten unverhandelbar und dauerhaft festgeschrieben: Es handelt sich vielmehr um Konventionen, die permanent hinterfragt und neu verhandelt werden müssen.

Geflüchtete Kinder und Jugendliche und ihre Rolle als Schülerinnen und Schüler

„Flucht“ und „Vertreibung“ lassen sich als Sonderfälle von Migration beschreiben, man kann aber auch umgekehrt sagen, dass Flucht und Vertreibung nochmals auf die Problematik verweisen, in vereinheitlichendem Gestus über Migration zu reden. Kinder und Jugendliche mit so genanntem Fluchthintergrund fordern Schule, aber auch die Pädagogik als Wissenschaft sichtbarer als andere Gruppen an zwei Fronten heraus: Die eine ist ihre oft unglaubliche Leistungsbereitschaft und ihr Wille und ihre Einsatzbereitschaft, es zu schaffen. Und tatsächlich schaffen es viele auch, erstaunlich schnell, allen Belastungen zum Trotz. Es überrascht nicht, dass dies in den meisten Fällen die Kinder sind, die aus bildungsnahen Familien kommen. Auch wenn die Familie nicht direkt unterstützen kann, so vermittelt sie doch die Haltung und verfügt über kulturelles Kapital. Auch wenn die Bildungsabschlüsse der Erziehungsberechtigten vielleicht nicht immer anerkannt werden, ist die Bedeutung des inkorporierten kulturellen Kapitals nicht zu unterschätzen. Im Lichte der oben genannten Theorien zur kulturellen Reproduktion und institutionellen Diskriminierung lässt sich erklären, warum dies so ist. Diese Kinder und Jugendliche „passen“, sie sind bereit und fähig Leistungen zu erbringen, verfügen über eine hohe Motivation und Bildungsaspirationen, sie sind Hoffnungsträger für die Beseitigung des Fachkräftemangels, einige von ihnen werden Teil der wissenschaftlichen Elite von morgen sein. Diese Kinder bestätigen das kollektive soziale Image, das in der Schule transportiert wird, und sind weniger von Othering-Prozessen betroffen. Diese Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung irritieren das System nicht; in sie zu investieren, verspricht hohe „rates of return“. Auch für die Lehrkräfte sind diese Kinder und Jugendliche nur sehr bedingt „other people’s children“; es ist nicht schwer, aus ihnen gleichberechtigte „Landeskinder“ zu machen, wie es unser föderales System vorsieht. Mit Hannah Arendt gesprochen, sind diese Kinder gesellschaftlich gewollt. Gleichzeitig stehen sie nicht für das Menschsein an sich, sondern für das differenzierte Menschsein: nicht Vulnerabilität, sondern Selbstvertrauen und der Glaube an die Selbstwirksamkeit zeichnen sie aus. Hinzu kommt, dass sie, im Unterschied zu den Arbeitsmigranten der sechziger und siebziger Jahre und deren Kindern und Kindeskindern, mit keiner kollektiven Erzählung des Defizits und der (Selbst)Ab- und Ausgrenzung belastet sind, ihnen wird keine Geschichte zugeschrieben, sie beginnen vielmehr gleichsam „tabula rasa“. Die Flucht hat eine Zäsur in ihren Lebensweg gesetzt, aber das gibt ihnen gleichzeitig die Möglichkeit eines neuen Anfangs, macht sie zu Pionieren, die sich den Lebensweg nun selbst fortschreiben müssen. Selbstverständlich werden hier viele Projektionen deutlich, aber es sind zumeist positive, die sich um den schulischen Erfolg unter erschwerten Bedingungen anlagern.

Gelingt es hingegen nicht, relativ rasch an das Leistungsniveau der Regelklassen anzuschließen, sind Kinder und Jugendliche traumatisiert, sind ihre Familien so belastet, dass sie sich nicht einlassen können auf den schulischen Alltag in der neuen Umgebung, tut sich das Schulsystem deutlich schwerer mit den Geflüchteten. Wenn die Kinder und Jugendliche vielleicht weniger Eigeninitiative und Motivation zeigen, wenn sie mehr Ressourcen fordern als die Schulen bereit oder fähig sind zu geben, hat die Schule wesentlicher seltener Konzepte zur Verfügung, um die Kinder und Jugendlichen anders als primär in kognitiver Hinsicht anzusprechen. Die Integrationsvorbehalte seitens der Aufnahmegesellschaft sind größer, die Skepsis, ob diese Kinder und Jugendliche einen produktiven Beitrag leisten werden, ist höher usw. In gewisser Hinsicht wiederholt sich hier, was aus dem Bildungsteilhabestudien nur zu bekannt ist: Nicht nur Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen und sozial benachteiligten Herkunftsfamilien tun sich schwer mit der Schule, die Schule tut sich auch schwer mit ihnen. Dies sind die Kinder, deren Potenziale oft erst gar nicht erkannt werden, weil man es ihnen doch nicht zutraut. Wenn diese grundsätzliche Wahrnehmung dann noch auf eine rigide Einstellung trifft, die Begabung als erblich betrachtet und folglich Misserfolg quasi genetisch zurechnet, wird das Scheitern schnell zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Hinzu kommt ein Drittes: so unterschiedlich beide Gruppen sind, sie verweisen durch die Tatsache der Flucht- und Vertreibungserfahrung auf das ungelöste Problem der Menschenrechte und der Menschenrechtserziehung. Denn das Gewolltsein der einen und das potentielle Nichtgewünschtsein der anderen bezieht sich auf die Dimension der antizipierten bürgerlichen Teilhabe, nicht auf das rein Menschliche. Dies zu denken, ist nach wie vor ein Problem. So holzschnittartig diese Darstellung auch ist, so kann sie illustrieren, dass es nicht die Frage der Flucht an sich ist, die über die schulische Integration entscheidet, sondern das Zusammenkommen oder Auseinanderdriften von Vorstellungen, Erwartungen, Bereitschaften sowohl seitens der geflüchteten Kinder und Jugendlichen und ihren Familien als auch des Schulsystems und seines Personals. In anderen Worten: Am Ende des Tages wird in diesen nervösen Zeiten viel daran entschieden werden, wie es den jungen Zugewanderten gelingt, zu ihrer Rolle als Schülerinnen und Schüler zu finden bzw. wie sie darin unterstützt werden. Gelingt ihnen dies nicht oder werden sie darin nicht unterstützt, dann liegt es nahe, dass Othering-Prozesse aus Kindern und Jugendlichen „other people’s children“ machen.