Kakanien oder ka Kakanien?

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MAKARSKA, RENATA (2012): Kakanien der neuen Generation. Zentraleuropa zwischen Transkulturalität und Differenz. In: Kimmich, Dorothee; Schahadat, Schamma (Hrsg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld: transcript, 235–260.

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Literarische Beiträge

Von Keuschlern und Kaisern

Bettina Balàka

Ihre Kaiserliche Hoheit trat im Jahr 1982 in mein Leben. Eine große mediale Aufregung fegte durch das Land, gebannt saßen die Familien vor Radios, Fernsehern und Zeitungen: Die letzte österreichische Kaiserin durfte endlich wieder in Österreich einreisen! Vorbei an salutierenden Zöllnern hatte sie die österreichische Grenze bei Feldkirch überschritten. Ich, sechzehnjährig, war völlig parbleu. Zunächst einmal war ich nach meinem damaligen Bildungsstand (der nicht unbedingt meiner Geschichtslehrerin, sondern möglicherweise geistiger Abwesenheit meinerseits anzulasten war) der Auffassung gewesen, bei der letzten österreichischen Kaiserin hätte es sich um Sisi gehandelt, welche zweifelsfrei am Genfer See mithilfe einer Feile ermordet worden war. Unter Akzeptanz des Umstandes, dass es noch eine weitere, allerletzte und überdies noch lebende Kaiserin gab, stellte sich mir die Frage, weshalb um Himmels willen eine Österreicherin in Österreich nicht einreisen hatte dürfen.

Eine Schulkollegin, die in streng katholischen Zirkeln verkehrte, klärte mich über die dort vertretenen Ansichten auf: Zita, die Gattin des letzten Kaisers Karl I., habe nicht einreisen dürfen, da sie sich geweigert habe, auf ihre Thronfolgerechte zu verzichten. Nach dem Prinzip des „Gottesgnadentums“ jedoch werde die Thronfolge von Gott selbst bestimmt, und demnach habe Zita gar nicht verzichten können. Die Kaiserin war also legitimationstechnisch eine Art Papst.

Nach über sechzigjährigem Beharren auf der Verzichtserklärung hatte schließlich der sozialistische Bundeskanzler Kreisky pragmatisch gemeint, die alte Dame werde ja nun wohl keinen Staatsstreich mehr anzetteln, und plötzlich fanden gefinkelte Juristen heraus, dass Zita auf Thronfolgerechte gar nicht verzichten musste, da diese ohnehin nie bestanden hätten. Und so durfte die Neunzigjährige in die Republik Österreich einreisen. Anhand dieser Person, deren Lebensspanne von der Monarchie bis in die Zweite Republik reichte, wurde mir schlagartig klar, dass Vergangenheit und Gegenwart keineswegs so unendlich weit auseinanderlagen, wie ich bis dahin gedacht hatte.

Es gibt ein Foto meines Urgroßvaters väterlicherseits, das ihn in Uniform zur Zeit des Ersten Weltkriegs zeigt. Er war ein einfacher Soldat des Kaisers, ein Lungauer „Keuschler“, also der Besitzer einer Keusche, eines bescheidenen, einstöckigen kleinen Hauses. Er überlebte den Krieg, um dreizehn Jahre später infolge eines akuten Magendurchbruchs vom Fahrrad zu stürzen und eingeklemmt zwischen zwei Zaunlatten innerlich zu verbluten. Zu diesem Zeitpunkt war sein Sohn, mein Großvater, bereits in den nächsten Weltkrieg eingerückt. Auch von ihm gibt es Fotos in Uniform, diesmal jene der deutschen Wehrmacht.

Von den Frauen der Familie weiß man, dass sie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit schwerer körperlicher Arbeit (so gibt es etwa eindrucksvolle Schilderungen vom mühsamen Auskochen der Wäsche in riesigen Töpfen) und der Bekämpfung des Hungers befasst waren: Wenn es gar nichts anderes mehr zu beißen gab, machten sie sich auf ins Zederhauser Moos, um Frösche zu fangen. Ich habe mich manchmal gefragt, ob und wie sich dieses Jahrhundert der Kriege, der Zwischenund Nachkriegszeiten auf uns Nachgeborene ausgewirkt hat, und ein offensichtlicher Bereich ist der des Essens. Auch wir in den sechziger Jahren Geborene haben als Kinder noch gelernt: Ja nichts wegwerfen, immer alles aufessen, auch Verbranntes, auch und gerade das Fett am Fleisch, und Verdorbenes konnte man immer noch kaschieren, etwa ranziges Obers in einem Omelett. Als vor einigen Jahren ein zweijähriger Bub am Wiener AKH starb, nachdem seine Großmutter die Schimmeldecke vom Apfelmus einfach abgekratzt und ihn mit dem darunterliegenden Mus gefüttert hatte, dachte ich: Ein spätes Kriegsopfer ist dieses Kind.

Auch das Aufbewahren von Gegenständen ist eine solche tradierte Pflicht und führt zu vollgestopften Wohnungen oder gar dem Messie-Syndrom. Nichts durfte weggeworfen werden, kein altes Paar Schuhe und kein Gummiringerl, man wusste nie, wann man es noch brauchen würde. „Wenn wieder einmal ein Krieg kommt, werden wir froh sein, es zu haben“, pflegte meine Großtante zu sagen. Sie besaß eine sorgfältig gehütete Sammlung von Zwirn- und Nähseidenresten, in der auch kürzeste Fadenstücke aufbewahrt wurden.

Meine Eltern sind beide während des Zweiten Weltkriegs geboren. Meine Mutter war fünf Jahre alt, als meine Großmutter sie mit ihren Geschwistern und den nötigsten Habseligkeiten auf ein Leiterwagerl packte, um vor den einmarschierenden Russen zu fliehen. Zeit ihres Lebens konnte meine Mutter keine Reise antreten, ohne in eine Art Panik zu verfallen und uns Kindern dieses Fluchtgefühl weiterzugeben: Werden wir jemals zurückkehren? Werden wir nicht gerade das Entscheidendste, Wichtigste vergessen haben? In welche Ungewissheit stürzen wir?

Im Café Residenz gegenüber dem Eingang zu den Schauräumen im Schloss Schönbrunn. Touristen aus aller Welt laben sich hier an Sachertorte und Kaiserschmarrn, Apfelstrudel und Guglhupf. Die Monarchie hat in diesem Kontext etwas Romantisches und Glamouröses, etwas Kultiviertes und Nostalgisches, vielleicht auch etwas Pickiges an sich. An der Wand hängt ein Bild mit zwei Porträts: Kaiser Franz Joseph und der deutsche Kaiser Wilhelm II. Darunter steht: „In Treue vereint“.

Es handelt sich bei dieser Darstellung um ein Mittel der Kriegspropaganda, tausendfach reproduziert und in viele Haushalte verteilt, Kriegsmerchandising sozusagen. Auch in meinem Elternhaus gibt es ein mit demselben Bild verziertes kleines Deko-Kännchen, von dem in meiner Kindheit niemand mehr genau sagen konnte, was es bedeutete oder wie es in die Familie gekommen war. So wie wahrscheinlich kaum einer der Touristen an grauenvolle Kriegshetzerei denkt, wenn er unter den Augen der beiden Kaiser seinen Alt-Wiener Suppentopf löffelt.

Es gibt dennoch etwas, das mir an der k.u.k. Vergangenheit seit jeher gefiel: die Vorstellung, dass wir Österreicher „viele Völker sind“. Vielleicht lag es an meiner Geschichtslehrerin (der ich in dieser Stunde zuhörte), die die Monarchie als eine Art Prä-EU deutete und es nur für folgerichtig hielt, dass Otto Habsburg Abgeordneter im Europaparlament war. 1979 initiierte er eine Resolution, die durch einen leeren Stuhl im Europäischen Parlament auf die Völker hinter dem Eisernen Vorhang aufmerksam machte – und nahm dadurch die spätere Osterweiterung vorweg.

 

Vielleicht aber lag es auch an Otto Friedländers Buch „Letzter Glanz der Märchenstadt – Wien um 1900“, das mir das alte Wien als eine Weltstadt beschrieb, in deren Straßen eine bunte Vielfalt an Menschen zu sehen war: türkische Hausierer mit weichen Opanken an den Füßen und dem Fez auf dem Kopf, huzulische Hirten in gesticktem, weißem Pelz, polnische Juden mit langem Bart und in mit Zobel verbrämten Seidenkaftanen, armenische Mechitaristen, hannakische Ammen und ungarische Garden mit Pantherfellen und Reiherfedern. Wie absurd sind doch Ortstaferlstürmereien in einem Land, dessen Monarch einst seine Proklamationen mit „An Meine Getreuen Völker“ einleitete und in elf verschiedenen Sprachen veröffentlichen ließ.

In Heimito von Doderers Roman „Grenzwald“ wird eine Gruppe von österreichischen Offizieren im Laufe des Ersten Weltkriegs aufgefordert, sich doch einer Nation zuzuordnen. Da sie deutsch, tschechisch und ungarisch sprechen, kommen sie zu dem Schluss, eben einfach „Wiener“ zu sein.

Selbstverständlich war die Monarchie ein Herrschaftsgefüge, das seine Ansprüche zur Not auch mit Waffengewalt durchsetzte. Die Loyalität gegenüber dem Kaiser war unterschiedlich verteilt: Bei den galizischen Juden war sie hoch, bei den Tschechen tendierte sie gegen null. Und manchmal erlebt man auch viele Jahrzehnte nach dem Untergang des Habsburgerreiches so seine Überraschungen. 2007 durfte ich mit einer Delegation zum Zwecke des Kulturaustausches nach Sarajevo fahren. Eines Abends kam ich mit einem bosnischen Schriftstellerkollegen ins Gespräch und sagte irgendetwas Negatives über die habsburgische Okkupationspolitik in Bosnien-Herzegowina. Zu meiner Überraschung geriet er völlig in Rage und erklärte mir, ich hätte keine Ahnung von Geschichte: Die Habsburger seien mit Abstand das Beste gewesen, was diesem Land je passiert sei! Sie hätten Schulen, Spitäler, Theater gebaut, ein funktionierendes Eisenbahnnetz installiert und Sarajevo eine Stadtkanalisation geschenkt.

Ich versuchte, etwas einzuwenden, brachte die blutige Niederschlagung der Aufstände nach dem Berliner Kongress vor, der Österreich-Ungarn die Verwaltung der Region übertragen hatte, die Annexionskrise 1908 und nicht zuletzt den Umstand, dass der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand wohl nicht wegen extremer Beliebtheit der Habsburger in Sarajevo ermordet worden war – nun, wir hatten wohl beide Recht, so ist das nun mal mit der Geschichte.

Am Vormittag hatten wir jene Stelle nächst des Miljacka-Flusses besichtigt, wo der bosnische Serbe Gavrilo Princip mit seinen Schüssen den Anstoß zum Ersten Weltkrieg gegeben hatte. Unter den Kommunisten hatte er als Held gegolten, seine Fußspuren waren in den Gehsteig eingelassen gewesen, sodass man genau nachvollziehen konnte, wo er gestanden hatte, als er den Thronfolger traf. Nunmehr fanden wir die triumphalen Fußspuren entfernt: Im Bosnienkrieg galt Princip bosnischen Muslimen und Kroaten als serbischer Held, weshalb man ihm keine Bewunderung mehr zollen mochte. 2004 wurde an der Attentatsstelle eine Plakette angebracht, die nur mehr die nüchternen Fakten festhält. Auch die Geschichte hat eine Geschichte.

Wenn Österreicher die Grenze zu einem der ehemaligen Kronländer der Monarchie überqueren, kommt es vor, dass sie mit wehmütig-ironischer Geste sagen: „All das hat einmal zu uns gehört!“ In der Europäischen Union können wir wieder zusammengehören, diesmal auf freiwilliger Basis.

Aus: Bettina Balàka (2018): Kaiser, Krieger, Heldinnen. Exkursionen in die Gegenwart der Vergangenheit. Innsbruck: Haymon, 115–121. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlags.

Mütter
(Auszug)

Pavol Rankov

Ich war Alexejs Mutter und die Last der Betreuung hatte ich zu tragen. So war es von der Natur vorbestimmt. Ich versuchte, mich während des Tagesdienstes ab und zu ein wenig zu verkriechen, um die Augen zu schließen und etwas zu schlafen, doch es gelang mir nur ganz selten. Als ich mich einmal hinter der Baracke kurz ins Gras duckte, kam gleich die Gefangene angerannt, die mit mir zusammenarbeitete, und rief, die Wachen würden schon nach mir suchen, weil Alexej wieder weine. Auch nachts musste ich auf der Hut sein und Alexej sofort beim ersten Greinen an die Brust legen, denn ich hatte Angst vor Liedchen. Sie hatte schon mehrmals gedroht, das Kind zu erwürgen, wenn es sie noch einmal aufwecke. Ich bat sie, wieder auf ihre alte Pritsche am anderen Ende der Baracke zu ziehen, wo das Weinen sie nicht so stören würde, doch das machte sie noch wütender. Doch auch die anderen murrten. Die Hündinnen zwangen eine der Frauen, Irina beim Appell zu bitten, das Kind aus der Baracke heraus zu schaffen. Irina schrie sie daraufhin an, sie solle sich um ihren Kram kümmern. Dass die Mutter mit dem Kind im sechsten Lagpunkt sei, habe die Lagerleitung festgelegt und über einen Befehl werde nicht diskutiert.

In der darauffolgenden Nacht wachte ich von einem Schlag ins Gesicht auf. Liedchen stand über mir und rief, es sei die letzte Warnung. Alexej weinte wieder, doch ich war so müde, dass ich es nicht mitbekommen hatte. Liedchen packte mich an der Kehle und begann, mich zu würgen. Sie schrie, sie werde das Kind umbringen, wenn es sie noch einmal wecke. Dann zog sie mich hoch und stieß mich in Richtung Wiege, ich solle mich gefälligst um den Sohn kümmern. Doch ihre Wut ließ nicht nach. Sie ging in der Baracke auf und ab, trat gegen die Pritschen und versetzte allen Gefangenen, an denen sie vorbeikam, einen Hieb. Es machte sie rasend, dass einige noch immer schliefen, während sie von dem Weinen längst aufgewacht war.

Am nächsten Abend legte ich Alexej gar nicht erst in die armselige Wiege, sondern ließ ihn bei mir, damit ich ihn sofort stillen konnte. Die Sirene, die den Abendappell ankündete, klang in meinen Ohren wie eine Sterbeglocke. Natürlich wagte ich nicht, ein Nickerchen zu machen. Ich hockte auf der Pritsche und versuchte zu beten, doch in meinem Kopf wirbelten Bilder aus der Vergangenheit herum. Mal sah ich vor mir den Rücken von Alexejs Vater, als er aus dem Fenster meines Zimmers sprang, mal Mutter, wie sie auf dem Vorplatz stand und dem Wagen hinterher sah, mit dem die sowjetischen Soldaten mich wegbrachten. Aus meinem Gedächtnis stieg auch das entstellte Gesicht der toten Kaisa auf und kurz darauf der stechende Blick der Wölfin, die sich mir im nächtlichen Wald in den Weg gestellt hatte.

Als Alexej sich zu rühren anfing, nahm ich ihn sofort hoch und legte ihn an. Er trank, machte Bäuerchen und schlief ein. Ich hätte mindestens eine Stunde Ruhe gehabt, um mich selbst etwas aufs Ohr zu legen, doch ich hielt meine Augen mit Macht offen.

Dennoch schlief ich irgendwann ein. Alexejs Weinen weckte mich. Im Halbschlaf hörte ich in der dunklen Baracke jemand umher poltern. Als der Mund des Kleinen meine Brustwarze umschloss und das Weinen verstummte, hörte ich noch, wie eine der Liegen knarrte. Glücklicherweise war es nicht Liedchens. Erst als ich mich aufrichtete, um den Kleinen zum Aufstoßen an meine Schulter zu lehnen, sah ich, dass direkt neben meiner Pritsche jemand am Boden lag. Es war Liedchen. In ihrer grenzenlosen Bösartigkeit hatte sie offenbar beschlossen, neben uns zu schlafen, damit ihr nicht das leiseste Wimmern Alexejs entging. Ich bemühte mich, sie nicht anzustoßen, schließlich hatte sie wegen des nächtlichen Gewecktwerdens diese irrsinnige Position bezogen.

Ich war mir sicher, dass Liedchen meinen Sohn in jener Nacht umbringen wollte. Ich saß auf der Pritsche und grübelte fieberhaft, wie ich ihn schützen könnte. Am Ende kam ich zu dem Schluss, dass ich zu Irina gehen und ihr alles erzählen musste. Sie war die einzige, die mir helfen konnte. Doch gleichzeitig war mir auch klar, dass sie nicht helfen würde. Alexej war eine Last, die sie loswerden wollte, und Liedchen bedeutete eine Lösung dieses Problems. Alle um uns herum waren gegen uns. Gegen Morgen flutete mattes Licht die Baracke. Liedchen lag noch immer direkt neben mir auf dem Bauch, ihr Gesicht hatte sie in dem braunen Wattemantel vergraben, den sie nicht einmal bei größter Hitze ablegte. Irgendwann ertönte die Sirene, der Schlüssel rasselte im Schloss und die Wachhabende kam in die Baracke gelaufen.

„Los geht’s! Los geht’s!“, schrie sie wie jeden Morgen. Den Frauen, die noch nicht aufgestanden waren, hieb sie mit dem Axtstiel auf die Beine. Als sie bei Liedchen ankam, zögerte sie einen Moment. Offenbar schwankte sie, ob sie die Wut und möglicherweise auch einen Angriff dieser starken und unberechenbaren Gefangenen riskieren sollte. Sie stieß vorsichtig mit dem Stiefel gegen ihre Wade, doch da Liedchen sich nicht rührte, versetzte sie ihr einen ordentlichen Fußtritt. Als dieser auch nicht zu der erhofften Reaktion führte, bückte sich die

Wachhabende und griff nach Liedchens Hand. Sie ließ sie sofort wieder fahren. Fragend sah sie mich an:

„Was ist hier passiert?“

Ich zuckte nur die Schultern.

Die Wachhabende rannte aus der Baracke. Jetzt beugten auch wir uns zu Liedchen hinunter. Ihre Hände waren kalt. Als eine der Frauen den Mantel beiseiteschob sah ich, dass sie den Kopf unnatürlich zur Seite gebogen hatte. Ich dachte an Kaisa. Um Liedchen herum war nicht ein Tropfen Blut.

„Warst du in der Armee?“, fragte mich Leutnant Irina.

„Nein“, antwortete ich.

Wir standen vor dem angetretenen Lagpunkt. Wenige Meter neben uns lag der leblose Körper Liedchens. Irina verfuhr wie ein paar Monate zuvor. Anstelle des Frühstücks sollte die Mörderin aufspürt werden, nur dass dieses Mal ich verdächtigt wurde. Irina fragte mich, ob ich nicht gestehen wolle. Ich schüttelte den Kopf. Irina begann vor den angetretenen Brigaden auf und ab zu gehen. Sie schlenderte von der ersten Reihe zur vierten und wieder zurück. Der lange Pferdeschwanz hüpfte grimmig über ihren Rücken, während sie erklärte, dass wohl alle wüssten, wie oft Liedchen mit dem Tod meines Kindes gedroht hatte. Nun sei ich ihr also zuvorgekommen und hätte ihr das Genick gebrochen. Da hob Anna die Hand. Irina bemerkte es nicht, doch eine Wache machte sie darauf aufmerksam. Irina rief Anna nach vorn und forderte sie auf, zu sprechen. Anna erklärte, dass sie die Pritsche neben mir habe und in der Nacht aufgewacht sei, als Liedchen auf dem Boden aufschlug. Als sie die Augen öffnete habe sie eine Frau zwischen den Pritschen davongehen sehen.

„Sie?“ Irina zeigte auf mich.

„Nein, ich bin mir sicher“, entgegnete Anna. „Die Person verschwand irgendwo in der Mitte der Baracke in der Dunkelheit.“

„Wer war es dann?“, fragte Irina.

„Ich weiß es nicht, ich konnte es nicht sehen“, sagte Anna.

„Wenn du es nicht gesehen hast schweig und scher dich zurück ins Glied!“, fertigte die Leiterin sie ab.

Dann wandte sie sich unserer Brigade zu:

„Wir müssen jetzt und hier die Mörderin entlarven. Ich für meinen Teil habe sie schon gefunden, doch zur Sicherheit frage ich noch einmal: bekennt sich jemand zu dieser Missetat?“ Langes Schweigen folgte. Dann zerschnitt Alexejs schrilles Weinen die Stille, als gleite ein heißes Messer durch ein Stück Butter. Ohne zu überlegen und ohne Erlaubnis stürzte ich los in Richtung Baracke. Eine Wache trat mir in den Weg. Mir wurde klar, dass mein Sohn und ich verloren waren: sie würden mich noch heute von ihm trennen, vielleicht würde ich schon morgen hingerichtet und der Junge würde allein bleiben, verhungern.

„Was willst du?“, hörte ich Irinas schroffe Stimme.

Ich dachte, sie wollte mir die Möglichkeit anbieten, meinen Sohn ein letztes Mal zu stillen und mich von ihm zu verabschieden, doch sie redete überhaupt nicht mit mir. Die verrückte Lora war nach vorn marschiert.

„Was willst du?“, wiederholte Irina.

„Ich habe sie umgebracht.“ Lora lächelte.

„Du?“

Lora winkte unbekümmert ab:

„Eine Getötete mehr, was macht das schon …“

Als der Arzt aus Zóny kam, ließ Irina uns erneut antreten, damit wir bei der Untersuchung der Toten zusahen. Sie sagte, dass man der Gefangenen Charlamowowa das Genick gebrochen habe und dass das nur jemand gewesen sein konnte, der eine spezielle militärische Ausbildung besaß. Wie Lora Berger. Der Arzt murmelte etwas vor sich hin, der Auftritt der Leiterin schien ihn nicht zu beeindrucken. Als er sich neben der Toten wiederaufgerichtet hatte, verlangte er, mich und das Kind zu sehen. Wir gingen in die Baracke.

Nach einer flüchtigen Untersuchung Alexejs entschied er, dass ich zufüttern müsse, jede Woche eine Dose Kondensmilch. Irina nickte. Der Arzt musterte sie. Ich kannte ihn bereits und erwartete, dass er gleich wieder eine Bemerkung machen würde, die Irina demütigte oder in Rage brachte. Er begann, indem er ihr ausführlich erläuterte, warum Mütter mit Neugeborenen in Lagerkrankenhäuser oder gesonderte Baracken verlegt würden.

 

Der Hauptgrund sei, dass sie andere Gefangene nicht störten. Irina sah ihn ungläubig an, auch sie erwartete, dass er jeden Moment zum Angriff überging. Und es geschah prompt, indem der Arzt sie anwies, in unserer Baracke eine Trennwand aus Holz zu ziehen, die Mutter und Kind wenigstens etwas von den anderen abschirmte. Zu meiner Überraschung protestierte Irina nicht. Sie gab sich auch später ruhig, als sie mir Anweisungen erteilte, wo und wie ich die neue Wand zu errichten hätte. Am Abend sprachen Anna und ich lange über das Vorgefallene. Uns beiden war klar, dass die Leiterin in der Baracke eine Zuträgerin hatte. Sie hatte ja selbst gesagt, sie wisse, dass Liedchen immer wieder gedroht hätte, meinen Sohn umzubringen. Dass Irina nichts dagegen unternahm bestätigte uns ein weiteres Mal, dass sie es auf den Tod Alexejs anlegte. Anna meinte, wir müssten alles daransetzen, dass ich mit meinem Sohn so schnell wie möglich aus Artek fortkam. Der Arzt war dabei unsere einzige Hoffnung, nur er konnte Alexej und mich wo anders hin verlegen. Gleichzeitig war mir aber auch klar, dass wir seine einzige Waffe gegen Irina waren. Würde er uns fortschicken, müsste er sich jemand anderes suchen.

„Du denkst also auch, dass der Arzt Irinas Unvermögen am besten dadurch beweisen könnte, wenn …“, begann Anna nach einer kurzen Pause.

„Ja, wenn Alexej sterben würde“, ergänzte ich.

Anna seufzte und senkte den Kopf. Es gab keine Rettung.

Ein paar Tage später brachten sie die erste Dose Kondensmilch für Alexej. Sie stammte von der amerikanischen Kriegshilfe und war riesig, ich schätze, sie fasste fünf Liter. Dank der Milch konnte ich meine alten Schulden aus jenen Wochen begleichen, als die Gefangenen mir Beeren aus dem Wald mitbrachten. Ein halber Napf süßer fetter Milch hatte einen ungeheuren Wert. Anna tauschte sie gegen Zucker, Brot und Seife, wir nahmen auch Tabak an, den wir uns für spätere Handelsgeschäfte beiseitelegten.

Als die Frauen mit ihren Bechern anstanden, drängelten sich Tanja und Jelena nach vorn. Die Hündinnen wollten auch Milch.

„Mach voll“, kommandierte Jelena und hielt Anna ihren Becher hin.

„Und was gibst du dafür?“, fragte Anna ruhig.

„Waaas?“ Jelena sah sie mit großen Augen an. Dann drehte sie sich zu Tanja um.

„Hast du sie gehört?“

„Mamachen“, Tanjas Augen funkelten vergnügt, „soll ich ihr die Hand brechen?“

„Wenn du mir die Hand brechen willst, werde ich dich nicht daran hindern“, sagte Anna und zuckte die Schultern. „Ich möchte euch beiden vorher aber eine Frage stellen. Glaubt ihr wirklich, dass Lora Liedchen umgebracht hat? Ich nicht! Wenn nun aber eine andere Liedchen getötet hat, dann ist sie noch immer unter uns. Und wir wissen ja alle“, Anna ließ ihren Blick über die Frauen schweifen, „warum Liedchen sterben musste. Sie wollte dieses Kind beiseitebringen. Jene, die sie umgebracht hat, tat es, um Alexej zu schützen. Wer von uns versucht, dem Jungen etwas anzutun, kann wie Liedchen enden.“

„Wer hat Liedchen aber dann umgebracht? Du doch nicht etwa?“, lachte Tanja.

„Ich bestimmt nicht, aber mit Sicherheit eine andere von uns“, schloss Anna.

„Ich kapier nicht, warum du jetzt davon anfängst“, sagte Jelena.

„Wir sind gekommen, um uns Milch von euch zu kaufen, genau wie die anderen Frauen. Sag, was du dafür willst und wir werden’s dir geben.“

„Wir tauschen gegen Tabak“, ging Anna zum Geschäftlichen über.

Tanja schnaubte mürrisch, doch Jelena legte ihr die Hand auf die Schulter. Dieses Mal hatte Anna die Hündinnen bezwungen, doch mir war klar, dass wir uns weiter vor ihnen in Acht nehmen mussten. Sie waren noch genauso gefährlich wie vor Liedchens Tod – Jelena durch ihre Gerissenheit und Tanja durch ihre animalische Kraft.

Die amerikanische Kondensmilch schmeckte allen außer Alexej. Ich gab sie ihm tröpfchenweise in den Mund und schmierte damit sogar meine Brustwarze ein, doch sobald die Milch an seine Zunge kam, verzog der Kleine das Gesicht. Ich versuchte, die Milch mit Wasser zu verdünnen, sie warm zu machen, zum Schluss gab ich sogar eine Prise Salz hinzu, doch Alexej lehnte alle meine Kostproben ab.

Die Zusatznahrung des Arztes war dennoch nicht umsonst. Ich trank Alexejs Milch und mir schien wirklich, dass ich dadurch mehr Milch bildete. Leider kam schon in der Woche drauf eine viel kleinere Dose aus Zóny an. Neben dem eigenen Napf blieb nichts für Tauschgeschäfte übrig.

Die Blechbüchsen fanden im Lager als Töpfe Verwendung. Die erste hatte ich als Weitling behalten, um darin die Lappen auszuwaschen, die ich als Windeln nutzte. Es dauerte nicht lange und Anna setzte bei den Frauen auch unseren Tabak um. Sie tauschte ihn gegen Hagebutten ein, die sie für Tee trocknete. Im Winter würde das Kind Vitamine brauchen.

Aus: Pavol Rankov (2011): Matky. Banská Bystrica: Edition Ryba, 102–109. Aus dem Slowakischen von Ines Sebesta. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Übersetzerin. Die deutsche Übersetzung des Romans erscheint 2020 unter dem Titel MÜTTER. Der Weg der Wölfin durch den Gulag beim Berliner Verlag Anthea.