Kirche

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Vision und Leitungsverantwortung

Wer leitet, ist verantwortlich für die Vision der ihm anvertrauten Gemeinschaft. Er hat dafür zu sorgen, dass es eine Vision gibt, dass sie geteilt wird von möglichst vielen und dass sie ganz und in ihrer Tiefe verstanden wird. Dabei ist und bleibt klar: Es ist nicht allein Aufgabe der Verantwortlichen, eine Vision zu schaffen und die Gruppe zu Wandlungsprozessen herauszufordern. Aber wer Verantwortung trägt, ist vor allem der Ermöglicher dieses Visionsprozesses. Er bringt den Zündfunken, er feuert den Prozess an – aber es ist das Volk, das sich eine Vision zu eigen macht, und nicht der Verantwortliche. Nur dann kann eine Vision ins Leben kommen, nur dann können große Dinge umgesetzt werden. Selbst wenn die Leitung ganz enthusiastisch eine Vision verfolgen will – zuerst muss sie dafür sorgen, dass möglichst ein großer Teil der Leute sich die Vision zu eigen macht.

Von daher können die Merkmale beschrieben werden, die es braucht, damit Leitungsverantwortung im Blick auf die Vision gut wahrgenommen werden kann: Verantwortliche müssen gute Zuhörer sein, um zu entdecken, was wirklich die Menschen leidenschaftlich bewegt. Sie müssen sehr lernbereit sein, um wirklich die Tragweite der sich abzeichnenden Vision zu entdecken. Sie sind in der Lage, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, und verfügen über die Fähigkeit, die Ergebnisse der gemeinsamen Suche gut zusammenzufassen.

Wie kann dann also eine solche Vision, die kraftvoll ist, entstehen? Ein sechsfacher Blick ist notwendig, damit Verantwortliche verantwortlich eine Vision entwickeln helfen:

Der Blick nach innen: Was fühlen wir selbst, was ist unsere Sehnsucht und unser inneres Bild? Was will in uns geboren werden? Und wie viel Leidenschaft habe ich dafür?

Der Blick nach hinten: Was haben wir aus der Vergangenheit gelernt? Ohne das Lernen aus Erfahrungen bleiben Visionen ja purer Idealismus. Der eigene Erfahrungsschatz aber bürgt für Glaubwürdigkeit und ermöglicht, dass eine Vision angenommen und zu eigen wird. Daraus wächst die mögliche Umsetzung.

Der Blick ins Umfeld: Was ist mit den anderen Mitmenschen? Sind sie bereit und offen für eine Vision? Wer zu weit nach vorne rennt, verliert den Einfluss auf einen gemeinsamen Weg.

Der Blick nach vorne: Was ist das größere Bild? Was ist das große Ziel? Es geht nicht zuerst um Umsetzungsstrategien und Management.

Der Blick nach oben: Welchen Weg will Gott mit uns gehen? Gott schenkt mir Gaben und ermöglicht so, dass ich mein Potenzial auslebe – als Geschenk für Gott.

Der Blick zur Seite: Welche Ressourcen habe ich? Aber vor allem muss klar sein: Die größte Ressource und Kraftquelle ist das Volk Gottes.

Gemeinsame Visionsentwicklung – die Erfahrung von Bukal Ng Tipan

Auf diesem Hintergrund haben wir in Bukal Ng Tipan Werkzeuge und Methoden einer gemeinsamen Visionsentwicklung erarbeitet und führen sie in verschiedenen Diözesen Asiens durch. Wir beginnen mit den Diözesen, weil gerade die gemeinsam geteilte Vision einer ganzen Diözese eine Kontinuität pastoralen Arbeitens auch dann ermöglicht, wenn einzelne Pfarrer und Stelleninhaber wechseln. Uns geht es dabei darum, dass eine solche Vision auch immer Praxis wird, Handlung und konkrete Aktion – denn nur so kann sie inspirierend wirken und das Antlitz der Kirche vor Ort erneuern und verwandeln.

Ein solcher Entwicklungsprozess artikuliert sich in mehreren Schritten, die in gebotener Kürze dargestellt werden sollen.

Ein geistlicher Prozess

Der Kirchenentwicklungsprozess einer Diözese beginnt mit einem geistlichen Bewusstwerdungsprozess: Der Bischof nimmt zusammen mit seinen Priestern an geistlichen Tagen teil. Hier geht es darum, ein gemeinsames Bewusstsein über den Iststand des Lebens in der Diözese zu erlangen. Dabei spielen sowohl die Stärken wie die Schwächen, die Verletzungen und die Highlights eine Rolle: Sie werden ausgesprochen und auch in eine Dynamik sakramentaler Versöhnung hineingenommen. Zentrale Frage ist aber das eigene und gemeinsame Bewusstsein über das Kirchenverständnis und das Leitungsverständnis und seine Spiritualität. Es sind wirklich Exerzitien in Gemeinschaft, die eine gemeinsame Sichtweise fördern und ermöglichen wollen. Am Ende dieser Tage können das Presbyterium und der Bischof gemeinsam überlegen, ob sie einen echten Kirchenentwicklungsprozess im Blick auf eine partizipative Kirche anstreben wollen. Erst wenn hier eine gemeinsame Option getroffen wird, kann der eigentliche Weg weitergeführt werden. Es kann auch einige Jahre dauern, bis eine Diözese hier eine gemeinsame Position gefunden hat. Aber es reicht nicht, dass nur ein Teil der Priester oder etwa nur der Bischof hinter einem solchen Projekt steht.

Ein doppelter Konsultationsprozess

Ist eine solche Entscheidung erfolgt, kommt es nun zu einem umfassenden Konsultationsprozess. Das Ziel ist klar: Im Hören auf die vielen Menschen sollen eine gemeinsame Vision, gemeinsame Prioritäten und Strategien der Umsetzung entwickelt werden. Deswegen steht am Anfang dieses Prozesses eine Schulung: Engagierte Christen werden zum Hören ausgebildet – und sie werden dann auf der Graswurzelebene von Haus zu Haus ziehen (jede zehnte Familie wird besucht), um zu fragen und zu hören: Was bewegt die Menschen hier am Ort? Welche guten, welche schwierigen Erfahrungen haben sie mit der Kirche gemacht? Was wäre das Schönste, was an ihrem Ort passieren könnte und müsste? Was erwarten sie von ihrer Kirche? Was sind die Herausforderungen des Umfelds? Dieser erste Konsultationsprozess wird dann auch auf den höheren Ebenen der Pfarrei und des Dekanats durchgeführt, und so entsteht ein erster provisorischer Entwurf einer gemeinsamen Vision. Mit diesem Entwurf wird dann in einer zweiten Runde wiederum auf allen Ebenen erneut nachgefragt: Finden Sie sich darin wieder? Was müsste ergänzt werden? Wieder werden die Ergebnisse zusammengetragen und nun zu einer gemeinsamen Vision zusammengeführt. Dieser doppelte Konsultationsprozess ist eine sehr intensive Arbeit und umfasst ein ganzes Jahr.

Prioritäten und Optionen

Der Prozess der gemeinsamen Erarbeitung einer Vision will konkret werden – auf jeder Ebene. Und so werden auf den verschiedenen Ebenen nun aus dieser gemeinsam gefundenen Vision Ziele und Handlungen abgeleitet und priorisiert – von Jahr zu Jahr. Das geschieht auf der diözesanen Ebene genauso wie auf der Ebene der Pfarrei, auf der Ebene der Ortschaften als auch auf der Ebene der kirchlichen Basisgemeinschaften. Solche Prioritäten und Optionen werden dabei auf jeder Ebene entsprechend den Herausforderungen präzisiert. Nach jedem Jahr erfolgen eine geistlich geprägte Evaluation und eine entsprechende Neujustierung der Prioritäten.

Auf diese Weise entsteht ein gemeinsamer Weg des Volkes Gottes. Es ist unterwegs mit einer Vision. Wie von selbst zeigt sich dabei auch, dass Kirchenentwicklung in aller Gemeinsamkeit immer auch sehr lokal und dezentral geschieht: Es sind immer die Menschen vor Ort, die sich als Kirche entwickeln können. Fast von selbst entsteht dabei eine hohe Identifikation vor Ort – und damit wachsen kirchliche Basisgemeinden, die als Teil der Pfarrei und als Teil der Ortskirche inkulturieren und inkarnieren können, wie Kirche heute ihre Sendung leben kann.

1 Adaptiert aus dem Englischen von Dr. Christian Hennecke.

2 Vgl. Francisco Claver, The making of a local church, Manila 2008, 5 f (eigene Übersetzung).

Aufbruch in die Lebenswelten

Heinzpeter Hempelmann

Milieugrenzen überschreiten!
Das Evangelium milieusensibel und lebensrelevant kommunizieren. Wo liegen die Stolpersteine?

Milieugrenzen überschreiten! Das Evangelium milieusensibel und lebensweltrelevant kommunizieren – und das alles, natürlich, in kurzer Zeit und auf knappem Raum! Für diesen Beitrag werden Sie ca. 15–20 Minuten Lesezeit aufwenden. Zu viel? Oder darf es so viel sein für die Aufgabe, die wir uns insgesamt vornehmen mit Kirche hoch zwei, mit Gemeinde 2.0, mit der Suche nach frischen Ausdrucksformen von Kirche und Gemeinde, im Willen, endlich alle zu erreichen; nicht mehr unter uns zu bleiben; Gemeinde inkarnational zu bauen; bei den Menschen zu sein; da, wo Gott uns hinhaben will und wo er schon ist.

Meine spezielle Aufgabe besteht darin, auf die Herausforderungen, auch Barrieren und Stolpersteine hinzuweisen, die es da aller Erfahrung nach gibt. Ich soll und will nicht Wasser in den Wein der milieugrenzenüberschreitenden Denkungsart gießen. Ich will deren Umsetzung vielmehr präparieren, flankieren, ein Stück weit absichern. Wir wollen uns miteinander vergegenwärtigen, was das bedeutet: Milieugrenzen zu überschreiten, das Evangelium für nicht kirchennahe Milieus relevant zu kommunizieren.

Sie erwartet ein knapper Hinweis auf die wichtigsten Ergebnisse der Lebensweltforschung, für die meisten eine Erinnerung, für manche unter uns aber auch eine notwendige Erstinformation, ein schon dickerer Hinweis auf die Herausforderungen, Blockaden und Hindernisse, die wir im ganz persönlichen Bereich, deutlicher: bei uns selbst, zu vergegenwärtigen haben, und schließlich ein Blick auf die missionstheologische Dimension milieuüberschreitenden Handelns. Wenn Deutschland Missionsland geworden ist, wie können wir von Missionaren profitieren für unsere Situation?

 

Und nun:

I Was sagt uns Lebensweltforschung über den Platz und die Rolle von Kirche in unserer Gesellschaft?

a) Zentrale Ergebnisse

(1) Unsere Gesellschaft ist segmentiert und fragmentiert, auf gut Deutsch: Sie ist gespalten, ja zerstückelt. Sie bildet nur in der Theorie ein einheitliches, zusammenhängendes Ganzes. Die Redeweise von der Gesellschaft ist irreführend. Sie besteht aber auch nicht aus 81,5 Millionen Individuen. Der Mega-trend Individualisierung ist ein wichtiger, aber eben nur ein Trend. Die große, die entscheidende Entdeckung der modernen Sozialwissenschaft als Lebensweltforschung lautet: Menschen gestalten ihr Leben nicht nur als isolierte Individuen. Sie glucken vielmehr zusammen und bilden Gruppen gleich Gesinnter. Gruppen gleich Gesinnter, GgG, das ist die einfachste und behältlichste Definition von Milieu. Diese Milieus bilden gegeneinander abgegrenzte Lebenswelten mit kaum Überschneidungen und wenigen Begegnungsflächen. Die Bewohner dieser Milieus treffen nur ganz selten aufeinander, am ehesten vielleicht noch im Stau auf der Autobahn als dem großen Gleichmacher. Aber ihre Ferien werden sie an unterschiedlichen Orten und v. a. auf sehr unterschiedliche Weise verbringen; ihre Einkäufe an unterschiedlichen Orten erledigen oder direkt über das Internet; ihre Freizeit in sehr unterschiedlichen Formen der Vergemeinschaftung gestalten – im Sportverein, entre nous im Rotary-Club, zu Hause, im Kreis der Familie oder im weltweiten Netz: im Chat oder in Strategiespielen, an denen weltweit einige tausend Menschen zusammenwirken. Sinus, eine der in Deutschland führenden Einrichtungen in der Erforschung der Lebenswelten unserer Gesellschaft, unterscheidet zehn solcher Milieus. Diese zerfallen aber wiederum in eine Fülle von letztlich kaum überschaubaren Submilieus und Subsubmilieus.

(2) Diese Segmentierung in Lebenswelten und Fragmentierung in getrennte Lebensräume, die kaum oder keine Berührung miteinander haben, setzt sich in den Volkskirchen fort. In der Kirche finden sich Mitglieder aus allen Milieus. Auch moderne und postmoderne Milieus sind vertreten. So erfreulich das ist, so alarmierend ist ein anderer Befund: Die Kirchen erreichen nur drei bis vier der zehn Milieus. Im kirchlichen Leben dominieren im Regelfall einige wenige Milieus, die der Ortsgemeinde und ihrem Leben ihre Prägung geben. Die Mehrzahl der Kirchenmitglieder, also der Menschen, die sich trotz erheblichem finanziellen Aufwand zur Kirche halten, sind im kirchlichen Leben nicht beheimatet. Das ist ein hochinteressanter und ebenso desillusionierender wie ermutigender Befund. Die allermeisten Kirchenmitglieder kommen im kirchengemeindlichen Leben nicht vor. Das wird beherrscht durch ein buchstäblich dominantes Milieu. Aber Kirche ist eben nicht gleich Kirchengemeinde. Menschen gehören zur Kirche und halten sich zur Kirche aus ganz anderen als den von uns landläufig für wichtig gehaltenen Gründen. Sie finden Beheimatung in anderen Sozialformen als dem sog. Hauptgottesdienst oder den traditionellen Zielgruppenveranstaltungen wie dem Angebot für Senioren oder Jugend- oder Frauenarbeit.

(3) Im Grundsatz gilt: Je moderner und postmoderner Menschen eingestellt sind, umso weniger lebensweltliche Kontakte oder gar Überschneidungsflächen gibt es mit dem kirchlichen Leben vor Ort.

(4) In der Dynamik der sich ständig verändernden Milieulandschaft bilden sich neue Milieus heraus, zu denen Kirchen und Christen kaum noch Zugang finden. Die beklagten Säkularisierungsprozesse wie umgekehrt die beobachtbaren Entfremdungsprozesse lassen sich lebensweltlich plausibilisieren und verstehbar machen. Konkret ist zu denken an die neue, junge, dynamische Mitte unserer Gesellschaft, das Adaptiv-Pragmatische Milieu, aber auch an das Expeditive Milieu und das der Performer.

(5) Der sog. Milieuregiotrend der Firma microm zeigt eine Hochrechnung der Milieuentwicklung. Welche werden wachsen, welche schrumpfen? Prognostiziert werden in den nächsten Jahrzehnten ausgerechnet die Milieus stark, ja teilweise dramatisch abnehmen, in denen Kirche besonders verankert ist. Umgekehrt werden die Milieus quantitativ und qualitativ, an Zahl und Bedeutung, wachsen, in denen Kirche herkömmlich nicht oder wenig verankert ist.

b) Konsequenzen

Menschen suchen vielfach

– Kirche, aber nicht die vorfindliche Kirchengemeinde vor Ort,

– Gemeinschaft, aber nicht Gemeinde,

– Sinn, Orientierung, Halt – aber nicht „Glaube“ im Sinne einer vorgegebenen christlichen Weltanschauung bzw. Doktrin,

– Gottesdienst, Nähe zu Gott, Berührtwerden von Gott, aber nicht im Sonntagvormittag-Gottesdienst um 9:30 Uhr.

Wir stehen als Kirchen und Christen jetzt vor der Entscheidung. Entweder wir erklären,

– nur die konservativ-traditionelle Prägung, die prämoderne Haltung ist die eigentlich christliche; nur die (klein)bürgerliche Formatierung von Kirche ist die eigentlich normale. Alles andere sind höchstens geduldete und eingeräumte Abweichungen;

– nur die Ortskirchengemeinde, die Gemeinde vor Ort, ist Gemeinde, normale Gemeinde; ist richtig Gemeinde;

– nur der Gottesdienst am Sonntagvormittag ist eigentlich Gottesdienst, er ist die Hauptveranstaltung, zu der sich eigentlich alle einfinden sollten. Und es muss dann auch unser gemeindebauendes Ziel sein, ihn zu stärken.

Oder wir erkennen im Licht der Lebensweltperspektive:

– Das ortsgemeindliche und parochiale System ist lange Zeit kongenialer Ausdruck einer genialen Weise gewesen, alle zu erfassen. Es ist auf optimale Weise einer Lebensweise angepasst, die auf Stetigkeit, Dauer, Ortskonstanz angelegt ist. Aber genau diese geniale Passung passt heute für die allermeisten Menschen nicht mehr. Das Prinzip Ortsgemeinde, das für Traditionelle prima passt, muss ergänzt werden, um frische, alternative, zusätzliche Formate von Kirche, die den heutigen, postmodernen Lebenswelten entsprechen, für sie anschlussfähig sind und in sie hineinreichen, ja im besten Fall aus ihnen herauswachsen.

– Unser konservativ-bürgerliches Weltordnungsdenken entspricht in genialer Weise einer über Jahrhunderte zusammengewachsenen bürgerlich-christlichen Kultur, die wir heute mühsam zu modernisieren suchen. Ich erinnere an „Kirche der Freiheit“, das Programmpapier der EKD aus dem Jahr 2006. Aber in postmoderner Welterfahrung ist diese Synthese samt ihrem weltanschaulichen Hintergrund zerbrochen, und die Frage nach Sinn und Orientierung, Sicherheit und Geborgenheit, Gott und Glaube stellt sich heute spezifisch anders, ganz anders– sicher nicht im Sinne einer transzendenten Wirklichkeit, die schließlich und endlich garantiert, dass hier auf dieser Welt alles in Ordnung ist oder kommt.

– Ein prämodernes Lebenskonzept freut sich über Stetigkeit und Konstanz eines kontinuierlich und verlässlich konservativen, allenfalls leicht modernisierten Gottesdienstangebotes am Sonntagvormittag oder auch in sog. Zweitgottesdiensten. Für die meisten Kirchenmitglieder bedeutet aber gerade diese traditionelle Prägung des Gottesdienstes, von der Ästhetik über die Liturgie, die Musik, die Konstanz von Ort und Zeit, ein kulturelles Ausschlusskriterium. Weil sie selber so nicht leben, vielfach nicht leben können, signalisiert ihnen dieses Setting: Wir gehören nicht dazu. Nicht für uns.

Bei der Weichenstellung, die hier ansteht, geht es weniger um pragmatisch-methodische Fragen. Es geht – bedrohlicherweise, oder je nach Perspektive: einfacherweise – vor allem und zunächst um uns. Damit bin ich bei

II Milieuüberschreitung fängt bei uns an

a) Unser Umgang mit dem Fremden

Wir wollen andere erreichen, nach Möglichkeit und im Prinzip alle. Und dann gibt es da die Haltung: „Komm zu Christus und werde – wie wir!“ Da gibt es in schwäbischen Dörfern am Ortseingang die gelb-violetten Schilder, die die Zeiten für den Gottesdienst angeben. Die implizite Botschaft ist: Das ist der Gottesdienst für alle. Da treffe ich bei missionarisch gesinnten Christen auf das abwehrende Diktum: Bei uns wird doch jeden Sonntag evangelisiert. Oder: Wir laden doch alle ein. Wir sind doch für alle da. Jeder kann doch kommen. Oder: Gottes Wort ist doch klar. – Und viele auch sehr engagierte Christen sehen oft nicht,

– wie sehr ihr Gemeindeleben durch ein bestimmtes Milieu buchstäblich „bestimmt“, dominiert ist,

– wie wenig die Art, wie wir ticken, „normal“ ist; dass die Normalitätsunterstellung davon lebt, dass wir vorwiegend mit unsersgleichen zusammen und unterwegs sind; dass sie zeigt, wie wenig missionarisch wir leben, wie wenig wir wirklich mit anderen Menschen, ganz anderen, Kontakt haben, wie sehr wir das im Gegenteil oft scheuen. Das Fremde, Andere, Ungewöhnliche, Ungewohnte ist immer unbequem.

– wie sehr Inklusion immer auch Exklusion bedeutet: Was die einen verlässlich anzieht: die spezielle (sub-)kulturelle und mentale, über längere Zeit gewachsene Prägung unserer Gemeinde, schließt andere ebenso zuverlässig aus. Sie, die in anderen Lebenswelten unterwegs sind, spüren es: Das ist nicht unsere Welt. Das muss man ihnen gar nicht sagen.

Auch engagierte Christen sehen oft nicht,

– wie sehr wir als Kirche von uns aus denken und dann danach fragen, was zum Bestehenden passt. Da gibt es in Württemberg eine Debatte im Evang. Gemeindeblatt über die Beteiligung von Gemeindegliedern am Gottesdienst. Und dann kommt der Einwand: Ja, aber dazu ist doch der Pfarrer da; dafür ist er ausgebildet. Sie spüren: Die Logik ist: Wenn wir etwas ändern wollen, muss das zu uns passen. Wir denken vielfach noch zu sehr von uns her, statt von den Menschen her, die wir erreichen, die wir anziehen wollen. Gott wird Mensch, wenn und weil er uns erreichen will; er gibt seine göttliche, himmlische Herrlichkeit auf, entleert sich – so der Philipperbrief (2,5 ff) – seiner kulturellen und sozialen Identität. Er kommt zu uns, tritt in unsere Lebenswelten ein, statt weiter zu erwarten, dass wir zu ihm kommen. An diesem Kommunikationsverhalten des Lebendigen können wir uns orientieren.

D. h.:

– nicht mehr nur die Komm-, sondern eben auch die Geh-Struktur!

– nicht mehr: wir zeigen euch, was richtig ist, sondern mit den Worten von Klaus Hemmerle: „Lass mich dich lernen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“

Veränderung des anderen fängt mit meiner Veränderung an. Lernen des anderen fängt mit meinem Lernen des anderen an. Sie können es auch ganz drastisch und viel säkularer ausdrücken:

– Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler.

– Der Direktor des Sinus-Forschungsinstitutes, Marc Calm-bach, spricht von der „Demut der Märkte“, die danach fragen, was die Menschen brauchen, und die nicht einfach ihr Produkt loswerden wollen. Ja! Christen und Kirchen können auch hier etwas lernen.

b) Ekelschranken – igitt!

Wir wollen Milieugrenzen überschreiten. Lebensweltforschung kann uns noch einen weiteren Dienst tun. Sie hilft uns nicht nur wahrzunehmen, wie fremd uns das wirklich andere ist. Sie deckt auch anthropologische Zusammenhänge auf, mit denen wir bei uns – auch beim besten Willen! – rechnen müssen.

Den Grundsatz „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ kennen wir alle. Milieus als Gruppen gleich Gesinnter erfüllen wichtige soziale und mentale Funktionen. Sie bieten ihren Bewohnern Sicherheit, Geborgenheit, Identität. Sie sind gerade in einem pluralen Kontext mit allen möglichen Prägungen, Einstellungen und Subkulturen enorm wichtig. Sie sind Rückzugsräume für die, die mal nicht mehr entscheiden und überlegen oder streiten wollen: Bin ich richtig? In meinem Milieu treffe ich auf Menschen, die so reden und denken, die so handeln und ticken wie ich. Hier muss ich mich nicht mehr auseinandersetzen. Hier bin ich akzeptiert, wie ich bin. Hier muss ich mich nicht mehr erklären. Diese Leistung erbringen Milieus und Submilieus dadurch, dass sie eine Identität herstellen, die sich gerade durch Abgrenzung gegen andere Milieus ergibt. Milieus leben von der Abgrenzung von anderen Menschen, die ein spezifisch anderes Milieu bilden. In der Regel leben sie – von Ausnahmen abgesehen – auch von der Abwertung der anderen. Sie sind durch Distinktionsschranken voneinander getrennt. Was so harmlos klingt, bedeutet in der Praxis:

 

(1) Unsere Gesellschaft verliert zunehmend ihren Zusammenhalt und ihre Einheit, weil sie sich in Lebenswelten aufspaltet, die kaum noch Kontakt haben.

(2) Es gibt ein Unverständnis für die, die so ganz anders sind. Die akademisch so harmlos klingenden Distinktionsgrenzen sind emotional hoch aufgeladen. Die Milieus sind größtenteils durch wechselseitige Ekelschranken voneinander getrennt. Der aus der Kulturanthropologie stammende Begriff der Ekelschranken bezeichnet unwillkürliche, sehr starke und kaum zu kontrollierende Reaktionen, die reflexiv und kognitiv kaum aufgefangen werden können. Auch dem verwahrlosten Prekären gehört das Evangelium! Jawohl! Was aber, wenn er stark riecht und – für meine Begriffe – ungepflegt daherkommt? Muss er da nicht mal erst unter die Dusche, damit ich mit ihm kommunizieren, ihn ertragen kann? Auch dem Konservativ-Etablierten gehört das Evangelium! Aber diese Angeberei, dieser Protz, dieses Zeigen, was man hat und was man ist, das stößt mich ab. Das passt nicht in die Gemeinde Jesu – nota bene: meine Gemeinde Jesu. Wir dürfen sicher sein, dass unsere, auch unausgesprochenen Botschaften ankommen und „richtig“ verstanden werden.

(3) Das Milieu, das ich lebe und das meine Gemeinde bestimmt, liebe ich, weil es mein Milieu ist. Es passt zu mir und ich passe zu ihm. Ich möchte es nicht ändern lassen. Hier greift der soziologisch oft beschriebene Selbstrekrutierungsmechanismus sozialer Gruppen. Diese sind nicht einfach offen, auch wenn sie das noch so sehr als ihr Selbstverständnis und ihren Anspruch proklamieren. Sie ergänzen sich zuverlässig nur um solche Leute, die zur Prägung passen, und sie schrecken ebenso zuverlässig alle ab, die nicht passen. Da kann das Selbstverständnis noch so missionarisch, evangelistisch, einladend, offen sein.

Milieugrenzen überschreitender Gemeindebau wird nicht funktionieren, wenn wir diese elementaren Sachverhalte nicht ernst nehmen und übergehen. In der Konsequenz bedeuten sie etwa:

(1) Die Möglichkeiten, mit einem Veranstaltungsformat alle zu erreichen, sind begrenzt. Wer alle erreichen will, muss alternative, ergänzende Formate von Kirche im Milieu wollen, fördern und umsetzen.

(2) Auch die konservativ-traditionelle Gemeinde hat das Recht auf ihr Profil. Wird dies verwässert, etwa durch zu große Milieuspreizung, beheimatet sie nicht mehr.

(3) Die eigenen, persönlichen Möglichkeiten, andere mit dem Evangelium zu erreichen und dafür Milieuschranken zu überwinden, sind ebenfalls sehr begrenzt. Die mehrheitlich postmateriell geprägte Pfarrerschaft, die traditionell oder hin und wieder auch sozial-ökologisch geprägte Kerngemeinde muss aber vor dieser Aufgabe nicht verzweifeln. Auch wenn wir um unsere persönlichen Grenzen wissen, einem hedonistischen Jugendlichen Freund zu sein oder mit einem „Prekären“ unterwegs zu sein, können wir für das Ganze denken und planen. Wir können nach Menschen suchen, die können, was wir nicht können; die als Brückenpersonen in Milieus fungieren können, etwa weil sie die entsprechende Prägung mitbringen. Auch wenn eine Gemeinde kaum über ihre Milieugrenzen hinauskommt, kann sie Initiativen fördern, die über die sog. Kerngemeinde hinauszielen und spezielle, kirchenferne, nota bene: kirchengemeindeferne Milieus fokussieren.