Kirchliches Leben im Wandel der Zeiten

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I. Biografien als Kristallisationspunkte kirchlichen Lebens

Religiöse Eliten in der Neuzeit. Ansätze zu einem internationalen und interkonfessionellen Vergleich
Hubert Wolf

Wie Gott allgegenwärtig sei, so seien „auch seine Priester allgegenwärtig“, klagt ein liberaler Laie in dem Roman „Der Preßkaplan“, der Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Auflagen erlebte. „Sie begleiten die Gläubigen durch das ganze Leben. Schon bei der Geburt empfangen sie denselben durch die Taufe, sie unterrichten das Kind in der Schule, sie beeinflussen leitend den Jüngling und die Jungfrau in der Christenlehre und namentlich durch die Beichte, dieses Meisterwerk geistiger Verknechtung.“ Dabei sitze „der Priester an Gottes statt, ausgerüstet mit Gottes Vollmacht, … er hat die Gewalt auf Gemüth und Willen der Menschen, wie sonst keine Macht auf Erden. … Niemals wird die innige Verbindung zwischen Priester und Gläubigen aufgehoben. Sie dauert bis zum Sterbelager.“1

Der Autor dieses Romans war ein Priester, der sich ins Privatleben zurückzog und sich ganz der Schriftstellerei im Dienste an der katholischen Kirche widmete. Pius IX. zeichnete ihn mit dem Ehrentitel „Päpstlicher Geheimkämmerer“ aus.2 Die Macht des katholischen Klerus, die der liberale Laie im Roman beklagt, dürfte er begrüßt haben. Einig waren sich Autor und Romanfigur auch in ihrer Diagnose des klerikalen Einflusses: Alle Knotenpunkte im Leben eines Katholiken wurden von Priestern bestimmt, „von der Wiege bis zur Bahre“. Die Sakramente der Taufe, Firmung, Ehe und Krankensalbung sind den fundamentalen Lebenserfahrungen Geburt, Adoleszenz, Partnerschaft und Tod zugeordnet. Über diese für das Seelenheil unbedingt notwendigen Gnadenmittel der Kirche verfügte allein der Klerus, sieht man von der Nottaufe und dem Sakrament der Ehe ab, das sich die Partner gegenseitig spenden. Durch das Sakrament der Buße, vermittelt in der Ohrenbeichte, besaßen die Pfarrer nicht nur einen tiefen Einblick in das „Seelenleben“ ihrer Pfarrkinder, sondern zugleich ein äußerst wirksames Instrumentarium zur Kontrolle und Disziplinierung, das weit über den eigentlich religiösen Bereich hinausreichte.3 Außerdem prägten sie den Katholizismus als soziale Größe, hatten sie doch entscheidende Funktionen im gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und ökonomischen Leben inne. So galt die Wahl der katholischen Zentrumspartei als Glaubenssache, und viele Abgeordnete waren selbst Priester. Wer anders wählte, wurde nicht selten als halber Katholik diffamiert.4

Der Pfarrer fungierte nicht nur als Seelsorger im engeren Sinne, sondern zugleich auch als Lebenskontrolleur und „Milieumanager“5 mit umfassender Kompetenz. Die zentrale Bedeutung der katholischen Geistlichkeit weit über den eigentlich religiösen Bereich hinaus ist – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen – für Frühe Neuzeit und Moderne gleichermaßen evident.

Kaum eine andere, sozial klar abzugrenzende Gruppe dürfte über einen derartig langen Zeitraum einen vergleichbar umfassenden Einfluss auf das individuelle, politische und soziale Leben ausgeübt haben wie die katholische Geistlichkeit. Noch dazu war diese überstaatlich und zentralistisch in einer strengen Hierarchie organisiert, sodass sie, zumindest theoretisch, international abgestimmt handeln konnte. Und die Quellenlage ist ausgezeichnet. Die katholische Geistlichkeit bietet sich daher optimal für einen internationalen Vergleich in einer longue durée an. Doch zu berücksichtigen wären im Idealfall auch orthodoxe, protestantische, anglikanische, jüdische und islamische Eliten.

Dieser Vergleich stellt insbesondere mit Blick auf Europa ein dringendes Desiderat dar. Priester und andere religiöse Funktionsträger dürften einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in den Strukturen, Identitäten und Mentalitäten in den verschiedenen Staaten und Regionen Europas genommen haben. Wer die Faktoren kennenlernen will, die die europäische Integration begünstigen oder behindern, die eine gemeinsame europäische Identität grundlegen oder ihr im Wege stehen, wer Normen und Werte, Verhaltens-, Deutungs- und Wahrnehmungsmuster verstehen will, der muss sich ihres historischen Gewordenseins bewusst sein – und dabei kommt den religiösen Eliten eine herausragende Bedeutung zu. Nicht umsonst werden immer wieder das „christliche Abendland“ oder die „jüdisch-christlichen Werte“ bemüht, wenn es um die Ursprünge und die Identität Europas geht.6 Unter den „Europäischen Erinnerungsorten“ sind etliche religiös konnotiert,7 und Diskussionen über Europa haben im Katholizismus zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg eine wirkmächtige Tradition.8 Die Ursprünge des europäischen „Sonderwegs“ werden schon in religiösen Entwicklungen des Mittelalters gesucht.9 Aber auch mit Blick auf zukunftsweisende Entscheidungen werden Argumente religiös begründet, etwa in Diskussionen über den möglichen Beitritt der Türkei oder den Gottesbezug in einer europäischen Verfassung.10

Ein Vergleich von Status und Rolle der religiösen Eliten in verschiedenen Konfessionen und Staaten lässt in der Langzeitperspektive außerdem interessante Ergebnisse zu zentralen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklungen erwarten. Um einen solchen Vergleich zu bewältigen, müssen aber auch hohe methodologische Hürden überwunden werden. All diese Religionsgemeinschaften sind von sehr unterschiedlichen Amtsverständnissen geprägt. Das zeigt schon ein Blick auf das Luthertum: Aus theologischer Perspektive gibt es, wenn man Luther folgt, bekanntlich gar keinen speziellen Klerikerstand. Das steht natürlich mit der katholischen Lehre und dem Selbstverständnis des katholischen Klerus im Gegensatz. Solche völlig unterschiedlichen theologischen Positionen erschweren einen Vergleich über Konfessionsgrenzen hinweg. Seit das Konfessionalisierungsparadigma hinterfragt worden ist, hat sich auch die Ansicht als problematisch erwiesen, dass Konfessionskirchen prinzipiell vergleichbar seien, weil in ihnen strukturelle Entwicklungen wenigstens teilweise parallel verlaufen.11

Um dennoch interkonfessionelle Fragestellungen zu ermöglichen, begeben sich Profanhistoriker relativ rasch auf eine soziologisch-funktionale Ebene. Sie betonen, dass die Rolle der evangelischen Pfarrer, ihr Status und ihre konkreten Aufgaben doch faktisch in vielem denen der katholischen Pfarrer entsprechen. Weil die theologischen Unterschiede im Amts- und Selbstverständnis bei der Geistlichkeit der westlichen Kirchen angeblich keine markanten Unterschiede in den Funktionen bewirkten, werden die seelsorgerlich tätigen Amtsträger jenseits aller konfessionellen Unterschiede durchaus als einheitliche Gruppe angesehen.

Ein solcher Zugang erscheint aus der Perspektive einer katholischen Kirchengeschichte, die sich als theologisches Fach versteht, verkürzt. Es dürfte plausibel sein, dass ein grundsätzlich unterschiedliches Verständnis von Kirche und kirchlichem Amt weitreichende Auswirkungen auf die Einflussmöglichkeiten der jeweiligen Amtsträger auf die Gläubigen haben muss. Denn ist nicht ein Katholik, der die Kirche und den geweihten Priester unbedingt braucht, um das Heil zu erlangen, in ganz anderer Weise von seinem Seelsorger abhängig als ein evangelischer Christ, dem sich die Heilige Schrift unmittelbar erschließt und der von den Prinzipien „sola scriptura, sola fide et solus Christus“ ausgehen muss? Ob es eine konfessionsübergreifende Sozialgruppe der religiösen Amts- und Funktionsträger wirklich gegeben hat, müsste in einem großen internationalen und interkonfessionellen Vergleich erst geprüft werden. Gleiches gilt schon für die These, dass diese religiösen Eliten dem Bürgertum zugehörig waren. Zweifel sind angebracht. Eigneten sie sich tatsächlich den bürgerlichen Habitus an, oder waren sie doch Repräsentanten einer Gegengesellschaft? Untersuchungen zu Herkunft und Habitus der katholischen Geistlichkeit in Deutschland zeigen für die sogenannte „pianische“ Epoche der Kirchengeschichte von 1850 bis 1950 dezidiert deren antibürgerliche Einstellung.12 Es ist davon auszugehen, dass es einerseits große Unterschiede innerhalb der einzelnen Konfessionen gab, andererseits aber auch Gemeinsamkeiten über konfessionelle Grenzen hinweg, die sich zum Beispiel durch nationale und regionale Eigenheiten erklären. Lief etwa die Rezeption „aufgeklärter“ oder „ultramontaner“ Ideale durch den katholischen Klerus in den unterschiedlichen Ländern Europas gleichzeitig und weitgehend parallel ab oder sind die jeweiligen sozialen und kulturellen Bedingungen für ganz unterschiedliche Ausprägungen dieser Ideale verantwortlich?

Die Frage nach theologischen Inhalten und deren konfessionsspezifischen Auswirkungen auf soziale und politische Strukturen sollten nicht nur Kirchenhistoriker grundsätzlich stellen, doch sind sie hier gegenüber kulturwissenschaftlich arbeitenden Profanhistorikern im Vorteil. Friedrich Wilhelm Graf ist zuzustimmen, wenn er formuliert, dass die historischen „analytischen Außenperspektiven auf religiöse Mentalitäten und der gelebte Glaube von Individuen niemals kongruent“ seien. „Der Glaube ist für einen frommen Menschen etwas qualitativ anderes als eine Funktion von x oder ein Nutzen für y.“ Konfessionsspezifische Frömmigkeitsmuster und somit auch Rolle und Funktion der Geistlichkeit kann man in der Tat „ohne theologische Deutungskompetenz“ nicht vollständig analysieren.13

 

Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, den Forschungsstand zum Thema „Katholischer Klerus in Europa“ auch nur einigermaßen adäquat darzustellen und aufzuarbeiten. Allein die deutschsprachigen Publikationen zu diesem Thema sind Legion. Sprachliche Barrieren existieren vor allem, aber nicht nur mit Blick auf die slawischsprachigen, ungarischen und griechischen Publikationen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich deshalb darauf, exemplarisch zu skizzieren, wie sich das Priesteramt in der katholischen Kirche entwickelte und dabei einige Themenfelder und Fragehorizonte vorzustellen, die sich für einen Vergleich über Epochen und Generationen, Staaten sowie Religionen und Konfessionen hinweg besonders anbieten. Zu berücksichtigen sind neben den drei Hauptvergleichsebenen Religion, Raum und Zeit auch weitere Differenzen wie die „cleavages“ zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie, verschiedenen sozialen Schichten sowie genderspezifische Unterschiede.14

Selbst- und Fremdbilder religiöser Eliten

Ausgangsbasis für den internationalen Vergleich sollte die Frage nach dem Selbstbild und der Fremdwahrnehmung religiöser Eliten sein, wobei zwischen normativen Vorgaben und Beschreibungen des Ist-Zustandes zu unterscheiden ist. Heuristisch wertvoll können neben genuin historischen und theologischen auch sozial- und kulturwissenschaftliche Begrifflichkeiten sein. So ist zu prüfen, wieweit Ergebnisse der Elitenforschung15 auch auf die Inhaber religiöser Ämter übertragen werden können. Anzustreben ist letztlich eine „europäische Religionsgeschichte als Geschichte religiöser Verflechtung“,16 die über den Vergleich hinausreicht, indem sie die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Religionen und weiteren gesellschaftlichen Feldern an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten zu erfassen versucht.

In der katholischen Kirche gibt es zwei Stände, die streng voneinander geschieden sind: die Kleriker und die Laien. Nach spätmittelalterlichem Verständnis brauchte der Priester die Weihe, „um gewisse Benefizien erhalten zu können. Sie war viel weniger Amt und Würde als Mittel zu diesem Zweck.“17 Der Klerus war wiederum zweigeteilt in Welt- und Ordensgeistliche, die nicht selten miteinander vor Ort konkurrierten. Während die höheren Stellen (Bischofssitze, Dom- und Stiftskapitel) meist dem Adel vorbehalten waren, umfasste der clerus secundarius ein breit abgestuftes Spektrum vom geistlichen Proletarier, der sich mit einer Altarstiftung kaum über Wasser halten konnte, über den wohlbestallten Pfarrherrn auf einer reichen Pfründe bis zum angesehenen Stiftsherrn und Universitätsprofessor.18 Die Gläubigen erwarteten aber von ihren Priestern durchaus, eine vita apostolica zu führen, Reinheitsgebote zu achten und sich selbst zu heiligen – vor allem auch, um die Fähigkeit zur Sakramentenspendung sicherzustellen. Priester wurden als Mittler zwischen Gott und den Menschen betrachtet.19

Im „Herbst des Mittelalters“20 geriet der Klerus nicht selten ins Kreuzfeuer der Kritik: Er war schlecht ausgebildet – meistens mussten zwei Jahre als „Pfarr-Azubi“ reichen – und daher kaum in der Lage und zumeist auch nicht interessiert, den neuen Erwartungen des aufkommenden Bürgertums an Seelsorge und Verkündigung gerecht zu werden. Folgt man Hubert Jedin, so lässt sich für das Spätmittelalter „kein spezifisches Priesterideal“ feststellen, was an der „Ausbildung des Benefizialwesens“ lag: „Die Tätigkeit des Priesters wurde durch das benefizium bestimmt, das er innehatte, nicht durch ein allen gemeinsamen munus sacerdotale, ja sogar die Erfüllung der mit dem Benefizium verbundenen Amtspflichten war ablösbar und konnte einem Stellvertreter übertragen werden.“ Eine „notwendige Verbindung zwischen Priestertum und pastoraler Verpflichtung“ existierte somit nicht.21

Maßgeblich für den katholischen Klerus wurde die Krise, in die er im Übergang zur Neuzeit durch die Angriffe der Reformatoren geriet. Die Kontroverstheologie, das Konzil von Trient und das Kirchenrecht waren gezwungen, darauf mit einem neuen Priesterbild zu reagieren.22

Die reformatorische Kritik richtete sich nicht nur gegen die schlechte Ausbildung und die Vernachlässigung der seelsorgerlichen Aufgaben durch den spätmittelalterlichen Klerus, sie setzte viel grundsätzlicher an. So bestritt Luther die Existenz eines eigenen geistlichen, vom weltlichen getrennten Standes und lehnte das Sakrament der Weihe ab, das die Mitgliedschaft in diesem Ordo konstituierte: „Dan was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sei.“23 So propagierte Luther das allgemeine Priestertum aller Getauften. Priester waren für ihn nur „ministri ex nobis electi, qui nostro nomine omnia faciunt, et sacerdotium aliud nihil est quam ministerium“, wie er bereits 1520 in seiner Schrift „De captivitate Babylonica“ formulierte: gewählte Amtsträger, die im Auftrag der Gläubigen handelten.24 Wenige Jahre später entzog der Reformator mit theologischen Argumenten dem besonderen Weihepriestertum seine bislang wichtigste Existenzberechtigung. In der Schrift „De abroganda missa privata“ sah er es als durch den Satan selbst gestiftet an: Sein eigentlicher Daseinsgrund, die Darbringung des Messopfers, entfalle, weil die Messe kein Opfer, sondern die Erneuerung des Abendmahles sei.25

Die katholische Kontroverstheologie und das Konzil von Trient sahen sich deshalb herausgefordert, die Existenz des priesterlichen Ordo zu verteidigen und ein neues, an der Seelsorge orientiertes Priesterbild zu entwerfen. Der status clericalis wurde bewusst auf die höheren Weihen eingeschränkt, die Weihe als bloßes Mittel zur Erlangung eines Benefiziums verworfen. Der gute Hirte, der nicht nur als Kirchenfunktionär administrative Aufgaben zu erfüllen hat, sondern „der von Gott die Verantwortung für die ihm anvertrauten Seelen und für das Heilige trägt“,26 wurde zum neuen Idealbild erhoben. Die Pfarrer wurden zur Residenz verpflichtet, sie mussten ihr Amt persönlich wahrnehmen und konnten sich nicht mehr durch Vikare vertreten lassen. Sie waren zu einem vorbildlichen Leben angehalten und wurden strikt einem Bischof unterstellt: „Daher sollen die Kleriker … ihr ganzes Leben so einrichten, dass sie in Kleidung, Benehmen, Rede und in allem nur Würde, Sittsamkeit und Gottesfurcht zur Schau tragen. Auch kleine Sünden, die an ihnen groß seien, sollen sie meiden, damit ihr Tun allen Achtung einflösse“, wurde etwa in der XXII. Sessio des Konzils von Trient am 17. September 1562 im Dekret über das Messopfer beschlossen.27 Die Thesen Luthers wurden zurückgewiesen und die Sakramentalität der Priesterweihe betont: „Wenn jemand sagt, der Ordo oder die heilige Ordination sei im wirklichen und eigentlichen Sinne kein Sakrament, das von Christus dem Herrn eingesetzt wurde, oder der Ordo sei irgendeine menschliche Erfindung, ausgedacht von in kirchlichen Dingen unerfahrenen Männern, oder er sei nur ein Ritus zur Erwählung der Diener des Wortes Gottes und der Sakramente, gelte das Anathem.“28

Die Rezeption des tridentinischen Priesterideals erwies sich zunächst als schwierig, vor allem, weil sich die Ausbildungssituation der angehenden Kleriker nur langsam verbesserte. Das nachtridentinische Kirchenrecht akzentuierte den character indelebilis, der durch die Weihe einem Priester zukommt, noch stärker und hob hervor, dass sich die Kleriker kraft dessen „als ein bevorzugter Stand von den Laien unterscheiden“. Daher sei es nur natürlich, dass Kirche und weltliche Obrigkeit den Klerus „durch mancherlei Privilegien geehrt“ habe, wie etwa durch das Privilegium canonis – „daß eine jede an einem Cleriker oder Mönche verübte thätliche Beleidigung ipso jure die Excommunication nach sich zieht, von welcher der Injurant die Absolution nicht anders, als dadurch erhalten kann, daß er sich persönlich beim Papste darum bittend einstellt“ –, das Privilegium fori und die persönliche Immunität von allen öffentlichen Lasten oder dem Kriegsdienst, ferner die Steuerfreiheit.29

Nicht nur in Kirchenrecht und Kontroverstheologie, sondern auch in Katechese und Verkündigung wurde nach dem Konzil von Trient das neue Priesterbild zumeist von den Priestern selbst vermittelt. So heißt es etwa im 1566 erstmals herausgegebenen und bis heute immer wieder neu aufgelegten „Catechismus Romanus“: „Zuerst muß daher den Gläubigen dargelegt werden, wie groß der Adel und die Erhabenheit dieses Standes sei, wenn wir nämlich seine höchste Stufe, das ist das Priestertum betrachten. Denn da die … Priester gleichsam Gottes Dolmetscher und Botschafter sind, welche in seinem Namen die Menschen das göttliche Gesetz und die Lebensvorschriften lehren und die Person Gottes selbst auf Erden vertreten: so ist offenbar ihr Amt ein solches, daß man sich kein höheres ausdenken kann, daher sie mit Recht nicht nur Engel sondern auch Götter genannt werden, weil sie des unsterblichen Gottes Kraft und Hoheit bei uns vertreten.“30

Das hohe Priesterideal, das Kirchenrecht, Theologie und Katechismen propagierten, ging mit einem entsprechenden Selbstverständnis der Priester einher, wie Renate Dürr in einer Studie, die Predigten des 17. und 18. Jahrhunderts auswertet, nachgewiesen hat. Immer wieder wurde die Äußerung Franz von Assisis zitiert, er würde „wenn ihm ein Heiliger aus dem Paradies und ein Priester begegnen sollte, zuvor den Priester und dann erst den Heiligen ehren“.31 Und noch häufiger Bernhardin von Siena, der dem Priester eine höhere Würde als der Jungfrau Maria zusprach. „Denn während Maria acht Worte gebraucht habe, um Christus in ihr zu einem Menschen zu wandeln, brauche der Priester nur die fünf Worte: Hoc est enim corpus meum. … Und schließlich habe Maria die Wandlung nur einmal vollzogen, der Priester aber könne, sooft er wolle, und wenn er die Wandlung hundert Mal am Tag vollzöge, Christus vom Himmel herunterholen.“32 Gerne zitierten die Priester auch Clemens Romanus mit der Feststellung, „Was ist ein Priester? ein irrdischer Gott“33. Als „Glückseligkeit“ des Priesters wird dargestellt, wenn er Christus „als einen Gefangenen“ in Händen hält, und über dem Altar den Leib Christi wandelt und opfert: „Oh Heiligkeit der Hände! der mich erschaffen / hat mir gegeben zu erschaffen sich / und der mich erschaffen ohne mich / wird erschaffen durch mich.“34

Im 19. Jahrhundert, nach den Herausforderungen durch Aufklärung und Revolution, erfuhr dieses hohe Prestige des Klerikers eine erneute Steigerung.35 Immer stärker sah man in ihm den in persona Christi Handelnden. „Weil er – und nicht nur der Papst – Stellvertreter Christi qua Amt ist, hat ein Priester Amtscharisma.“36 Er korrespondierte, wie es Olaf Blaschke formuliert, mit den heiligen Mächten über Raum und Zeit hinweg: „Im Priester realisierten und objektivierten sich die göttlichen Kräfte, mit denen er besonders im Ritual eine Identität herstellte, die den Laien verschlossen blieb.“37

 

Ferner wurde immer stärker das „Paradigma des Dualismus“38 propagiert, die Einteilung der Welt in Gut und Böse, die auch die Laien und den Klerus betraf: „Es gab eine scharfe Trennung zwischen den vermeintlich weltzugewandten ‚Fleischlichen‘ und den weltabgewandten ‚Geistlichen‘.“39 Ein Laienpriestertum könne – so das Wetzer-Weltesche Kirchenlexikon von 1884 – „im Ernste von Niemandem behauptet werden“, denn „dogmatisch betrachtet ist die priesterliche Würde die denkbar höchste, eine durchaus eigenartige und wunderbare. Der Priester müsste bei abstracter Betrachtung seiner Würde nothwendig stolz werden.“ Die Laien sind ihm aufgrund seiner priesterlichen Würde „zum Gehorsam verpflichtet“.40

Dieses übersteigerte Priesterideal ist, mit Blick auf Deutschland, zumindest für die Epoche zwischen Säkularisation und Postmoderne festzustellen, die nicht selten als „Zweites konfessionelles Zeitalter“41 charakterisiert wird. Hatte es Entsprechungen in anderen Religionsgemeinschaften, Religionen und Zeiten? Zu untersuchen wäre auch, inwieweit an religiöse Eliten Erwartungen herangetragen wurden, die politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Interessen entsprachen, und wie diese sich auf das Selbstbild der religiösen Funktionsträger auswirkten. Denn die Funktionsträger hatten ein breites Spektrum an Aufgaben zu erfüllen, die sich nur zum Teil den kirchlichen Grundvollzügen Zeugnis, Liturgie und Diakonie zuordnen ließen und auch aus völlig anderen Bereichen stammten. Sie konnten sich beispielsweise primär als Seelsorger sehen, aber auch als Standespersonen in staatlichem oder kirchlichem Auftrag. Entscheidend für das Bild religiöser Eliten ist schließlich dessen Verkörperung, die symbolische Darstellung und Inszenierung von Ämtern, Funktionen und Charisma.42 Hier könnte sich auch der Habitus-Begriff als heuristisch wertvoll erweisen.

Grundlegend für die Erforschung dieser Fragen ist die Verbesserung der Zugänglichkeit der Quellen über sprachliche Barrieren hinweg. Aus „Ego-Dokumenten“ des Klerus wie Autobiografien und Briefe, aber auch aus Pfarrchroniken, Predigt- und Katechesebüchern ließe sich die Frage beantworten, woraus die religiösen Eliten eigentlich ihre Identität gewannen und wie ihre sozialen Bezugsgruppen aussahen. Mit Blick auf den katholischen Klerus wäre es beispielsweise interessant zu wissen, welche Bedeutung der Priesterweihe und dem damit übertragenen Charakter indelebilis oder der täglichen Zelebration der Messe zukam. Zu berücksichtigen sind aber auch ganz andere Identitätskategorien wie Familie, Geschlecht, Generation und soziale Schicht.