Kontakt als erste Wirklichkeit

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1.1 Kritik des »müßigen« und des »isolierten« Selbst

Die Hauptkritik an Anna Freuds Buch »Das Ich und die Abwehrmechanismen«, das grundsätzlich als »verdienstvoller Beitrag« betrachtet wird, ist die Beschreibung des Ich als passiv wahrnehmend, als »müßig« beim Ablauf ungestörter Lebensprozesse. In Anna Freuds Teminologie dringt die Es-Regung in das Ich vor, das nichts gegen sie einzuwenden hat, ihr seine Kraft zur Verfügung stellt und sich darauf beschränkt wahrzunehmen. Dies ist für Perls und Goodman ein falsches Bild des gesunden Zustandes.

Gewahrsein ist nicht müßig; es ist Orientierung, Einschätzung, Sichnähern und Auswählen einer Technik, und es steht überall in funktionellem Wechselspiel mit dem Zugreifen und mit der anschwellenden Erregung des dichter werdenden Kontakts … Die Es-Funktion wird mehr und mehr zur Ich-Funktion, bis zum Kontaktvollzug und zur Befriedigung, also genau das Gegenteil, was Anna Freud behauptet. Gerade unter glücklichen Umständen, wo sich Es und Ich in Harmonie befinden, wird die schöpferische Leistung des Gewahrseins am deutlichsten (a. a. O., 180).

Zum Hintergrund dieser Passage gehört Goodmans Einschätzung, dass Freud für die gestalttherapeutische Theorie vom Selbst mit seiner Arbeit »Hemmung, Symptom und Angst« von 1926 wichtige Hinweise geliefert hat (vgl. Goodman 1945/1989, 77, 86). Freud schreibt dort:

Die Scheidung des Ichs vom Es scheint gerechtfertigt, sie wird uns durch bestimmte Verhältnisse aufgedrängt. Aber andererseits ist das Ich mit dem Es identisch, nur ein besonders differenzierter Anteil desselben. Stellen wir dieses Stück in Gedanken dem Ganzen gegenüber, oder hat sich ein wirklicher Zwiespalt zwischen den beiden ergeben, so wird uns die Schwäche dieses Ich offenbar. Bleibt das Ich aber mit dem Es verbunden, von ihm nicht unterscheidbar, so zeigt sich seine Stärke (Freud 1991, 14).

In »Gestalt-Therapie« wird auf diesen Gedanken Bezug genommen, der das Konzept eines dynamisch differenzierten Ganzen, eines Selbst, das seine Kraft aus dem integrativen Zusammenspiel von Es- und Ich-Funktionen bezieht, ahnen lässt. Die Ich-Funktion kann eine Triebregung als eigene anerkennen, »sie einen Teil des Grundes sein lassen, in dem die nächste Figur sich entwickeln wird. (Dies ist es, was Freud meinte, wenn er davon ausging, daß das Ich Teil des Es sei …)« (Perls et al. 1951/1991, 208).

Neben der »Kritik einer Theorie, bei der das Selbst müßig geht« (a. a. O., 179) wird am Beispiel Paul Federns eine Theorie kritisiert, »die das Selbst in festen Grenzen isoliert« (a. a. O., 182). Im Unterschied zu Anna Freud definiert Federn das Ich als eine mit psychischer Energie besetzte spezifische psychosomatische Einheit, die wesentlich auch so empfunden und gefühlt wird. Für Lemche (1993, 25, 102) ist an diesem Punkt Paul Federn als ein Vorläufer der Selbstpsychologie zu betrachten. Das Problem für Perls und Goodman ist die Isolierung dieser Wahrnehmung in Grenzen. Diese Betonung ist allerdings aus dem Kontext Federns heraus verständlich, der als einer der ersten Psychoanalytiker mit Menschen in psychotischen Zuständen gearbeitet hat. Perls und Goodman:

Wenn das Kontaktsystem wesentlich (und nicht nur manchmal und als strukturelle Besonderheit) die Eigenwahrnehmung der Individualität innerhalb bestimmter Grenzen ist, wie soll es dann möglich sein, mit der Realität außerhalb dieser Grenzen in Kontakt zu treten? … Das System des Gewahrseins muss daher auf irgendeine Weise zu der »äußeren« Realität direkten Kontakt haben; das Gefühl seiner selbst muss über die Eigenwahrnehmung der Individualität hinausgehen. (a. a. O., 183)

1.2 Eine Feldtheorie des Selbst

Die tieferen Ursachen für die Fehleinschätzungen in den Theorien des Ichs sehen Perls und Goodman in vier miteinander verknüpften Punkten: in den philosophischen Spaltungen, die die Trennung von Leib, Seele und Außenwelt begünstigen, in der Furcht der Gesellschaft vor gestaltender Spontaneität, dem historischen Gegensatz von Tiefenpsychologie und allgemeiner Psychologie (v. a. Gestaltpsychologie) und der Trennung der aktiven und passiven Techniken der Psychotherapie (vgl. a.a.O., 186). Die kühne Theorie eines Selbst, das bei gutem Funktionieren weder passiv-müßig noch aktiv-absichtsvoll, sondern im mittleren Modus schöpferisch-kreativ, wie ein Künstler oder Kind, in seinem Werk aufgeht, »sprengt die Trennung zwischen Geist, Körper und Außenwelt« (a. a. O., 184). Das Selbst ist es, das in Kontaktsituationen die sinnvollen Gestalten im Feld mithilfe des Figur/Hintergrund Prozesses bildet und erschafft. Noch deutlicher und die Gestalttherapie mit den neuen Systemtheorien verbindend:

Wir haben gesehen, dass der konkrete Gegenstand jeder biologischen oder soziopsychologischen Forschung immer ein Organismus/Umwelt-Feld ist. Es gibt keine Funktion eines Lebewesens, die anders denn als Funktion eines solchen Feldes zu definieren wäre. (a.a.O., 166)

Die zweite Freud’sche Strukturtheorie (Es, Ich, Über Ich) wird modifiziert. Das prozesshafte Selbst bringt »spezielle Strukturen für spezielle Zwecke« hervor. In »Gestalt-Therapie« werden erst einmal nur drei der möglichen Partialstrukturen besprochen, nämlich das Es, das Ich und die Persönlichkeit, die in anderen Theorien jeweils für die ganze Funktion des Selbst gehalten worden sind (vgl. a. a. O., 172). Bevor ich hierauf eingehe, ist es nötig, einen weiteren Revisionspunkt anzusprechen, der eng mit der neuen Sicht des Selbst verbunden ist.

2. Die Einheit von Primär- und Sekundärprozess

Freud unterscheidet zwei »Denkvorgänge« bzw. »Funktionsweisen des psychischen Apparates«. In seinem Buch »Traumdeutung« (1993, Kapitel VII, E.) definiert er die Traumtätigkeit, die er dem Unbewussten und der Seelenfunktion der frühen Lebensjahre zuordnet, als »Primärvorgang«. Es handelt sich um das freie Abströmen von Energie und Erregung, um andere Gesetzmäßigkeiten als in der Welt des Verstandes, es geht nach Freud um die Herstellung einer »Wahrnehmungsidentität«. Der sich später »durch die Not des Lebens« (Freud) herausbildende, die Energie bindende, den Lust wollenden Primärprozess überlagernde und hemmende Sekundärprozess wird vom Realitätsprinzip und von Denkvorgängen (»vorbewusst und bewusst«) bestimmt. Er bildet sozusagen das reife und erwachsene Gegenteil des infantilen Primärprozesses und strebt nach einer »Denkidentität«. So war für Freud nur der unbewusst-primärprozesshafte Traum »eine Welt, die nicht von festgelegten Wesen, sondern von plastischen Handlungen geprägt war und dadurch kreativen Prozessen entsprach …« (Perls et al. 1951/1991, 57).

Perls und Goodman bestimmen das Verhältnis von Primär- und Sekundärvorgang anders und schreiben den frühkindlichen Wahrnehmungsprozessen eine Ganzheitlichkeit und integrative Kraft zu, wie sie mittlerweile auch durch die moderne Säuglingsforschung vertreten wird (vgl. Dornes 1993).

Wir würden sagen, der Primärvorgang – eine Einheit von Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Gefühlsfunktionen, bei der man besser nicht von »Denken« sprechen sollte – erschafft eine Realität; der Sekundärvorgang, der von dieser Einheit abstrahiert, ist Denken, das die Realität widerspiegelt … Der Primärvorgang, der eine Einheit der Wahrnehmungsrealität herstellt, ist die spontane Kontaktaufnahme; er wird jedoch von Freud ausschließlich mit den Traumvorgängen gleichgesetzt. Kunst, Lernen, Sicherinnern und Aufwachsen werden vom Primärvorgang radikal geschieden … Was brachte Freud dazu, sich eine solche Überlagerung des Primären durch das Sekundäre vorzustellen, statt ihrer gesunden Einheit in einem System zugänglicher Erinnerungen? (Perls et al. 1951/1991, 237 f.).

Ein Grund liegt darin, dass Freud glaubte, dass die soziale Außenwelt, die den Primärvorgang hemmt und den Sekundärvorgang auslöst, unveränderlich sei, dass Kultur (die »Realität«) also unabänderlich Triebunterdrückung bedeutet und dass das kulturangepasste »Reife« das kindlich »Infantile« notwendig kontrollieren und verdrängen müsste (a. a. O., 58). Ein anderer Grund ist, dass Freud eine rein verbale Therapiepraxis betrieb.

Ergebnis seiner Therapiepraxis war daher, dass er das dynamische, spontane »Denken«, das er beobachtete, weder mit der Umwelt noch mit dem Körper verbinden konnte; also steckte er eine eigene Sphäre dafür ab, die des »Unbewussten« (a. a. O., 239).

Eine Stelle aus der »Traumdeutung« in Bezug auf den primären Denkvorgang (Freuds Traumpsychologie gilt den Autoren als »unsterbliche Einsicht« a. a. O., 57) gibt allerdings Anlass, in Freud doch noch einen heimlichen Bundesgenossen zu sehen.

Einige andere Beobachtungen kommen hinzu, die Auffassung zu stützen, dass diese inkorrekt genannten Vorgänge nicht wirklich Fälschungen der normalen ›Denkfehler‹ sind, sondern die von einer Hemmung befreite Arbeitsweise des psychischen Apparats (Freud in Perls et al. a. a. O., 57, Freud 1993, 592).

Auf der Basis dieses Gedankens wird eine liebevoll-schelmische Freud-Deutung vorgenommen:

Die Traumvorgänge sind überhaupt nicht inkorrekt, sie sind der Zugang zur Realität; stattdessen bin ich es, in der Lebenshöhe, der die Realität verloren hat. Und weil er dies sagen will, dreht sich das ganze System der Freudschen Psychoanalyse um das »Infantile« – und das zu Recht, denn vor allem in der Kindheit fand ein ungehemmter Prozess statt, der eine Realität schuf, die nicht nur Traum war. Inkorrekt war der Gedanke, dass sich später eine neue gesunde Einheit ausbilde, der Sekundärvorgang, denn eben dies war die epidemische Neurose (Perls et al. a. a. O., 239).

3. Kind und Künstler

Mit dem Versuch, die Spaltung von Primär- und Sekundärvorgang aufzuheben, geht eine im Unterschied zur orthodoxen Psychoanalyse positivere Einstellung zum künstlerischen Schaffen und zur Kindheit einher. Künstler und Kunstschaffen, Kinder und das kindliche Spiel werden von Perls und Goodman oft als Beispiele gesunder Lebensprozesse und funktionierender Integration angeführt. (Für Lore Perls waren auch die Grundkonzepte der Gestalttherapie philosophisch-ästhetischer Natur, und ihre Praxis eher Kunst als geplante Wissenschaft.) Es liegt nahe, dass Lore Perls mit ihrer praktizierenden Verbindung zur klassischen Musik, zum Ausdruckstanz und zur Literatur, Fritz Perls mit seinen Berliner Kontakten zum Max Reinhard Theater, zum Bauhaus und zum Expressionismus und der Schriftsteller Paul Goodman künstlerisches Schaffen nicht als »Triebschicksal« und »Ersatzhandlung« betrachteten, sondern als Ausdruck eines schöpferischen Gestaltungsdranges (vgl. auch L. Perls 1989, 33 f.). Otto Rank, dessen Werk insbesondere über Goodman Einfluss auf die Gestalttherapie gewonnen hat, sieht dies in seinem Buch »Art and the Artist« von 1932 ähnlich und gehört damit, innerhalb der analytisch orientierten Literatur, zu den wenigen Ausnahmen (vgl. B. Müller 1989).

 

In »Gestalt-Therapie« kritisieren die Autoren Karen Horney und bemängeln, dass Horney der Aufarbeitung der Kindheit in der Therapie einen zu geringen Platz einräumt. Sie nehmen Bezug auf Ernest G. Schachtel, einen ehemaligen Mitarbeiter von Erich Fromm und der Frankfurter Schule, den Wyss (1991, 224 f.) den Neo-Analytikern zuordnet. Schachtel hat sich kritisch mit Freuds Affekttheorie auseinandergesetzt, anscheinend eine Art Kleinkindforschung betrieben und die Wahrnehmung ebenfalls als einen schöpferischen Prozess aufgefasst. Perls und Goodman argumentieren gegen Horney:

Die kindlichen Gefühle sind von Bedeutung nicht als etwas Vergangenes, dessen man sich entledigen müsste, sondern als einige der schönsten Kräfte im Leben des Erwachsenen, die wiederhergestellt werden müssen: Spontaneität, Fantasie, Unmittelbarkeit im Gewahrsein und im Zugriff auf die Umwelt. Notwendig ist es, wie Schachtel gesagt hat, die kindliche Welterfahrung wiederherzustellen, das heißt, nicht die faktische Biographie herauszuarbeiten, sondern den »Primärvorgang des Denkens«.(Perls et al. 1951/1991, 85)

Es geht um die

wunderbare Erfahrung ästhetisch-erotischer Versunkenheit, wo das spontane Gewahrsein und die Muskulatur die Umwelt in sich aufnehmen und in ihr wie selbstvergessen tanzend aufgehen, in Wahrheit aber voller Gefühl für die tieferen Anteile des Selbst sind, die der höheren Bedeutung der Sache entsprechen (a. a. O., 45). Speziell für die Psychotherapie: Habituelle Vorbedächtigkeit, Faktengläubigkeit, Interessenlosigkeit und übermäßiges Verantwortungsbewusstsein sind neurotisch; Spontaneität, Fantasie, Ernst und Verspieltheit, direkter Ausdruck von Gefühlen – diese Merkmale von Kindern sind dagegen gesund. (a. a. O., 94)

Vieles von diesen Gedanken, auch in Abgrenzung zu Freud, lässt sich bei Georg Groddeck finden, dem das Es für eine übergeordnete schöpferische Einheit stand und der im Leben wie im Denken ein ebenso eigensinniger und unkonventioneller Mensch war wie Perls und Goodman (vgl. Will 1987, Danzer 1992).

4. Das Selbst als Erfahrungsbegriff

Hier soll es um die verschiedentlich behauptete Unvereinbarkeit zwischen dem gestalttherapeutischen Konzept des Prozess-Selbst, das einseitig Goodman zugeschrieben wird, und dem Fritz Perls zugeschriebenen Konzept des Selbst als einer einheitlichen und abgegrenzten Struktur gehen.

In der gestalttherapeutischen Theorie des Selbst, die das Selbst als Prozess, als ständigen Fluss der in Selbstregulation entstehenden und vergehenden Figur-Hintergrundbildungen definiert, gibt es keine Teilung des Menschen in Substanzen im Sinne der Freud’schen Strukturtheorie. Die gestalttherapeutische Selbst-Theorie ähnelt hier der Sichtweise des Buddhismus, insbesondere des Zen-Buddhismus, der nicht nur auf die Gestaltgründer, sondern auch auf Karen Horney und Erich Fromm starken Einfluss ausgeübt hat (vgl. Bocian 1988, Frech 1995). Das Selbst bringt Funktionen und Teilstrukturen hervor, die, sich gegenseitig ergänzend und unterstützend, im Kontaktprozess ineinander übergehen. In gewisser Weise greifen Perls und Goodman den dynamischen Aspekt der von Freud in »Das Ich und das Es« 1923 vorgelegten Strukturlehre (zweites topisches Modell) auf. Freud hatte die Instanzen Es, Ich und Über-Ich als eine entwicklungspsychologische Differenzierung innerhalb des »psychischen Apparates« beschrieben und sah sie nur unscharf voneinander getrennt ineinander überfließen und sich überschneiden. Fürs erste arbeiten Perls und Goodman mit den Begriffen Es, Ich und Persönlichkeit. Der letzte Begriff ist ein Synonym für Identität. Ein Über-Ich als substanzielle Einheit wird von der Gestalttherapie nicht akzeptiert. Die gesellschaftliche Moral, die sich im Individuum einnistet, und die soziale Repression, die sich in Selbstunterdrückung oder Selbstkolonialisierung (wie Goodman sich ausdrückt) umwandelt, kommen in Form von Introjekten vor. Diese bringen die flexible Identifizierungs-/Abgrenzungsfunktion des Ichs zum Erstarren und produzieren Charakter, vorhersagbare Gewohnheiten. In der Frage des Über-Ichs, die hier als Machtfrage betrachtet wird, folgt die Gestalttherapie Wilhelm Reichs Intention, die versucht, die Moral zur Selbstbeherrschung und die moralischen Instanzen, die die Interessen von Staat, Moralphilosophie und Religion vertreten, durch eine »Selbststeuerung des Handelns« (Reich 1929/1983, 180) zu ersetzen. Reich und Perls/Goodman setzen hiermit auch die Arbeit von Otto Gross fort, der eine Anti-Introjektionstheorie gegen die Macht des/seines Vaters und der Gesellschaft skizziert hat und dem es um die Eigensinn fördernde Lösung des inneren wie äußeren Konfliktes zwischen dem »Eigenen und dem Fremden« ging (vgl. B. Nitzschke 1985, 213 f.). Zudem liegt diese den Eigenwillen betonende Haltung auf der Linie von Otto Ranks therapeutischem Ansatz.

In Momenten, in denen ich mich im Tanz mit den Gegebenheiten befinde, im Spiel, beim künstlerischen Schaffen, beim Liebe machen etwa erlebe, oder besser bin ich das, was in der Theorie vom Selbst beschrieben wird. In vielen Alltagssituationen, und gerade in der Therapie, geht es aber um das Erleben und Erleiden von Spaltungen und Abtrennungen. Dann erlebe ich als meine Existenzweise, was in der Selbst-Theorie lediglich als eine »Abstraktion« aus dem Gesamtfeld bezeichnet wird, etwa ein separiertes Ich, das an seiner Abgetrenntheit wie an seiner Zerrissenheit leidet. Aber »diese Abstraktionen sind plausibel, vielleicht unausweichlich, ausgenommen in Augenblicken tiefer Versunkenheit« (Goodman 1992, 21).

Perls und Goodman haben meiner Ansicht nach das Selbst dialektisch sowohl als Prozess wie auch als einheitliche Struktur, als Gestalt, aufgefasst.

4.1 Perls – Das integrierte Selbst

Die holistische Theorie von Jan Smuts, neben Friedlaender/Mynona der wichtigste direkte philosophische Einfluss auf F. Perls, enthält die metatheoretische Grundlage für die gesamte Theorie des Selbst (Ganzheit, Assimilation, Wachstum, das Schöpferische, die systemische Vernetzung etc.). Perls hat Zeit seines Lebens die holistisch/feldtheoretische Position beibehalten und auf der Grundlage der mit Goodman konzipierten Theorie des Selbst gearbeitet In keinem seiner Bücher unterlässt er es, auf diese feldtheoretischen Grundlagen hinzuweisen. In seinem letzten Buch (ich will mich auf den späten Perls beziehen, weil hier meist die Kritiken ansetzen) betont er:

Kein Individuum ist sich selbst genug; das Individuum kann nur in einem umgebenden Feld leben. Das Individuum ist in jedem Augenblick Teil eines Feldes. Sein Verhalten ist eine Funktion des ganzen Feldes, das ihn und seine Umwelt einschließt (F. Perls 1979, 34).

Als Dialektiker (und das sind manche Kritiker anscheinend oft nicht) sieht er aber, dass auch eine ausschließlich systemische Sichtweise nur eine Abstraktion darstellt.

Unser Ansatz, der das menschliche Wesen gleichzeitig und von Natur aus als Individuum und als Mitglied der Gruppe sieht, gibt uns eine breitere Operationsbasis (a. a. O., 70). … Tatsächlich ist die ganze Organismus/Umwelt Relation eine dialektisch differenzierte Einheit. Sie ist biologisch differenziert als Organismus und Umwelt, psychologisch als das Selbst und die anderen, moralisch als Selbstsucht und Altruismus, wissenschaftlich als Subjekt und Objekt usw. (a. a. O., 40).

Als Therapeut, also im Rahmen der psychologischen Dimension des Feldes, wusste Perls um die Spaltungen und Zerissenheiten des leidenden Einzelmenschen, um die unterentwickelte Selbstkohärenz und die Brüche im Kernselbstempfinden, wie moderne Psychoanalytiker das heute ausdrücken. In der Therapie geht es Perls um Fragen der Selbsterfahrung, um das Selbst als Erfahrungsbegriff. Peter Passett (1983) hat in Bezug auf die Kritik an Kohut, dass dieser den Rahmen der psychoanalytischen Theorie verlassen würde, argumentiert, dass zwischen Metapsychologie und Therapie differenziert werden muss. Freuds Strukturtheorie der Psyche bewege sich teilweise auf hohem Abstraktionsniveau. Demgegenüber habe Kohut das Selbst vor allem als »erfahrungsnahe psychische Konstellation gefasst, die näher bei dem liegt, was man in der Alltagssprache mit dem Wort ›ich‹ meint« (a. a. O., 173). Das gilt an dieser Stelle auch für Perls, dem es meiner Ansicht nach in der Praxis um das tiefe Erleben des »Ich selbst« geht.15 Es geht ihm um Integration, um die größtmögliche Wiederherstellung der Ganzheit und er will »Lücken in der Persönlichkeit ausfüllen« (Perls 1969/1986, 11). Vor dem Hintergrund der nicht erst durch Fritz Nietzsche für die europäische Kultur konstatierten fundamentalen Spaltung zwischen Körper und Geist sieht er die Ich-Grenze mitten durch die Person verlaufen und Dr. Jekyll von Mr. Hyde trennen (vgl. F. Perls 1980, 161). Perls benutzt in diesem Zusammenhang für den vernachlässigten sinnlich-animalischen Pol, auf den er sein Augenmerk richtet, Formulierungen und Begriffe wie »das Alphabet des sich Selbst Fühlens« (1942/1991, 198), biologisches und natürliches Selbst, »spontanes Selbst« (a. a. O., 245). Er spricht von einem »intra-organismischen Feld« (a. a. O., 255) und seine therapeutische Arbeit »zielt auf eine Synthese ab, auf Integration – die Wiederherstellung des Kontaktes zwischen den isolierten Teilen (der) Persönlichkeit« (a. a. O., 80). Aus der Sicht der Diskussion um die sogenannten strukturellen Störungen ist diese Formulierung von 1942 erstaunlich modern (vgl. H. Beaumont 1987a, 45 f.). In Abwandlung des bekannten Freud’schen Gedankens, dass aus Es Ich werden soll, müsste es bei Perls ganzheitlich-integrativ heißen: Es und Ich sollen Selbst werden.