Kultur- und Literaturwissenschaften

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2.2.5 Zusammenfassung

In dieser Lerneinheit haben wir gesehen, dass

 das Konzept von Transdifferenz die Binarität von Eigenem und Fremden überwindet und die Dynamik der Wissensorganisation zu fassen in der Lage ist;

 Wissensaneignung immer auch eine Auseinandersetzung mit dem temporären Fremden ist und damit das gesamte Wissenssystem in Bewegung gerät, dennoch frühere Bestände aktivierbar bleiben;

 Fremdheit eine Konstruktion und somit relational ist, je nachdem welcher Zugriff auf Wirklichkeit (also welche Perspektive) gewählt wird;

 kognitive Schemata und Modelle veränderbar sind und alternative Schemata wirksam oder entwickelt werden, wenn mentale Aufgaben durch bestehende Schemata nicht lösbar sind;

 durch die Verarbeitung literarischer Texte mittels Hypertexten kulturspezifische Perspektiven auf eine Geschichte sichtbar gemacht und interkulturelle Reflexionen angeregt werden können;

 durch unterschiedliche mediale Textgattungen Erweiterungen in den Wissensbeständen hergestellt werden, die (sprach- und kulturübergreifend) zu Transdifferenz führen.

2.2.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle

1 Was unterscheidet das Konzept der Transdifferenz von bisherigen Kulturauffassungen?

2 Wie hat sich das Konzept der Transdifferenz entwickelt?

3 Wie verläuft der Prozess der Veränderung von mentalen Modellen?

4 Welche Rolle spielen literarische Texte bei der Rekonstruktion von Wissensbeständen?

5 Inwiefern sind Textgattungen der elektronischen Medien geeignet, um unterschiedliche Perspektiven darzustellen?

2.3 Lingua Franca als Instrument in Wissenskulturen und Wissenschaftssprachen

Jörg Roche

Alle Welt redet von Globalisierung. Und sie tut es meist auf Englisch. Mit dem Versuch, größere Teile unserer Welt wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch und wissenschaftlich zusammenzubringen, korrespondiert auf sprachlicher Ebene das Streben nach einer globalen Lingua Franca. Eine solche Lingua Franca kann mehr oder weniger künstlich geschaffen, wie das Esperanto oder das Volapük, oder von einer existierenden Sprache abgeleitet sein. In beiden Fällen lehnt sich die Lingua Franca jedoch an kulturell geprägte sprachliche Systeme an, mehr oder weniger explizit und bewusst, und perpetuiert diese durch die existierenden Strukturen und sprachlichen Standardisierungsverfahren. Die Erforschung der Lingua Franca Englisch zeigt jedoch, dass die kulturspezifischen Bezüge eine wesentlich größere sprachliche Variation produzieren, als weit verbreitet angenommen wird. Daher empfiehlt es sich auch hier, den Plural Englishes zu verwenden. In dieser Lerneinheit sollen diese Variationsaspekte in der internationalen Kommunikationskultur daher vor allem aus zwei Perspektiven thematisiert werden. Den beiden Perspektiven liegt dabei ein Konzept zugrunde, das weit verbreitet (auch in der anglophonen Welt) den von Humboldt geprägten Begriff der Weltsicht trägt. Zum einen geht es um kulturelle Geprägtheit der Sprache und des Denkens, zum anderen um disziplinäre. Damit soll gezeigt werden, dass das Prinzip der kulturellen Geprägtheit konstitutiv für das Funktionieren einer Lingua Franca ist, dass es gerade dort in verschiedenen Schattierungen seine Mechanismen besonders deutlich werden lässt.

Diese Lerneinheit basiert teilweise auf Roche, Jörg (2007), Wissenskulturen und Wissenschaftssprachen – Zur Kommunikationskultur in einer pluralistischen Wissensgesellschaft. In: Rieger, Caroline; Plews, John; Lorey, Christoph (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht/lntercultural Literacies and German in the Classroom. München: ludicium, 279-298.

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

 verstehen, wie sehr sich kulturelle Aspekte in der Sprache abbilden, in einer Nationalsprache genauso wie in einer Fachsprache;

 wissen, wie variantenreich und heterogen eine Lingua Franca wirklich ist und woher diese Variation kommt;

 reflektieren, wie Sprache und Denken sich gegenseitig bedingen;

 erklären können, wie und warum automatische Übersetzungsmaschinen immer versagen;

 begründen können, warum fachliche Kommunikation gegenüber kulturspezifischen Einflüssen nicht immun ist;

 beschreiben können, dass Wissenschaft ohne Sprache nicht existieren kann;

 warum eine Lingua Franca dennoch eine Gefahr für die Bildungs- und Allgemeinsprache sein kann.

2.3.1 Lingua Franca

Es ist einer der am weitesten verbreiteten Mythen, dass Sprache eine Eins-zu-eins-Abbildung der Sachverhalte darstelle und nicht zwischen die Sachen und das Denken zu treten habe, quasi transparent wie Glas sein müsse. Wenn man sich die mangelnde Sensibilisierung bezüglich Sprachenbewusstheit in der weiten Öffentlichkeit der Gesellschaften und in den gebildeten Kreisen der Wissenschaftsgemeinschaften ansieht, dann kann man das Ausmaß eines großen Dilemmas erahnen. Savory (1967) gibt dieser reduktionistischen Auffassung in einem Motto Ausdruck, das seinem Buch The Language of Science vorangestellt ist, indem er behauptet: “There can be no doubt that science is in many ways the natural enemy of language”. Wenn diese Position auch besonders typisch für die Naturwissenschaften sein mag, so ist sie doch nicht die einzige. Die folgende von Heisenberg (1965 [1959]) formulierte Aussage differenziert wesentlich genauer:

[D]ie existierenden wissenschaftlichen Begriffe passen jeweils nur zu einem sehr begrenzten Teil der Wirklichkeit, und der andere Teil, der noch nicht verstanden ist, bleibt unendlich. (Heisenberg 1965 [1959]: 169f)

Worin drückt sich das mangelnde Sprachbewusstsein der Öffentlichkeit im Allgemeinen und der Wissenschaft im Besonderen aus und welche Auswirkungen hat es? Es ist zum Beispiel erkennbar in der äußerst sparsamen Bereitschaft von Wirtschaftsunternehmen, in funktional und kulturell adäquate Übersetzungen zu investieren. Es zeigt sich aber auch in anglisierten Studiengängen in nicht-englischsprachigen Ländern und in anglisierten Publikationsorganen, in denen eine Veröffentlichung auf Englisch gar nicht plausibel erscheint (zum Beispiel in der Germanistik). Was sind die Folgen dieses linguistischen Imperialismus?

Sie werden häufig zwar sehr schmerzhaft erlebt, aber nur selten auf die kommunikativen Ursachen zurückgeführt. Um die Reichweite zu ermessen, könnte man durchaus an die Bereiche der Politik und Gesellschaft denken. Politische und gesellschaftliche Konflikte entstehen zum Beispiel durch kommunikative Konflikte, und verhängnisvolle Entscheidungen für die Menschheit können aus mangelnder kultureller Sensibilität resultieren. Stellvertretend sei hier nur an die Entscheidung des Europäischen Patentamtes in München vom Dezember 1999 erinnert, mit der ein Verfahren der Universität Edinburgh zur genetischen Veränderung von Stammzellen von Säugetieren geschützt wird. Dieses Verfahren schließt potenziell verheerende menschliche Genexperimente wie das Klonen von Menschen mit ein, und zwar unbeabsichtigter Weise. Man übersah, dass der englische Begriff animal im Gegensatz zum Deutschen ‚Tier‘ oder ‚tierisch‘ nicht zwischen ‚human‘ beziehungsweise ‚non-human‘ unterscheidet. Nur wenn man glaubt, dass es die besagte Eins-zu-eins-Abbildung der Wirklichkeit gibt, kann man nämlich annehmen, dass die entsprechende Übertragung in eine andere Sprache ein einfacher mechanischer Vorgang per Wörterbuch sein kann. Dann würde es auch keine Rolle spielen, in welcher Sprache man veröffentlicht.

Die Problematik soll im Folgenden zunächst an einem alltagssprachlichen Text illustriert werden, einem Text, der nicht nur kulturelle Feinheiten thematisiert, die meist weder expliziert noch bewusst wahrgenommen werden, sondern einem Text, der auch die Problematik der sprachlichen Codierung und Variation auf mehreren Ebenen artikuliert und illustriert. Es handelt sich hier gattungsmäßig um eine (Kanadiern sehr vertraute) Bierwerbung im Fernsehen. Sie nutzt die in Kanada ständig präsente Abneigung und Zurückhaltung gegenüber dem großen Nachbarn im Süden als Mittel der Identitätskonstitution der anvisierten Kundschaft. Die kurze Präsentation fasst exemplarisch und in äußerst subtiler Protestform den Nationalcharakter englischsprachiger Kanadier zusammen, wie er sich im Kontrast zu den Bewohnern der USA definiert.

Kanadische Bierwerbung „I Am Canadian
[Online unter https://www.youtube.com/watch?v=WMxGVfk09IU. 07. Dezember 2017].

Zur Situation: ein schüchtern wirkender junger Mann tritt auf die Bühne, fast zufällig, wie es scheint. Er geht zum Mikrofon, das in der Mitte einer weiten Bühne steht, und beginnt zu sprechen. Auf der Leinwand hinter ihm werden jeweils Bilder eingeblendet. Er redet mit zunehmender Emphase und Ekstase.

Hey ... I'm not a lumberjack, or a fur trader ...

and I don't live in an igloo or eat blubber,

or own a dogsled ...

and I don't know Jimmy, Sally or Suzy from Canada,

although I'm certain they're really, really nice.

I have a Prime Minister, not a President.

I speak English and French, NOT American.

 

and I pronounce it ‘about’, NOT ‘a boot’.

I can proudly sew my country’s flag on my backpack.

I believe in peace keeping, NOT policing, diversity, NOT assimilation,

AND THAT THE BEAVER IS A TRULY PROUD AND NOBLE ANIMAL.

A TOQUE IS A HAT,

A CHESTERFIELD IS A COUCH,

AND IT IS PRONOUNCED ‘ZED’ NOT ‘ZEE’, ‘ZED’!!

CANADA IS THE SECOND LARGEST LANDMASS!

THE FIRST NATION OF HOCKEY!

AND THE BEST PART OF NORTH AMERICA!

MY NAME IS JOE!! AND I AM CANADIAN!!!

Je nachdem, wie gut Sie die kanadischen Verhältnisse kennen, werden Sie in diesem Text beziehungsweise Film einige Überraschungen erleben: zum Beispiel Widersprüche zu eigenen StereotypeStereotypen (HeterostereotypHeterostereotypen über eine andere Kultur) und gelegentlich auch Unverständnis wegen mangelnden landeskundlichen Wissens. Schließlich sind nicht alle Kanadier Holzhacker, Pelzhändler oder Iglubesitzer. Auch die Schüchternheit des Sprechers einerseits und seine Ekstase und Aggression andererseits haben Sie vielleicht irritiert. Das zurückhaltende, oft entschuldigende Verhalten der Kanadier gilt aber unter Kanadiern selbst als prototypisches Merkmal kanadischer Kultur, als AutostereotypAutostereotyp. Um dieses zu durchbrechen, bedarf es eines massiven Anlasses, zum Beispiel der langfristigen Akkumulation von Frustrationen.

Die Art der sprachlichen Variation im Englischen, die hier in symbolischer Weise erkennbar wird, findet sich aber ähnlich in unzähligen Begriffen und sprachlichen Strukturen der Alltagssprache. Diese Beobachtung aber lässt Zweifel daran entstehen, dass es sich bei dem Englischen um eine einheitliche oder monolithische Varietät handeln könnte, wie sie sowohl in den Positionen der Befürworter und der Gegner der Lingua Franca Englisch verbreitet postuliert wird. Erst die jüngere Diskussion der Begrifflichkeit für die Lingua Franca Englisch reflektiert das wachsende Bewusstsein um das breitere Variationsspektrum der Lingua FrancaLingua Franca Englisch (vergleiche Erling 2005). Das Verhältnis des core English, und was dazu gehört, zu den internationalen Varietäten drückt sich unter anderem in den Bezeichnungen international, global, general oder literate English aus. Kritische Aspekte der Bezeichnung sind dabei neben der Varianz in der Regionalität der englischen Sprache (US-, Britisches, Kanadisches, Australisches Englisch etc.) die ownership der internationalen Nutzer, die ihrerseits stark von dem politischen Status des Englischen in einer Gesellschaft mit Englisch als zweiter offizieller Landessprache, der Medialität (literate English, Wallace 2002), dem Fachgebiet sowie dem Spezialisierungsgrad und damit auch den Korrektheitsnormen abhängig ist.

Hier findet man alles: vom Grammatikfehler (auf meinem backpack) über ungewöhnliche Orthografie (zum Beispiel Kleinschreibung), die Nicht-Erkennung von Konstituenten (Wichtigsten Ministeren), fehlgeleitete Inferenzen (Sally = Sales = ‚Verkauf‘), innovative Konnotationen (Frieden Behalten) und lexikalische Begriffe, direkte Übertragungen von Kategorien (Landmass, Erste Nation) bis hin zur Übersetzungsverweigerung zahlreicher Begriffe (chesterfield, dogsled, lumberjack etc.). Man braucht dabei gar nicht auf alle Einzelheiten einzugehen. In diesem Text gibt es insgesamt vielleicht mehr falsche als korrekte Elemente. Von effizienter Kommunikation kann dabei kaum die Rede sein, es sei denn der Zweck der Übersetzung wäre die Erzeugung von Komik oder die Illustration einer linguistischen Fragestellung. Auch wenn dieses Beispiel übertrieben erscheinen mag, so kann man angesichts vieler Aufbauanleitungen, Fehlübersetzungen und schlechter Vorträge davon ausgehen, dass das hier illustrierte, authentische (wenn auch maschinell unterstützte) Verfahren weder in der Alltagskommunikation noch in der Wissenschaftskommunikation gänzlich ungewöhnlich ist. So wie in dieser rudimentären maschinellen Übersetzung bedeutet auch Lingua Franca häufig schlechte Übersetzung, Rudimentärsprache oder Kauderwelsch.

Für eine Lingua Franca wie das Englische gibt es dennoch bekanntlich eine ganze Reihe quantitativer und qualitativer Gründe: Es besteht ein Bedarf an internationalen Kommunikationsmitteln, die Anzahl und geografische Verteilung der anglophonen Erst- und Zweitsprachensprecher ist signifikant (nach Ethnologue circa 372 Millionen L1-Sprecher und -Sprecherinnen, circa 611 Millionen L2-Sprecher und -Sprecherinnen [Online unter https://www.ethnologue.com/language/eng. 7. Dezember 2017]), anglophone Länder stellen eine enorme Wirtschaftsmacht dar und haben einen enormen politischen Einfluss und ein großes Innovationspotenzial. Aber Einiges lässt sich mit rationalen Mitteln weniger gut erfassen, ist daher eher dem Bereich der Emotionalität zuzuschreiben. So entstehen bei der Anlehnung an das Englische auch ganz bizarre Dinge, die mit Kommunikationseffizienz nicht unbedingt etwas zu tun haben. Die zahlreichen Verdrängungen etablierter und hinreichend scharfer Begriffe aus der deutschen Alltags- und Fachsprache durch gleichwertige oder gar weniger spezifische sind hier beispielhaft zu nennen (zum Beispiel by-pass statt ‚Umgehungsstraße‘, City Management statt ‚Stadtverwaltung‘ oder DB Cargo statt ‚Fracht‘ oder ‚Gütertransport‘). Immerhin lassen sich natürlich einige solcher mit der Exotik des Fremden behafteten Bezeichnungen durch politische oder wirtschaftliche Marketinginteressen motivieren, entbehren also nicht ganz einer gewissen Rationalität, und wieder andere, wie etwa Start beziehungsweise starten, erfahren im Deutschen eine deutliche Bedeutungserweiterung (hier etwa in einen Tag starten, ein Flugzeug startet, einen Wettkampf starten). Wie stark die Anziehungskraft des Englischen ist, zeigt sich vor allem auch an der Akzeptanz von Fehlübersetzungen (zum Beispiel Administration statt ‚Regierung‘ für Englisch administration). Selbst die sogenannten ScheinentlehnungScheinentlehnungen gehören dazu. Hier handelt es sich um eine zunehmende Anzahl von NeologismenNeologismus, die nach nur scheinbar existierenden Mustern im Englischen gebildet werden, auch wenn diese für (Englisch-)Muttersprachler und -sprachlerinnen unverständlich oder komisch wirken, wie zum Beispiel Aircondition statt korrekt air conditioning (AC), Handy statt cell (phone) oder Servicepoint (Deutsche Bahn) statt customer service.

Dass die Kritik an derartigen modischen Übernahmen und pseudo-englischen Kreationen nicht nur in Bezug auf die fehlende Korrektheit, sondern auch in Bezug auf die vermeintliche Wirksamkeit dieser Begriffe berechtigt ist, hat unter anderem eine im Jahre 2005 durchgeführte Befragung deutscher Kunden zu einschlägigen Werbeslogans ergeben, über die die überregionale Presse berichtete. Dabei stellte sich heraus, dass die überwältigende Mehrheit der potenziellen deutschen Kunden englische Werbeslogans, die nach hypothetisierten Attraktivitätskriterien gebildet oder aus dem Englischen entliehen wurden, in Wirklichkeit völlig falsch verstand. So meinte die Mehrheit der Befragten, die Einladung einer deutschen Drogeriekette come in and find out bedeute, die Kunden sollten den Weg hinein und dann wieder aus dem Geschäft herausfinden, ähnlich der in Deutschland populären Labyrinthe in Maisfeldern. Der Slogan einer deutschen Autofirma powered by emotion wurde gar als Kraft durch Freude interpretiert, was technisch gesehen auch gar nicht so falsch wäre, wenn der Begriff nicht historisch so stark belastet wäre, und zwar zur Bezeichnung eines Propaganda-Instruments der Nationalsozialisten (Freizeitwerk im Dritten Reich). In vielen Fällen, bedeutet Lingua Franca möglicherweise eine Veränderung der eigenen Sprache, von der Diversifizierung und Mehrsprachigkeit bis hin zu Reduktion, Ersatz, Verarmung und Fehlverstehen.

2.3.2 Wissensstrukturen – Denkstrukturen – Sprachstrukturen

Spätestens seit Wilhelm von Humboldt sind die kulturelle Bedingtheit von Sprache und die sprachliche Bedingtheit von Kultur Fixpunkte geisteswissenschaftlichen Arbeitens (vergleiche dazu auch die Lerneinheit 1.1 in diesem Band). Häufig wird jedoch verkannt, wie weit diese dialektische Interdependenz reicht. Man kann sie an dem Bereich der Jurisprudenz gut illustrieren. Angesichts der zunehmenden Anzahl internationaler Organisationen und angesichts internationaler Einrichtungen der Rechtsprechung (zum Beispiel der Internationale Gerichtshof in Den Haag) könnte man ja geneigt sein, anzunehmen, dass sich der Bereich des Rechts international gut normieren ließe. Dennoch trifft diese leichtfertige Annahme so nicht zu. Da das Recht eine formalisierte Erfassung von Beziehungen darstellt, Beziehungen der Menschen untereinander, Beziehungen der Menschen zu Sachen und Beziehungen der Menschen zum Staat, ergibt sich ein entsprechend großes individualistisches und kulturspezifisches Potenzial der Rechtsregelung und -auslegung. Demnach lassen sich allein in Westeuropa oder im föderalen Kanada signifikante Unterschiede in der Rechtskonzeption beobachten: auf der einen Seite der auf der römischen Rechtsauffassung basierende Typ der prozessualen Dominanz, wie er sich etwa im Common Law Großbritanniens und Irlands wiederfindet, auf der anderen Seite der Typ subjektiv-rechtlicher Dominanz, wie er im zeitgenössischen deutschen oder französischen Recht realisiert ist. Auf diesen konzeptuellen Grundlagen basiert konsequenterweise das gesamte Denken des Rechts und seine Sprache. Hierzu gehören ebenfalls gänzlich unterschiedliche Auffassungen zur Ausbildung der Juristen. Während die Ausbildung in Systemen des zweiten Typs detailliert geregelt ist, etwa durch die französischen Écoles nationales de la Magistrature oder durch deutsche Ausbildungsverfahren mit Studium, Referendariat und zwei juristischen Staatsprüfungen, fehlt es in Common Law Systemen an einer fachspezifischen Juristenausbildung (Autexier 2000: 120; und weitere Literatur zur Rechtsvergleichung, übrigens auch der deutschsprachigen Varianten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, vergleiche Nussbaumer 1997).

Natürlich bedingen die Unterschiede im Konzeptualisieren der Welt auch unterschiedliche Arbeits- und Forschungsmethoden. So unterscheidet man etwa in der vergleichenden Politikforschung zwischen vier methodischen Hauptströmungen: einem pluralistischen Forschungsansatz, der vor allem auf Ungleichgewichte in der Interessenaggregation und -artikulation abhebt, einem behaviouristischen Ansatz, dessen Interesse den Differenzen im Beteiligungsverhalten der unterschiedlichen politischen Systeme und Subsysteme gilt, einem systemtheoretischen Ansatz, der die funktionale Betrachtungsweise und damit ein systemneutrales Analyseraster eingeführt hat, und einem Korporatismusansatz, der das Entscheidungsverhalten zwischen politischen Akteuren analysiert (Nassmacher 2000: 88f). Die differenzierte Methodik erlaubt somit eine akkuratere Beschreibung von gesellschaftlichen Strukturen, die ja immer von der Weltsicht geprägt sind, statt der Verwendung einer international nivellierten Politik-Matrix. Durch die Koexistenz des Methodenmixes entstehen in der Folge innerhalb der Politikwissenschaft verschiedene Subsprachen, deren Variablen und Ergebnisse jeweils ausführlich begründet werden müssen, wenn sich die verschiedenen Richtungen verstehen sollen. Nicht jedes Forschungsergebnis führt demnach automatisch zu einer allgemein verständlichen und allgemein akzeptierten Aussage. Mit anderen Worten, erst durch die jeweilige Explizierung der Ansätze, ihrer Hintergründe, Verfahren und Ergebnisse könnte man versuchen, eine der Fachsprachen als verbindliche Norm einzuführen.

Was hier unter Rückgriff auf die Politikwissenschaft illustriert wurde, gilt in ähnlicher Weise für jede Wissenschaft. Es gilt auch für die Sprachwissenschaften mit ihren einzelnen Fachsprachen zu Strukturalismus, generativer Grammatik, funktionalen und pragmatischen Ansätzen, Kategorialgrammatik, Textlinguistik und anderen. Dennoch könnte niemand ernsthaft behaupten, die Linguistik allgemein müsse die Sprache eines ihrer Subsysteme zur Lingua Franca der gesamten Sprachwissenschaft erklären.

 

Zima (2000) fasst die Problematik der Codefindung in den Wissenschaften in dem Einleitungsbeitrag zu dem von ihm herausgegebenen Buch Vergleichende Wissenschaften treffend zusammen:

Vergleichende Konstruktionen sind – wie alle Objektkonstruktionen in den Sozialwissenschaften – kulturell und politisch bedingt, weil jede Kultur, jede Ideologie bestimmte Relevanzkriterien, Klassifikationen und Begriffsbestimmungen begünstigt, andere hingegen ausblendet oder gar tabuisiert. Deshalb erscheint es wichtig, die eigene Objektkonstruktion nicht für neutral oder gar objektiv zu halten, sondern in ihr das eigene kulturell und ideologisch bedingte Erkenntnisinteresse zu erkennen, um dieses mit anderen Erkenntnisinteressen und Konstruktionen dialogisch vergleichen zu können. (Zima 2000: 27)

Die wissenschaftsspezifischen Objektivationen, ihre Verfahren und Ergebnisse schlagen sich nicht nur in begrifflichen, sondern auch in textuellen Strukturen nieder. Damit beschäftigt sich vor allem die vergleichsweise junge Disziplin der kontrastive Textologiekontrastiven Textologie (zu kontrastiv-textologischen Perspektiven in Fachsprachen ausführlich und detailliert in Kapitel 3 im Band »Berufs-, Fach- und Wissenschaftssprachen«).

Die Darstellung von Eigenheiten verschiedener Wissenschaftskulturen impliziert nicht, dass eine Übertragung von einer Kultur in eine andere nicht möglich oder wünschenswert wäre. Im Gegenteil, es können sich dadurch – wie ja auch bei lexikalischen Entlehnungen – wesentliche Bereicherungen für eine Kultur ergeben. So hat die deutsche Wissenschaftskultur und -sprache viel aus anderen Kulturen und Sprachen entlehnt und selbst anderen (Wissenschafts-)Kulturen massiv Hilfestellung geleistet, etwa im Bereich der Rechtssprache, der Medizinersprache, der Archäologiesprache und der Chemikersprache, die noch heute als internationale Verkehrssprache gebraucht wird. Fremde Fachsprachen wie etwa die japanische Medizinersprache, die chilenische Rechtssprache oder die ungarische Wissenschaftssprache orientieren sich stark an den Mustern der deutschen Fachsprachen, da sie auf die wissenschaftlichen Grundlagen deutscher Lehre und die Konzepte deutscher Standardwerke (wie etwa des Bürgerlichen Gesetzbuches) zurückgreifen.

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