Kultur- und Literaturwissenschaften

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1.1 Kultur, Sprache und Kognition

Jörg Roche, unter Mitarbeit von Elisabeth Venohr

In den modernen Fremdsprachendidaktiken, und das gilt gleichermaßen auch für das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache im In- und Ausland, stellt die Vermittlung von sprachlichem Handlungswissen eines der zentralen Lernziele dar. Diese Handlungsorientierung geht einher mit dem Erwerb von sprachgebundenen Mitteln, die zur Erschließung und Strukturierung von Welt benötigt werden. Bei diesen hier diskutierten Ansätzen spielt das jeweilige zugrunde gelegte Kulturverständnis eine entscheidende Rolle, da die kulturgeprägte Wahrnehmung und somit die Kognition nicht unabhängig von Sprache erfolgt, sondern durch diese perspektiviert wird.

Die Diskussion über den Kulturbegriff im Fach Deutsch als Fremdsprache stellt nicht immer oder in einem noch nicht ausreichenden Maße die Sprachgebundenheit von Kultur in den Vordergrund. Diese ist jedoch der Ausgangpunkt für das Verständnis von Sprache und den daraus abzuleitenden Prinzipien einer bedeutungsorientierten Sprach- und Kulturvermittlung.

Daher werden Sie in dieser Lerneinheit zunächst mit einigen sprachphilosophischen und linguistischen Denkansätzen und deren Weiterentwicklungen bekannt gemacht, um daraus Konsequenzen für die integrierte Sprach- und Kulturvermittlung in Ihrem eigenen handlungs- und bedeutungsorientierten Landeskundeunterricht ziehen zu können.

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

 zwischen sprachphilosophischen und linguistischen Ansätzen unterscheiden können;

 Kulturbegriffe den entsprechenden Kulturtheorien zuordnen können;

 kritisch Stellung zu rein deterministischen Ansätzen nehmen können;

 die Wahrnehmung und Konzeptualisierung durch Sprache begreifen;

 Sprache als konstitutives Element von Kultur in die Landeskundevermittlung integrieren;

 Kultur in Texten erkennen, aber auch Kultur selbst als Text verstehen können;

 aus der theoretischen Diskussion erste didaktische Schlüsse für Ihren eigenen sprachbezogenen Landeskundeunterricht ziehen können.

1.1.1 Das Konzept Weltsicht von Humboldt und seine Vorläufer

Das Verhältnis von Kultur und Sprache ist bekanntlich Gegenstand langer sprachphilosophischer Überlegungen, vor allem wenn es um die Frage geht, wie sich ein Text von einer älteren Zeitperiode in eine jüngere oder von einer Sprache in eine andere adäquat übersetzen lässt. Die Übersetzungen der mehrsprachigen Urfassungen der Bibel, deren Altes und Neues Testament in unterschiedlichen Varietäten des Aramäischen, Hebräischen und Griechischen abgefasst wurden, gelten dabei als Katalysator von theologischen, philosophischen und linguistisch-translatorischen Fragen. Bereits im Sendbrief vom Dolmetschen (1530), in dem er die wichtigsten Bedeutungsunterschiede zwischen verschiedenen Nationalsprachen beschreibt, hält Martin Luther, Reformator und Übersetzer der Bibel ins Deutsche fest: „ittliche sprag hatt ihren eigen art“ (‚Jede Sprache hat ihre Eigenart‘).

Diese sprachphilosophische Erkenntnis wird von Vertretern unterschiedlicher Denkrichtungen aufgegriffen. Bereits Bacon (1214–1294) schreibt „Verba autem plerunque ex captu vulgi indunter, atque per lineas vulgari intellectui maxime conspicuas res secant“ (‚Die Wörter aber werden größtenteils nach den Auffassungen des Volkes gebildet, und sie schneiden die Dinge entlang solcher Linien ein, die dem volkstümlichen Verstand am meisten einleuchten‘; Trabant 2008: 90).

In seinem Essay Concerning Human Understanding hält auch John Locke, englischer Philosoph und Vordenker der Aufklärung, (1975 [1690]) fest, dass sich die Wörter zwischen den Intellekt und die wirklichen Dinge stellen, dass sie sich nicht auf Objekte beziehen, sondern auf die Vorstellungen im Geist. Sie werden somit zu Denkmitteln. Veranschaulichen konnte er das anhand fehlender fremdsprachiger Entsprechungen (Lakunen) von Konnotationen verschiedener Begriffe. Hier manifestiert sich die kognitive Dimension von Sprache als Instrument, die Welt zu strukturieren und zu denken, und kulturbedingt zu handeln.

Lockes Ansatz ist damit dem des italienischen Philosophen Giovanni Battista Vico (1725) verwandt, der ein universales Etymologicum plante, mit dessen Hilfe Wissenschaftler verstehen lernen sollten, wie andere Völker die gleichen Menschen, Dinge und Vorgänge unter diversi aspetti verschieden benennen. Lockes Ideen wurden unter anderem auch von de Condillac (1746) aufgenommen und weiterentwickelt. Mit dem Begriff der Weltansicht, der später auch in den Varianten ‚Weltanschauung‘, ‚Weltauffassung‘, ‚innere Sprachansicht‘, ‚geistige Ansicht‘, ‚Charakter der Sprache‘ erscheint, schafft Wilhelm von Humboldt ein folgenreiches Konzept, das die Perspektivik der kulturgeprägten Wahrnehmung und des Gebrauchs von Sprache abbildet. Das Wort komme demzufolge von der Wahrnehmung und sei keine Kopie des Objektes selbst. Da aber jede objektive Wahrnehmung immer mit Subjektivität vermischt sei, müsse jede menschliche Individualität, selbst unabhängig von der Sprache, ihre eigene Weltsicht haben. Durch die Sprache werde diese jedoch verstärkt (siehe Aarsleff 1982: 346f). In den Fragmenten der Monographie über die Basken (1801/1802) hält Humboldt fest:

Mehrere Sprachen sind nicht ebensoviele Bezeichnungen einer Sache; es sind verschiedene Ansichten derselben. […] Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichtum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen; es erweitert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseyns, und neue Arten zu denken und empfinden stehen in bestimmten und wirklichen Charakteren vor uns da. (von Humboldt 1981 [1801/1802]: VII, 2: 602))

Von Humboldt geht von der Koexistenz von abgegrenzten Weltsichten aus. Die einzige Möglichkeit, einen geschlossenen Kulturkreis zu verlassen, bestehe im Erlernen von Fremdsprachen. Dadurch werde ein Überwechseln in einen neuen Kreis ermöglicht, mit dem die Sprache verbunden sei. Das Verlassen eines Kreises erfordere demnach eine Entscheidung für eine Kultur. Die gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen Weltsichten, eine third-culture perspective (Bennett 1993: 23), ein third space (Bhabha 1994), ein third place (Kramsch 1996: 233–257) oder ein dynamisches Konzept von Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit der Menschen sind darin nicht angelegt.

Durch denselben Act, vermöge welches der Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede Sprache zieht um die Nation, welcher sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen Sprache hinübertritt. Die Erlernung einer fremden Sprache, auf die richtige Art benutzt, ist daher die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht, da jede das ganze Gewebe der Begriffe und der Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit enthält. (von Humboldt 1981 [1801/1802]: XIII: 266)

Auf die unterschiedlichen Konzepte von Mehrsprachigkeit und Identität wird noch ausführlicher in der Lerneinheit 1.2 eingegangen.

1.1.2 Linguistischer Determinismus

Sprache ist jedoch nicht als die direkte Abbildung der Weltsicht zu verstehen, sondern kann diese Weltsicht – wie bereits von Humboldt vermerkt – nur mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln darstellen (Trabant 2010). Dies illustrieren unter anderem Studien zu den symbolischen Farb- und Familienbezeichnungen in verschiedenen Sprachen, die meist metaphorisch aufgrund kulturspezifischer Wahrnehmungen, Profilierungen etc. gebildet werden (vergleiche Deutscher 2011). Wenn wir von Farbkognition sprechen, dann ergeben sich daraus folgende Fragen (Härtl 2013): Ziehen unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Farbgrenzen? Welche Farbeinteilungen sind universal? Hängt die Farbwahrnehmung von der einzelsprachlichen Einteilung ab? Hier finden Sie ein Beispiel für ein sprachenspezifisches Farbspektrum in kontrastiver Perspektive.


Abbildung 1.1: Farbbezeichnungen in den Sprachen nach Winawer et al. 2007 (Härtl 2013: 20)

Eine Farbversion der Abbildungen 1.1 und 1.2 finden Sie auf der Multilingua-Akademie-Lernplattform; aus drucktechnischen Gründen können diese im vorliegenden Band nur schwarz-weiß abgedruckt werden.

Darüber hinaus gibt es je nach Sprache(n) Farbverbindungen, die wiederum andere ausschließen, was die Abbildung auf der nächsten Seite illustrieren soll:


Abbildung 1.2: Farbbezeichnungen in den Sprachen nach Deutscher 2011 (Härtl 2013: 23)

Die Erkenntnisse dieser interlingualen, kontrastiven Gegenüberstellung von Farbbezeichnungen und dem zugrunde liegenden Farbspektrum betreffen zunächst nur die Bezeichnungsebene; sie können aber auch in einer anderen Perspektive interpretiert oder „gelesen“ werden, nämlich in Bezug auf das Erfassen und somit das Wahrnehmen von Phänomenen in der jeweiligen LebensweltLebenswelt oder auch realen Welt. Der Begriff der Lebenswelt ist stark mit dem phänomenologischen Ansatz bei Husserl (1992 [1936/1937]) verbunden und wird als direkter Anknüpfungspunkt von Alfred Schütz in seinem „verstehenden Ansatz“ als intersubjektivintersubjektiv bezeichnet:

 

So ist meine LebensweltLebenswelt von Anfang an nicht meine Privatwelt, sondern intersubjektivintersubjektiv; die Grundstruktur ihrer Wirklichkeit ist uns gemeinsam […]. Vorerst genügt es, festzustellen, daß ich es in der natürlichen Einstellung hinnehme, daß die Gegenstände der äußeren Umwelt für meine Mitmenschen prinzipiell die gleichen sind wie für mich. (Schütz & Luckmann 1979: 26)

Die LebensweltLebenswelt wird bei Schütz also zu einer Wirklichkeit, die wir durch unsere Handlungen modifizieren und die andererseits unsere Handlungen modifiziert (zur Kultur als Lebenswelt vergleiche auch Venohr 2007: 46).

Zur Rolle der Sprache heißt es bei Schütz:

Jede Sprache entspricht einer bestimmten relativ-natürlichen Weltanschauung. Die innere Form der Sprache stimmt mit den grundlegenden Sinnstrukturen der Weltanschauung überein. (Schütz & Luckmann 1979: 297)

Dass die Wahrnehmung und Konzeptionalisierung dieser (Lebens-)Welt durch Sprache geprägt ist, soll im Folgenden aus mehreren Perspektiven beleuchtet werden.

Ausgehend von Humboldts Ideen formuliert Whorf später das sprachliche Relativitätsprinzip, demzufolge das Sprachsystem die Wahrnehmung, das Denken und das Verhalten seiner Sprachgemeinschaft abbilde und darüber hinaus die Projektion der sprachlichen Strukturen auf die Sicht der realen Welt der Sprachgemeinschaft bestimme und erzwinge (linguistischer Determinismuslinguistischer Determinismus).

That part of meaning which is in words, and which we may call ‘reference’, is only relatively fixed. Reference of words is at the mercy of the sentences and grammatical patterns in which they occur. (Whorf 1956: 259)

And every language is a vast pattern-system, different from others, in which are culturally ordained the forms and categories by which the personality not only communicates, but also analyzes nature, notices or neglects types of relationship and phenomena, channels his reasoning, and builds the house of his consciousness. (Whorf 1956: 252)

Im Mittelpunkt der späteren Auseinandersetzung mit dem linguistischen Determinismus stehen Fragen nach der Universalität, Arbitrarität und Kulturspezifik der Sprache. Von Interesse ist vor allem die Frage, ob sich die Kulturspezifik als Folge kognitiver Modelle aus den Konzepten, aus der Semantik oder der Grammatik ergibt. Dabei wird die Unterscheidung zwischen Determinismus als der Bestimmung des Denkens durch die Sprache und linguistischem Relativismuslinguistischer Relativismus als der Beeinflussung des Denkens durch die Sprache nicht immer deutlich gemacht, weil Whorf selbst in dieser Hinsicht nicht deutlich unterschieden hat.

Das Problem der Koordination verschiedener Perspektiven auf die Welt löst Korzybski (1985) mit dem Hinweis auf das Abbildungsverhältnis von Karte und Landschaft. Das Verhältnis von Sprache und Realität entspreche der von Karte und Landschaft. Kartographische Darstellungen variieren unter anderem in Fokus (geologisch, morphologisch, mineralogisch, vegetationsbedingt, sozio- und kulturgeographisch, navigatorisch, sport- und freizeitbezogen), Projektion, Maßstab, Ausrichtung, Dimensionalität und individueller mentaler Abbildung beziehungsweise Perspektivik (mind map). Ein koordiniertes Bild der Welt, so Korzybski, könne nur da entstehen, wo der sprachliche Hintergrund der Individuen Ähnlichkeiten (oder zumindest eine Eignung für Uniformität) aufweise, also die sprach-geographischen Perspektiven Gemeinsamkeiten aufweisen. Dieser Hinweis ist nicht etwa als historisches Faktenwissen einer geschichtlich orientierten Landes- oder Geisteskunde wichtig. Vielmehr gibt er uns Anlass zu überlegen, wie wir gerade in einer Zeit ständiger technologischer Neuerungen, und gerade solcher, die sich unserer konkreten Wahrnehmung entziehen, die Welt abbilden (ab-Bild-en). Unsere Zeitvorstellungen orientieren sich an Raumvorstellungen und die gesamte virtuelle Welt ist in Räume aufgeteilt und lässt sich mit Plänen und Karten navigieren, obwohl es diese Räume eigentlich gar nicht gibt (Chat-Räume, Foren, Archive, Bibliotheken). Diese Aspekte werden im Band »Kognitive Linguistik« weiter vertieft.

Vygotsky (1986: 213) verweist in diesem Zusammenhang auf die phylogenetischphylogenetische Entwicklung von Sprache und Denken und betont gleichzeitig den vermittelnden Charakter von Sprache:

Linguistics did not realize that in the historical evolution of language the very structure of meaning and its psychological nature also change. From primitive generalisations, verbal thought rises to the most abstract concepts. It is not merely the content of a word that changes, but the way in which reality is generalized and reflected in a word […]

Thought and language, which reflect reality in a way different from that of perception, are the key to the nature of human consciousness. Words play a central part not only in the development of thought but in the historical growth of consciousness as a whole. A word is a microcosm of human consciousness.

Sprache wird gerade auch von Lernern mit grammatischen Kategorien und Regeln gleichgesetzt. Dass es verschiedene Konzepte von Grammatik gibt, zeigt sich bei Habermas (1979: 237), der den organisierenden Charakter der Grammatik im pragmalinguistischen Sinne als Sprachspielgrammatik, also als Wechselspiel zwischen unterschiedlichen Beteiligten in unterschiedlichen Situationen, fasst und ihn als gesellschaftlichen Konsens unterschiedlicher Perspektivierungen individueller Sprecher („gebrochene Intersubjektivität“) folgendermaßen darstellt: „Eine Sprachspielgrammatik verknüpft Symbole, Handlungen und Expressionen; sie legt Schemata der Weltauffassung und der Interaktion fest.“ (Habermas 1979: 237)

Die sich aus der Kulturspezifik ergebenden Differenzen zwischen Sprachen werden auch von Vertretern universalistischer Ansätze nicht ignoriert, sondern als Schnittmenge gemeinsamer Prinzipien und Eigenschaften interpretiert (vergleiche Greenberg 1990) und als in dieser Forschungsrichtung vernachlässigtes konstitutives Element sprachlicher Systeme gesehen (Jackendoff 2007).

Die landeskundlich relevante Frage ist jedoch, wie sich das Verhältnis von Kultur und Sprache in Vermittlungsansätzen abbilden lässt. Diese Aufgabe lösen traditionelle Ansätze vorwiegend deskriptiv und rekonstruktiv, manche – wie die Modelle des interkulturellen Trainingsverfahrens – dabei weitestgehend deterministisch. Die Lerneinheiten 3.1 und 3.2 von Bauer in diesem Band beschäftigen sich eingehender und durchaus auch kritisch mit dieser Thematik.

An dieser Stelle sei nochmals auf die praktische Nutzbarmachung und methodische Umsetzung der bisher vorgestellten Ansätze für den DaF-Unterricht hingewiesen: Bei der Verbindung von Sprach- und Landeskundevermittlung können das Verständnis von Wahrnehmung durch Sprache (kognitionsformender Sprachcharakter, vergleiche Einstein 1981) im interkulturellen Vergleich zu wichtigen Erkenntnissen über die Sprachgebundenheit von Kultur (auch im Sinne von LinguakulturLinguakulturen) führen.

Dies gilt auch für die nun folgende Diskussion über den geeigneten Kulturbegriff für die unterschiedlichen Auffassungen von Landeskundevermittlung (dazu ausführlicher bei Zeuner in der Lerneinheit 7.1 in diesem Band).

1.1.3 Kulturbegriffe

Zur Problematik der Kulturbegriffe

Die ‚LandeskundeLandeskundesdiskussion-Diskussion‘ könnte man seit ihren Anfängen als Abfolge exklusiv behaupteter Ansätze kennzeichnen, als ‚Pendelschwungbewegungen‘ von realistischen zu idealistischen Zielen, von anwendbarem Wissen zu individueller Bildung, von Fertigkeiten zu Fähigkeiten, von pädagogisch zu politisch legitimierten oder gesetzten Zielen – und vice versa. (Simon-Pelanda 2001: 48)

Diese Pendelbewegungen manifestieren sich in der Landeskundediskussion auch im Begriff Kultur. Er wird polysem verwendet und zeichnet sich durch entsprechende Unschärfe aus. Welsch (1995) weist darauf hin, dass dem allgemeinen Kulturverständnis implizit meist eine Vorstellung von Kultur zugrunde liegt, die dem Symbol der Kugel bei Herder entspricht. Demnach werden Kulturen als voneinander abgrenzbare und abgegrenzte und daher weitgehend geschlossene Systeme verstanden.

Nach Herders von 1784 bis 1791 erschienenen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit bestimmen drei Merkmale das gängige Kulturverständnis:

 Erstens soll eine Kultur das Leben des betreffenden Volkes im Ganzen wie im Einzelnen prägen und jede Handlung und jedes Objekt zu einem unverwechselbaren Bestandteil gerade dieser Kultur machen: das Konzept ist stark vereinheitlichend.

 Zweitens soll Kultur immer die Kultur eines Volkes sein; sie stellt – so drückt Herder das aus – „die Blüte“ des Daseins eines Volkes dar: das Konzept ist volksgebunden.

 Drittens ergibt sich daraus eine entscheidende Absetzung nach außen; jede Kultur soll, als Kultur eines Volkes, von den Kulturen anderer Völker spezifisch unterschieden und abgegrenzt sein: das Konzept ist separatistisch (Welsch 2005: 317).

In Begriffen wie Inter-Kultur, kulturelle Identität und Leitkultur (bis hin zu ethnic cleansing und anderen „Reinheitsbegriffen“ und Vorstellungen von kultureller Integrität, die nicht selten zu Rassismus und Gewalt führen) manifestiert sich dieses Verständnis von Kultur mit oft segregierenden Implikationen. Eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren hat versucht, den Begriff Kultur konkreter zu fassen und operationalisierbar zu machen. Als wichtigster Vorläufer für diese Versuche gilt die Erhebung von Kroeber und Kluckhohn (1954), in der circa 300 Definitionen auf eine gemeinsame Basis untersucht wurden. Dieser Versuch wurde allerdings ohne den erhofften Erfolg abgebrochen.

In weiten Kreisen sozialwissenschaftlicher Forschung hat der semiotische Kulturbegriff von Geertz (1975; vergleiche dazu auch Lüddemann 2010: 11–15) allgemeinen Referenzcharakter. Das Verständnis von Kultur als „ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen“ (Geertz, Luchesi & Bindemann 1983: 21) bildet selbstgesponnene, tradierte Systeme von Bedeutungen in Form von Symbolen ab, schließt aber deren Veränderbarkeit nicht aus. Dieser Definition zufolge ist Kultur

a[n] historically transmitted pattern of meanings embodied in symbols, a system of inherited conceptions expressed in a symbolic form by means of which men communicate, perpetuate and develop their knowledge about attitudes towards life. (Geertz 1975: 89)

Nünning und Nünning (2003: 6) stellen fest, es lasse sich eine interdisziplinäre Präferenz „für einen semiotischen, bedeutungsorientierten und konstruktivistisch geprägten Kulturbegriff“ erkennen, demgemäß „Kultur als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefasst“ werden könne, „der sich in Symbolsystemen materialisiert“.

Von einem solchen dynamischen, binnendifferenzierten und plurizentrischen Kulturbegriff, der von Akkulturations- und Mischungsprozessen ausgeht (siehe hier auch „Der Gestus der Kultur ist Mischung“ bei Bogdal 2011), waren das verbreitete Kulturverständnis und die gängige Kulturpraxis des Fremdsprachenunterrichts bisher in der Regel weit entfernt. Wenn Kultur aber weniger als Sammlung von tradierten und fixierten Artefakten, sondern als symbolisches Bedeutungssystem anzusehen ist, das sich in veränderbaren Denkweisen, Handlungen und Werten ausdrückt, die zudem viel Raum für individuelle Gestaltung und Interpretation lassen (Binnendifferenzierung), dann verändert sich auch das Konzept der Kulturvermittlung im Unterricht grundlegend.

If culture is understood not as artifacts or isolated behaviors, but as connected patterns of thought, actions, and expression; and if patterns exist in the eyes of the beholder, then the teaching of culture takes on a new meaning and function. (Webber 1990: 133)

Porter und Samovar (1994: 12) leiten aus dieser Feststellung sechs Kriterien für die Behandlung von Kultur im Fremdsprachenunterricht ab. Diese betrachten die Autoren als konstitutiv für die Vermittlung interkultureller Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht:

 Kultur ist erlernt;

 Kultur ist übertragbar;

 Kultur ist dynamisch;

 Kultur ist selektiv;

 die verschiedenen Facetten von Kultur sind miteinander verbunden;

 

 Kultur ist ethnozentrisch.

Damit ist ein Wandel in den Ansätzen der Kulturvermittlung von den auf mehr oder weniger stereotype Fakten ausgerichteten hin zu dynamischen, kontextualisierenden, perspektivierenden und transkulturellen vorgezeichnet. Eine Präferenz für einen semiotischen, bedeutungsorientierten und konstruktivistisch geprägten Kulturbegriff beginnt sich mittlerweile – zumindest partiell und zaghaft – auch in neueren Modellen der Landeskunde durchzusetzen. Sprache wird dabei als konstitutives Element von Kultur angesehen, aber nicht in allen Ansätzen auch entsprechend behandelt. In der ehemals sowjetischen, heute russischen Fremdsprachendidaktik wird auch heute noch Wert auf kulturspezifische Lexik gelegt, die auf Realitäten innerhalb einer bestimmten Gesellschaft verweist; dieser Ansatz einer Form von sprachbezogener Landeskunde wird auch als Linguolandeskunde bezeichnet.

Dieses Konzept verfolgt die Vermittlung landeskundlicher Kenntnisse, unter anderem auch durch den an Gesellschaftsrealia gebundenen Assoziationswortschatz. Die sprach- und kulturphilosophischen Grundlagen des Konzepts der sprachbezogenen Landeskunde von Kostomarov und Vereščagin (1990 [1973]) basieren auf fünf Annahmen (ausführlich bei Abendroth‑Timmer 1998: 166f; in Venohr 2007: 70): Die wichtigste Annahme bei diesem Ansatz besagt ebenfalls, dass „die Sprache ein Mittel ist, um an eine andere Welt heranzuführen. Die Welt erschließt sich über Sprache, da sie die Funktion des Trägers und Überträgers von Denkweisen hat“ (Abendroth‑Timmer 1998: 166f). Diese „mentalitätskognitivistische“ Tradition wird auch heute noch weitergeführt, unter anderem im Bereich der Ethnokonnotation (vergleiche Bykova 2000), die gerade auch bei der Sinnerschließung von Texten durch kulturspezifische Informationen eine entscheidende Rolle spielt. Dies verdeutlicht Bykova an Texten, genauer an Textgattungen, wie der Sage, die sie als „Fundgrube für kulturspezifische Informationen“ bezeichnet und zwar auf lexikalischer Ebene (2000: 174).

Sprachorientierte Ansätze in der Landeskunde, bei denen sprachliches Handeln und interaktionale Kompetenz im Fokus stehen, können durch kulturanthropologische ergänzt werden. Dabei geht man zunächst vom Zeichencharakter von Kultur (Barthes 1964 [1957]) aus. Texte – auch als Abfolge von Zeichen verstanden – sind die primäre Organisationsform, in der sich die menschliche Sprache in der Gesellschaft manifestiert. „Texte sind deshalb auch zentraler Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts, also Ausgangs- und Endpunkt des Lehrens und Lernens“ (Barthel 1991: 7). Das in kulturwissenschaftlicher Perspektive favorisierte Textverständnis ist ein anderes als die schriftliche Fixierung von Sprache, es greift vielmehr auf die (kulturelle) Texterfahrung von Lernern durch wiederkehrende Muster zurück.

Textwissenschaftliche Perspektivierungen von Kultur, die darin eine Konstellation von Texten sehen, die über das geschriebene und gesprochene Wort hinaus auch in Ritualen, Theater, Gebärden, Festen und weiteren Objektivationen verkörpert sind, werden als höchst aufschlussreich angesehen, wenn es darum geht, das Netzwerk historischer, sozialer, geschlechtsspezifischer Beziehungen im Licht ihrer kulturellen Vertextung, Symbolisierung und Kodierung zu rekonstruieren. Ziel ist es dabei, Zugang zu den Selbstverschreibungsdimensionen einer Gesellschaft im Horizont der Metapher als Text zu gewinnen (Bachmann-Medick 2006: 10). Zur Interpretation von Texten bedarf es nach Stanley Fish interpretativer Gemeinschaften:

Indeed, it is interpretive communities, rather than either the text or the reader, that produce meanings and are responsible for the emergence of formal features. Interpretive communities are made up of those who share interpretive strategies not for reading but for writing texts, for constituting their properties. In other words, these strategies exist prior to the act of reading and therefore determine the shape of what is read rather than […] the other way around. (Fish 1995: 14)

Die Wissenskonstruktion, die Interpretation von Texten, benötigt demnach Abstimmungsprozesse in der Gemeinschaft, das heißt die ViabilisierungViabilisierung im Kollektiv. Fish (1995) geht es dabei aber nicht so sehr um das Verstehen von Bedeutung, also um das Lesen von Texten, sondern um das Ziel, Texte selbst produzieren zu können. Das Textverstehen übernimmt die Aufgabe eines Hilfsmittels in Form von interpretativen Strategien (interpretive strategies). Diese Strategien gelten als generisches, nicht semantisch determiniertes Grundinventar für die kognitive Verarbeitung. Sie dienen zur Wahrnehmung und Analyse von Texten. Das eigentliche Ziel der Kommunikation ist in diesem Ansatz aber die Produktion von Texten, für die ebenfalls bestimmte kognitive Strategien erforderlich sind. Diese Produktionsstrategien ergeben sich nicht aus der inhaltlichen Rezeption des Textes. Sie bestimmen vielmehr den konstruktiven Lese- beziehungsweise Rezeptionsprozess, der damit zum Produktions(schreib-)prozess des Rezipienten wird.

Wir sehen also, dass das bekannte, oft ungeliebte, als unterrichtlicher Luxus betrachtete Thema Landeskunde viel facettenreicher ist, als es auch in der fremdsprachendidaktischen Literatur vorwiegend behandelt oder dargestellt wird. Angesichts der vielfältigen Konzepte und Begriffe ist zu fragen, ob man überhaupt noch von reiner Landeskunde sprechen sollte. Die hier zum Eingang des Bandes skizzierten Ansätze und Begrifflichkeiten zeigen schließlich einen ganzen Kosmos auf, der vor allem von dynamischen, kontextualisierenden und von Sprache abhängigen Konzepten geprägt ist. Die meisten dieser Begriffe und Konzepte werden im Laufe des Bandes immer wieder aufgegriffen, vertieft, aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt und auf ihre praktische Relevanz im DaF-Unterricht hin überprüft. Eine einfache Übertragung auf klassische Unterrichtskonzepte ist nicht möglich und nicht sinnvoll. Sie würde der kulturellen Komplexität und Vielfalt nicht gerecht und sie würde viele Chancen der Sprachvermittlung ungenutzt lassen.