Kursbuch 203

Tekst
Sari: Kursbuch #203
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Wer will noch Held sein?

Als sich im April auf einem französischen Flugzeugträger nahezu tausend junge Soldaten mit dem Corona-Virus infizierten, empörte sich die internationale Presse über den Mangel an Voraussicht, Schutzkleidung und Ähnlichem. Ein »Skandal« sei das, es wurden gar gerichtliche Klagen erwogen. Was wir aus dieser Empörung lernen können, ist eine bemerkenswerte Eintrübung des Denkens, denn: Überwog nicht das Positive? Die Matrosen haben die Infektion zwischenzeitlich hinter sich, fast alle Verläufe waren glimpflich, niemand ist gestorben – an sich auch nicht verwunderlich in einer Population junger und fitter Personen.

Nicht weniger angesteckt von der problematischen Haltung einer unbedingten Vermeidung scheint Peter Laudenbach, Autor eines Textes über das Theater in diesen Zeiten im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung: »Problematisch ist in Corona-Zeiten nicht nur jede Form körperlicher Nähe, sondern schon leidenschaftliche, laute, also unter Umständen auch feuchte Aussprache ohne einige Meter Sicherheitsabstand, von Kussszenen ganz zu schweigen.« 3 So wird jedes Repertoire »unspielbar« und der Prinzipal des Wiener Burgtheaters, Martin Kušej, geschulmeistert, weil er dagegen protestiert, auf der Bühne »Sicherheitsabstand« zu verordnen. Laudenbach: »Ein Leiter einer öffentlich finanzierten Institution, der das Wort ›Sicherheitsabstand‹ in Anführungszeichen setzt, hat offenbar noch nicht ganz verstanden, in welcher Situation sich die Gesellschaft, und mit ihr das Theater, befindet.«

Wer da etwas nicht verstanden hat, ist nicht der Intendant. Es gibt auch in Zeiten einer drohenden Pandemie »sichere« Nähe. Zumal man Schauspieler testen und erst dann aufeinander loslassen kann, wenn ausgeschlossen ist, dass einer das Virus trägt. Was bleibt von Kunst übrig, wenn Schulmeister und Rechthaber die Zeichen der Zeit so deuten, dass die Vermeidung einer Infektion nicht nur zur ersten, sondern zur alleinigen Bürgerpflicht wird?

Die blindwütige Prophylaxe einer im Einzelfall sehr häufig harmlosen, oft symptomfreien, aber im exponentiellen Wachstum bedrohlichen Infektion deutet an, dass wir die schuldige Variante des Corona-Virus nicht als Naturphänomen, sondern als Feind begreifen. Dafür spricht auch der Mythos von der aus chinesischen Laboren entkommenen Biowaffe. Feind ist Feind, immer und überall. Es gibt keine Bedingungen, unter denen wir aufhören dürfen, gegen ihn anzukämpfen, auch nicht auf einem gut ausgerüsteten Schiff, das in den Weiten des Ozeans bestens davor geschützt wäre, die Infektion dorthin zu tragen, wo sie andere Menschen erreicht, die ihr nicht den gleichen Widerstand entgegensetzen können wie die Mitglieder der französischen Besatzung.

In die Köpfe brennt sich die zu Beginn schon erwähnte Metaphernsprache des Krieges und das Bild eines »typischen« Infizierten, der auf einer Intensivstation mit unsicherem Ausgang beatmet wird. Dass die meisten Covid-19-Kranken »nur« fiebern und husten, die Infektion oft auch fast symptomlos verläuft, spielt für die diffuse Angst der Bürger keine Rolle.

In der kriegerischen Rhetorik von der »dunkelsten Stunde der Menschheit«, der »größten Gefahr« wird die Kränkung eines globalisierten Größenwahns fassbar, dass ein mikroskopisch kleines Eiweißbündel das ganze Getriebe stoppen kann. Mikroben sind Teil der Natur, viele sind nützlich, andere gefährlich, aber wie einen Feind »besiegen« können wir sie niemals.

Die kriegerische Metapher bereitet unser Denken und Fühlen nicht darauf vor, die Ambivalenz der Infektion zu erkennen: Überstehe ich sie, bin ich gegenwärtig und noch so lange, bis eine gute Impfung entwickelt wird, wenn nicht immun, dann aber doch einen großen Schritt weiter. Das Todesszenario, das die Berichterstattungen in hohem Maß prägt, ignoriert diese Ambivalenz. Es ist kalt und dramatisch, es lässt keinen Raum für Erfolgsgeschichten, Zuversicht oder auch nur für den integrativen Gedanken, als Mensch Teil der Natur zu sein und ihr nicht feindlich gegenüberzustehen.

Quarantäne weckt den Blockwart in Männern wie Frauen. Sie lässt gegen Leichtsinn polemisieren und behaupten, wer sich optimal zurückziehe, sorge dafür, dass der Spuk schnell verschwindet. Auch wenn private Feiern in einem gewissen Rahmen wieder erlaubt sind: Wer durch ein Fenster erspäht, dass drinnen Freunde feiern, ruft schon mal die Polizei.

Blinder Glaube an den Götzen der Todesvermeidung für alle und um jeden Preis hat die Macht übernommen. Und in jungen Menschen, in denen der Drang zum Amüsieren steckt, entlädt sich der Frust, wenn die Polizei versucht, Regeln durchzusetzen, wie etwa jüngst auf dem Frankfurter Opernplatz oder in der Stuttgarter Innenstadt. Wenn es noch einen Beweis für die Entbehrlichkeit des realen Helden in der Konsumgesellschaft braucht: Das Jahr 2020 lieferte ihn. Die Kirchen, in denen wir immerhin noch Bilder eines gekreuzigten und auferstandenen Helden sehen könnten, waren lange Zeit geschlossen.

Der Vergleich mit historischen Seuchen wie der Pest ist schief. In der Antike oder im Mittelalter wäre eine Infektion, welche fast alle Gesunden überleben, nicht einmal der Geschichtsschreibung überliefert worden. Damals fehlte die heute umfangreiche Gruppe chronisch Kranker, die keine zusätzliche Schädigung mehr vertragen können (und die, statistisch korrekt, aber im Einzelfall oft voreilig, mit den Alten gleichgesetzt werden).

Abgesehen von Diktatoren, die ihre Medien gut unter Kontrolle haben, begann im März 2020 eine manchmal absurde Konkurrenz, wer eine Quarantäne, die das öffentliche Leben lahmlegt, radikaler durchsetzt als der andere. Frische Luft, das Vitamin der Lunge, wurde in einigen Staaten zur verbotenen Frucht, weil den Menschen nicht zugetraut wurde, vernünftige Sicherheitsregeln zu befolgen und beim Spaziergang Distanz zu halten.

Freiheiten wurden im Dienst der Sicherheit abgeschafft, weil sich kein demokratischer Politiker leisten kann, dass ihm das Wählervolk den Tod von Angehörigen zuschreibt, den sein energischeres Handeln hätte vermeiden können. Darin eine Wende zur Humanität schlechthin zu sehen, wäre allerdings voreilig: Es ist ein Event, das Wählerstimmen sichert, nicht mehr und nicht weniger. Die Ereignisse bestätigen nur die Schwäche der Demokratie, wenn es darum geht, einen richtigen, aber unbeliebten Kurs zu steuern.

In der Umweltpolitik ist das schon sehr lange nicht zu übersehen. Das Leben von Menschen zu gefährden, störte die Entscheider noch nie, solange der Tod als Opfer einer unvermeidlichen Verteidigung der eigenen Nation gerechtfertigt werden konnte oder aber erst nach einigen Wahlperioden zuschlagen würde. Wer Atomkraftwerke bauen lässt, ist mindestens so gefährlich wie der Leugner von Corona-Gefahren. Schon Karl Marx hat erkannt, dass »Nach uns die Sintflut« das durchgängige Motto des Kapitals ist, nicht das eines vom aufstrebenden Bürgertum gefährdeten Feudalherrn.

Die Corona-Gefahr ist zum Tagesgeschäft geworden, sie ist aktuell. Wer denkt, der Shutdown und die ihm folgende Wirtschaftskrise entferne uns garantiert von der Macht des Kapitals, hat seinen Marx nicht studiert, denn Krisen und radikale Umbauten sind ganz und gar das Geschäft des Kapitalismus. Schon zaubern sich lohnende Perspektiven in die ökonomische Wüstenei. Schon die Tests sind ein gutes Geschäft, das die Aktien auf Kurs hält. Eine Impfung brächte den Profit des Jahrhunderts. Wer aber wird durchsetzen, dass die gegenwärtige Wachstumskrise durch das Einlenken auf den von der Klimakrise geforderten Kurs verarbeitet wird und nicht durch schnelleren, größeren Raubbau, wie es die bisherige Dynamik des Kapitals erfordert?

Der Basler Psychiater Daniel Sollberger kann sich drei Ausgänge vorstellen: 4

Erstens die eilfertige Wiederherstellung des früheren Zustandes der instabilen Normalität des Konsumismus, zweitens eine passive Resignation, in der sich die Menschen an charismatische Führer anlehnen, oder drittens Einsicht in die grundlegende Endlichkeit des Lebens, die Entschleunigung und Solidarität mit sich bringt, verbunden mit einer neuen Identität als Erdenbürger, die ein gemeinsames Dach haben und alles tun müssen, dieses zu stützen.

Anmerkungen

1 Steven Taylor: Die Pandemie als psychologische Herausforderung. Göttingen 2020, S. 50.

2 Olivier Del Fabbro: »Gebt mir einen Virus und ich werde die Welt aus den Angeln heben – ein philosophischer Kommentar«, in Charles Bonoy (Hrsg.): COVID-19. Ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche. Stuttgart 2020, S. 15–20.

3 Peter Laudenbach: »Man schneidet an der Seele unseres Schaffens herum«, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.04.2020.

4 Daniel Sollberger: »Endlichkeit und Entschleunigung. Wie wird die Covid-19-Pandemie unsere Gesellschaft verändern?«, in: Charles Bonoy (Hrsg.): COVID-19. Ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche. Stuttgart 2020, S. 122 ff.

Ebenfalls interessant im Hinblick auf das gesamte Themengebiet: Jonathan D. Quick: The End of Epidemics. The Looming Threat to Humanity and How to Stop It. New York 2018.

Armin Nassehi

Modi des (Über-)Lebens

Passen wir überhaupt in diese Welt?

Um den gesellschaftlichen Grundkonflikt der Moderne zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Kritik der Moderne im Moment ihres Anfangs. In Deutschland wäre es vor allem die frühe Romantik, in Frankreich die Kritik an der Revolution etwa des Gegenaufklärers Joseph de Maistre. Die Grundmotive der Frühromantik kann man als eine Kritik an den Entzweiungen der Moderne paraphrasieren. Philosophisch, ästhetisch, religiös und im Naturverständnis kritisierte diese Bewegung um 1800 den Verlust von Einheit und suchte nach der Versöhnung des Entzweiten. Vor allem in Jena hat sich um 1800 um die Schlegel-Brüder, um Ludwig Tieck, Friedrich Wilhelm Schelling und Novalis eine Bewegung etabliert, die gegen die Differenzierungsprozesse der Moderne deren inneren Zusammenhang setzt, die Natur und Geist nicht als Gegensatz betrachtet, die eine Wiederbelebung des Religiösen gegen die Säkularisierung des Denkens setzt. All das ist nicht besonders tiefenscharf formuliert, aber es ist eines der wirkmächtigsten Motive der Modernitätskritik überhaupt gewesen: den Zusammenhang von Identität und Differenz zu denken, die Trennungen und Differenzierungen der Moderne auszuhalten, unterschiedliche Kontexte zu erleben, mit Perspektivendifferenz zu leben. Die frühromantische Grundidee ist daher nicht einfach eine rückwärtsgewandte Ideologie, sondern sie ist bereits eine Reaktion auf jene Modernisierungserfahrungen, in denen sich die Wissenschaften versachlichen und rationalisieren, der Staat zum Anstaltsstaat wird und sich die Frage nach der Vernunft von der Religion entfernt. Es ist der Versuch, die Welt als Einheit beschreibbar zu machen und den Ursprung aller Teile in einem aufheben zu wollen – und darin ist sie auf eine erstaunliche Art und Weise modern, was immer man darunter genau verstehen will.

 

Es genügt zunächst diese unscharfe Charakterisierung, um das Bezugsproblem solcher Kritik zu verstehen: Es ist eine Reaktion darauf, dass diese moderne Welt mit ihren Inkonsistenzen und Diskontinuitäten offensichtlich die vormalige, wohlgemerkt: angebliche, ursprüngliche Passung von Welt und Mensch, von Individuum und Gesellschaft, von Einzelnem und Gemeinsamem verloren habe. Ob es jemals eine solche Entsprechung gegeben hat, spielt bei dieser Diagnose keine Rolle – als Projektion hat es sie ohne Zweifel gegeben, im Rekurs auf einen Volksgedanken, auf die Einheit spendende Idee einer beseelten Natur, als Hoffen auf die Monarchie als einer Einheit spendenden Verbindung des Menschen mit einem Fatum in der Figur des Königs etwa bei Novalis, nicht zuletzt als Rechtfertigung einer ständischen Ordnung. Letzteres ist vielleicht die radikalste Kritik der Moderne: der Versuch, die Gesellschaft als Assoziation von Freien und Gleichen wenigstens zu denken gegen den Gedanken, dass dann diese Freien und Gleichen ihren je eigenen Platz verlieren.1

In Frankreich setzt der Gegenaufklärer de Maistre mit seiner Kritik an Jean-Jacques Rousseaus Idee des Gesellschaftsvertrages an. Für ihn setzt die Voraussetzung potenzieller Vertragspartner, die dem Gesellschaftsvertrag zustimmen sollen, bereits jenes Gemeinsame voraus, das sich angeblich durch den Vertrag konstituieren solle. Er wehrt sich gegen die Forderung, die Gesellschaft beziehungsweise der Staat könnten Ergebnis einer Wahl, eines Willens sein, statt ihn tiefer zu fundieren, als etwas, das den Akteuren/Individuen ontologisch vorausgeht.2 Für den französischen Gegenaufklärer war die Revolution vor allem ein Verrat an einer Ordnung, die den Einzelnen ihren Ort zugewiesen hat. Der Verlust besteht gewissermaßen darin, dass die Menschen nun zu einer Freiheit gezwungen sind, die sie überfordert. Hegel hat später ebenfalls vertragstheoretische Modelle – etwa von Thomas Hobbes – ähnlich kritisiert, aber ihn interessierte eher die logische Struktur des Arguments: Es müsse bereits eine das Recht konstituierende staatliche Struktur existieren, damit der Vertrag, der die Grundlage dieses Rechts sein solle, Geltung bekommen könne. Aber anders als Hegel setzt de Maistre hier nicht auf Logik, sondern auf die empirischen Vorzüge einer ständischen Ordnung, die den Einzelnen davon entlasten könne, Autor des eigenen Lebens sein zu müssen. Der große Verrat der Revolution war gewissermaßen der Verrat an einer Ordnung, deren Bedingungen latent bleiben konnten, schon weil man sie gar nicht befragen konnte und durfte. Zugleich hat de Maistre die Gleichheitsunterstellung der Revolution bekämpft – und zwar mit dem Hinweis, dass das Medium, das solche Gleichheit am ehesten herzustellen in der Lage sein könne, das Geld nämlich, zugleich die Quelle neuer, dann aber eben nicht mehr quasi-natürlicher Ungleichheiten sein werde, was das Freiheitsversprechen korrumpiere. Jedenfalls beraube die moderne Idee der Freiheit die Menschen ihres Ortes, zu dem sie immer schon gehören.

Selbstkritik der Moderne

Es ist hier nicht der Ort, die Differenz dieser beiden Denkungsarten angemessen ideengeschichtlich zu rekonstruieren. Vielmehr ist das Motiv bemerkenswert, dass die Kritik der Moderne bereits in statu nascendi ein Motiv enthält, das die Grundkonflikte der westlichen Moderne seitdem ausmacht. Dieser Grundkonflikt ist der Konflikt um die Frage des Ortes, an dem die Einzelnen sich befinden. Wie findet der einzelne Mensch seinen Platz in einer Welt, deren Dynamik ganz offensichtlich solche Plätze nicht mehr einfach voraussetzen kann? Die Moderne scheint tatsächlich mit ihren entfesselten Prozessen, ihren akzelerativen Momenten und der Dezentrierung von Ordnungsbildung zumindest das Erleben von Ordnung schwieriger zu machen. Moderne meint hier keinen Fortschrittsmythos, auch keinen plötzlichen Epochenbruch, wie er in den gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen dominiert, sondern eher das Ergebnis einer Entwicklung, die auf Komplexitätssteigerungen der Gesellschaft reagiert. Diese sind unstrittig und haben etwas mit der Verlängerung von Interdependenzketten zu tun, mit technologischem Wandel und wissenschaftlichem Fortschritt, nicht zuletzt mit der Verselbständigung funktionaler Logiken und ihres Eigensinns – nicht im Sinne eines allgemeinen Fortschritts, wie klassische Modernisierungstheorien und ihre politischen Instrumentalisierungen suggerierten, aber schon im Hinblick auf die Gesellschaftsstruktur. Der sinnfälligste Ausdruck solcher Veränderungen ist schon die quantitative Steigerung von fast allem.

Der britische Informatiker Stephen Emmott hat dies in seinem Buch Zehn Milliarden an Diagrammen festgemacht. Das paradigmatische Diagramm ist das der Bevölkerungsentwicklung – auf der x-Achse die Zeit, auf der y-Achse die Weltbevölkerung. Erst auf den letzten beiden Zentimetern der x-Achse schnellt die Kurve von circa 0,5 Milliarden Menschen auf erwartete zehn Milliarden zum Ende dieses Jahrhunderts hoch. Der exponentielle Ausschlag beginnt vor 200 bis 300 Jahren. Das Buch enthält viele weitere Diagramme – über die Entwicklung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre, über den globalen Temperaturanstieg, den Verlust von Regenwäldern, Wasserverbrauch, Straßenverkehr, Energieparameter usw.3 Das ästhetisch Frappierende: Alle Diagramme sehen fast gleich aus. Die wachstumskritische Botschaft des Buches ist klar – aber auch positiv besetzte Parameter würden in ähnlichen Kurven abgebildet werden: Entscheidungsmöglichkeiten, Literalität, Krankenversorgung, Lebenserwartung, politische Partizipation, Versorgung mit Gütern, Überlebensrate bei Geburten, Gleichstellung von Frauen, Versorgung der Weltbevölkerung, wissenschaftliches Wissen usw.4

All dies jedenfalls ist nicht nur ein Skaleneffekt, nicht einfach eine Multiplikation von Bestehendem, sondern tatsächlich ein Hinweis auf eine qualitative Veränderung, die etwas mit der Komplexität der Gesellschaft zu tun hat. Die entscheidenden Veränderungen sind Optionssteigerungen auf ökonomischen, wissenschaftlichen, technischen, medizinischen, planerischen und politischen Gebieten.5 Die Kritiker der frühen Moderne, wie ich sie gerade paraphrasiert habe, treffen auf jeden Fall einen Punkt in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, der auf so etwas wie den Verlust von Eindeutigkeit, den Verlust von Einheit, den Verlust von primordialen Ordnungen abstellt – selbst wenn das Primordiale nur deswegen so erschien, weil die Hierarchie der Entscheidungswege und das Fehlen von Verbreitungsmedien so etwas wie kommunikative Entfesselung über kleine Oberschichten hinaus völlig unmöglich gemacht hat.

Das Überleben des Menschen

Die heutige Selbstbeschreibung der Gesellschaft kulminiert mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht mehr so sehr in der Frage des Überlebens primordialer Ordnungen, sondern in der Frage nach den Überlebensbedingungen der Menschheit – mit der Atombombe und im Kalten Krieg im Hinblick auf die Möglichkeit der militärischen Zerstörung aller menschlichen Lebensgrundlagen, heute im Hinblick auf den Klimawandel als Kulminationspunkt ökologischer Gefährdungen. Beide Gefahren sind reale Gefahren – aber auch auf einem Abstraktionsniveau, das nicht wirklich in die konkreten Konfliktlinien der Gesellschaft durchschlägt, selbst wenn sowohl die damalige Friedensbewegung als auch die heutige Klimabewegung zu den sichtbarsten Formen katastrophischer Proteste gerannen. Genau besehen aber gruppieren sich die Grundkonflikte der Gesellschaft wenigstens im industrialisierten Westen der Weltgesellschaft um die Frage, mit der ich diese Überlegungen eingeführt habe: mit der Frage nach dem Platz, den der Einzelne in solchen Gesellschaften hat oder beanspruchen kann. Es geht hier weniger um die Überlebensbedingungen der Menschheit als um das Überleben des Menschen als konkretem Exemplar.

Das ist kein modernes Phänomen, sondern eines der Bezugsprobleme gesellschaftlicher Ordnungsbildung überhaupt. Alles Gesellschaftliche muss irgendwie dafür sorgen, menschliches Leben an sich binden zu können – das ist ein universales Bezugsproblem, für das es historisch sehr unterschiedliche Lösungen gab, die allesamt mit der Struktur der Gesellschaft selbst zu tun hatten. In frühen stammesgesellschaftlichen Formen wurde das Problem etwa durch eine spezifische Form der Anwesenheit und Reziprozität gelöst. Menschen lebten in kleinen Gruppen, und Tätigkeiten waren so aufeinander bezogen, dass sie die Kontinuität ihrer Tätigkeiten durch reziproke Formen der Arbeitsteilung gelöst haben. In einer solchen Gesellschaft gab es zwar auch ausdifferenzierte Rollen und erste Hierarchieebenen, aber die Kontinuität eines Lebensverlaufs folgte fast vollständig der sozialen Position der einzelnen Individuen. Hier hatte jeder Mensch einen Platz, zum Teil gebrochen durch Alters- und Geschlechtsdifferenzierung ähnlicher Segmente. Kontinuität war leicht herzustellen, weil die Gesellschaft selbst kaum Diskontinuität kannte. Diskontinuität kam nicht von innen, sondern von außen – als Natur, als Angriff von Feinden oder als Veränderung ökologischer Bedingungen. Das Überleben der Gruppe und das Überleben der Einzelnen war gewissermaßen vollständig parallelisiert – und die Kontrollverhältnisse waren wenig komplex, schon weil eine solche Gesellschaftsstruktur für die Eigenentscheidung von Individuen so gut wie keine Verwendung hatte.

Diese Art von Lösung änderte sich spätestens dort, wo Arbeitsteilung stieg und Komplexität schon dadurch wuchs, dass sich Herrschaftsräume ausweiteten, Hierarchien zunahmen und symbolisch vermittelt werden mussten sowie Gesellschaften schlicht größer wurden. Solchen Gesellschaften gelang es, sich selbst intern zu integrieren, indem sie die Menschen selbst gar nicht als Menschen, sondern vollkommen eindeutig mit ihrer sozialen Position verschmelzen ließen. In historisch grober Ungenauigkeit gesprochen, ist das gewissermaßen der Ausgangspunkt jener ständischen Ordnungen, die Menschen eineindeutige Orte zugewiesen haben und nicht einmal auf die Idee kommen konnten, das »Ungleichheit« zu nennen, weil der Horizont von Gleichheit gar nicht erst auftauchen konnte. Ständische Ordnungen sind Ordnungen, die das erwähnte Bezugsproblem dadurch lösen, dass jede und jeder eindeutig weiß, wo er oder sie hingehört – weitgehend alternativlos. An den Körpern ihrer Existenz hing zugleich der soziale Ort – und die Lebensweise war bestimmt durch die Produktions- und Herrschaftsbedingungen, in denen sich die Individuen bewegten.

Der Nachteil dieser Lösung bestand darin, dass solche Modelle der eindeutigen Zugehörigkeit den Ort der konkreten Person in einem einseitigen Kontrollverhältnis bearbeiten konnten. Der Vorteil dieser Lösung bestand gleichzeitig darin, dass die Kontrollverhältnisse eindeutig waren. Nimmt man de Maistres Kritik an der Revolution ernst, dann ist es eine Kritik daran, dass mit der Aufgabe dieses Ordnungsmodells exakt jenes Kontrollverhältnis verschwindet. De Maistre war kein Romantiker – er glaubte nicht an die Göttlichkeit einer konkreten Ordnung. Er war einer der ersten Soziologen – und als solcher erkannte er die Funktion eines eindeutigen Kontrollverhältnisses: Wenn eine Gesellschaft nicht mehr die Tradition ihrer hierarchischen Gliederung anerkennt, wird sie ordnungslos, weil die Kontrollverhältnisse aus den Fugen geraten. Wie die romantische Variante dieser Diagnose aussieht, habe ich mit der Jenaer Romantik angedeutet: alle Gegensätze (Natur/Geist, Herrscher/Untertan, Mann/Frau usw.) zu überwinden, ohne aber klare Hierarchien infrage zu stellen.

 

Dass solche Denkungsarten an der Schwelle zur Moderne entstanden, ist eine Reaktion auf ihr Scheitern. Die interne Differenziertheit und Komplexität der Gesellschaft schließt solche eindeutigen Kontrollverhältnisse geradezu aus – nur um neue Kontrollverhältnisse zu etablieren, die aber nicht mehr von jener Latenz und jener primordialen Kraft leben konnten wie zuvor. Man kann es an den gesellschaftlichen Veränderungsstichworten des 19. Jahrhunderts festmachen: der Nationalstaat als komplexe Verwaltungseinheit mit starken bürokratischen Planungshorizonten; die Entstehung des Betriebskapitalismus als völlig neue Form der Organisation von Arbeitsteilung; die unter anderem daraus folgende Urbanisierung der Zentren; die Entstehung von Familienformen mit stabilen Geschlechterrollen; die Etablierung von Bildungskarrieren; die Gestaltung von sozialer Ungleichheit als staatlicher Aufgabe und die Entstehung der »sozialen Frage«; das rechtliche Gleichheitsversprechen bei gleichzeitiger ungleicher Verteilung von Lebensmöglichkeiten sowie die Verwissenschaftlichung des Wissens und so weiter.

Wahrscheinlich waren die Lebensverhältnisse in früheren Mangelgesellschaften für den Großteil der Bevölkerung erheblich schwieriger, aber das Verhältnis von individuellem Überleben und gesellschaftlicher Dynamik war sicher einfacher, zumindest einfacher zu verstehen und einfacher in dem Sinne, dass es wenig Alternativen der je individuellen Lebensgestaltung gab. Eine moderne, hoch arbeitsteilige, funktional differenzierte Gesellschaft musste diese Form der Lebensgestaltung je neu erfinden – und deshalb wurde auch die Schaffung konkreter Orte für das Leben der Menschen zum entscheidenden Gestaltungsthema gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Um eine unvollständige Liste solcher Gestaltungsfragen zu formulieren:

•Die Verbetrieblichung des Kapitalismus und die Organisation von Arbeit etwa mussten das Problem lösen, dass der kleine Beitrag des Einzelnen ökonomisch so viel Mittel abwerfen konnte, dass Personen in der Lage sind, davon zu leben.

•Diese Versorgungsleistung musste sich einerseits auf einem Markt selbst regulieren, andererseits stark genug sein, um Lebensverhältnisse zu etablieren, die Massenloyalität ermöglichten.

•Massenloyalität, auch vor dem Resonanzraum einer entstehenden Öffentlichkeit, ist in einer Demokratie nötig, die langsam erst allen Männern, viel später auch Frauen das Wahlrecht übertrug und das Risiko einging, Herrschaft vom Willen des Volkes abhängig zu machen.

•Das Bildungssystem musste zweierlei leisten – möglichst gute Bildung für die unterschiedlichen Klassen und Schichten, aber eben nicht zu viel davon, um die Schichtung der Gesellschaft durch ungleiche Zuweisung von Positionen stabilisieren zu können.

•Die Erfindung von Kindheit und Jugend als Bildungs- und Vorbereitungszeit versorgt das gesellschaftliche Personal mit ausreichend Komplexität für die Lebensführung.

•Die Versorgung der Gesellschaft mit Massengütern für Massen, die diese Güter nicht selbst herstellen.

•Eine Sozial- und Wirtschaftsplanung.

•Die Organisation von Daseinsvorsorge und Finanzierung von Ausfallzeiten, etwa durch Unterstützungs- und Versicherungssysteme.

•Was oft vergessen wird: Die Organisation der Daseinsvorsorge durch Sozialpolitik, Umverteilung und Formen der Anspruchsberechtigung konzentriert sich auf die Erreichbarkeit eines nationalen Rahmens, der erst Gestaltung und Planung, Kontrolle und Limitierung möglich macht.

•Das Erfolgsmodell der »Nation« als dem entscheidenden Schema der räumlichen Begrenzung von Einflusssphären nutzt zwar kulturelle Chiffren von Überlieferungen, Codierungen und Traditionen, hat aber vor allem den Sinn, Gestaltungsräume voneinander abzugrenzen und »Gesellschaft« als Raum der Limitation von Zugehörigkeit wie auch der Etablierung von Konflikten als Öffentlichkeit zu inszenieren.

•Die Erfindung des Inländers und des Fremden als exklusive Kategorien reguliert die Zugehörigkeit zum Volkskörper.

•Der Staatsbürgerstatus oder Derivate davon, die Aufenthaltsrecht und damit Lebensplanung ermöglichen, sind gewissermaßen das direkte Korrelat der Notwendigkeit, dass das Leben nicht einfach stattfindet, sondern sowohl aktiv geführt als auch passiv ermöglicht und staatlich kontrolliert werden muss.

Wie bereits erwähnt: Diese Liste ist nicht vollständig und zugegebenermaßen allzu technokratisch beschrieben. Aber sie macht eines deutlich: Sie reagiert auf eine Gesellschaft, die die Orte definierte, an denen sich Personen aufgehalten haben und die die Kontinuität ihres Lebensverlaufs selbst herstellen mussten – man nannte das »Lebensführung« –, ohne dass dies in der Gesellschaftsstruktur selbst verankert war. Das Entscheidende ist, dass gesellschaftliche Modernität bedeutet, dass die unterschiedlichen Elemente, die so etwas wie Orte der Lebensführung erzeugen, vergleichsweise unkoordiniert waren und eigens hergestellt werden mussten. Die Komplexität der modernen Gesellschaft war und ist darauf angewiesen, nicht zu viel festzulegen. Die Leistungsfähigkeit gerade der industriegesellschaftlichen westlichen Moderne bestand darin, dass Differenzierungsprozesse und die Unterbrechung von strikten Kontrollverhältnissen erst jene Kreativität und Flexibilität ermöglicht haben, die die Basis für die Selbstanpassung der Gesellschaft an ihre interne Dynamik ermöglicht hat.

Kontrollverhältnisse

Es geht um Kontrollverhältnisse. Gesellschaften unseres Typs verzichten auf starke Kontrollverhältnisse – sie reagieren auf Komplexität etwa mit der Erfindung des Individuums, das sich in den unterschiedlichen Ansprüchen der Gesellschaft selbst zurechtfinden darf und muss. Die Freiheitssemantik dockt an beide Erfahrungen an: Es ist im bürgerlichen Sinne frei, denken zu dürfen, was es will, Entscheidungen selbst zu treffen und Verantwortung für das Leben zu übernehmen; in Marx’scher Diktion ist es anders als der Sklave frei, seine Arbeitskraft auf den Markt zu tragen, aber eben auch frei von der Verfügung über die Produktionsmittel. Darin wird deutlich, wie die Gesellschaft gerade durch Verzicht auf eindeutige Kontrollverhältnisse das eigene Komplexitätsproblem löst – sie kann den freien Arbeiter/das freie Individuum ebenso loswerden, wie sich bisweilen von der freien Meinung ihres Personals unabhängig machen. Sie kann genügend Komplexität aufbauen, weil Freiheit Variation und Flexibilität aufbaut und ermöglicht, sie muss deshalb keine zu kompakten Lebensverhältnisse schaffen, in denen alles vorstrukturiert ist. Sie verzichtet damit auf quasi natürliche Ordnungen, muss aber mit der Volatilität ihrer eigenen Dynamik umgehen.

Das Individuum ist in diesem Sinne nicht unteilbar, sondern letztlich, wieder mit Marx gesprochen, ein »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«. Das Individuum steht nicht der Gesellschaft gegenüber, sondern wird durch seine Individualität von der Gesellschaft erzeugt – und zwar in differenzierter Vielfalt: Das Rechtssystem erzeugt ein zurechnungsfähiges Rechtssubjekt, Arbeitsmärkte erzeugen Karrierewege und damit individuelle Berufsbiografien, Produktmärkte erzeugen den individuell entscheidenden Konsumenten, die politische Öffentlichkeit verlangt politische Bekenntnisse und Wahlstimmen von jedem und jeder Einzelnen, der Staat macht aus Menschen Bürger, das Bildungssystem erzeugt Persönlichkeiten und einen Habitus der Langsicht im Hinblick auf spätere Tätigkeiten, die Medizin erzeugt eine Orientierung an der eigenen Körper-/Krankheitsgeschichte, die Massenmedien versorgen die Einzelnen mit Bildern und Chiffren, wie man sich als Individuum beschreiben und darstellen kann, und selbst die Religion verlangt in unseren Zeiten eine bewusste individuelle Entscheidung für Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit. Selbst die Erlösungsfähigkeit wird individualisiert.