Kursbuch 203

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Sari: Kursbuch #203
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Der Zusammenhang dieser unterschiedlichen Individualisierungsformen aber wird nicht durch kompakte Orte hergestellt. Zwar erzeugt die Gesellschaft erhebliche soziale Ungleichheiten, Milieus und sehr unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten, aber das ist eher das Ergebnis als die Voraussetzung der gesellschaftlichen Dynamik. Das moderne Versprechen, dass jeder und jede etwas werden kann, heißt eben auch, dass nicht jeder und jede auch etwas wird. Das ist das Bezugsproblem einer Gesellschaft, die darauf angewiesen ist, Individuen einerseits stark gesellschaftlich zu formieren, andererseits aber auch ausreichend unterbestimmt zu lassen.

Will man es systemtheoretisch formulieren: Dem Gesellschaftssystem und den Organisationssystemen stehen Mechanismen wie Differenzierung, Gleichzeitigkeit, Unterbrechungen, Selbstzerstörung von Strukturen, evolutionäre Brüche und radikale Beschleunigung zur Verfügung. Psychischen Systemen, den Körpern von Menschen, aber auch auf Langfristigkeit gebauten Versorgungsbeziehungen (wie Elternschaft, Pflege) stehen diese Mechanismen nicht zur Verfügung. In der Forschung der 1980er-Jahre hat man für die industriegesellschaftliche Moderne von der »Institutionalisierung des Lebenslaufs«6 oder von einem institutionengestützten »life course«7 gesprochen. Gemeint war die versicherungstechnische, institutionelle, sozialpolitische, gesetzliche, arbeitsorganisatorische und auch mentale Herstellung von Kontinuität in einer diskontinuierlichen Welt.

Die großen politischen Spieler der westlichen Länder gruppierten sich fast nur um diese Frage:

•Für Konservative ging es um die Rettung sogenannter gewachsener Lebensformen und die Verteidigung einer überkommenen Schichtung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Anerkennung der modernen Komplexität, die sie vor allem durch Rekurs auf die imagined community der Nation als Einheit simulieren, die die Gesellschaft nicht ist. Die semantische Übersteigerung der Nation reagiert auf die Unmöglichkeit, mit ihr das zu kompensieren, was der Konservatismus für die eigene Tradition hält. Deshalb ist der Konservatismus eine eminent moderne politische Form, weil er eine semantische Problemlösung für Modernisierungsfolgen anbietet. Die Staatsnähe des Konservatismus ist eine Nähe zum Staat als Garant einer gewachsenen Ordnung, wozu meistens auch die Wirtschaftsordnung gehört, dazu gehört auch die Etablierung sozialpolitischer Maßnahmen – gerade in Deutschland deutlich an den unterschiedlichen Quellen in der katholischen und auch evangelischen Soziallehre einerseits, in der sozialistischen andererseits. Konservative Formen der Herstellung von Kontinuität sind Formen, die an Strukturen ansetzen, die in der Gesellschaft bereits als vorhanden gelten: regionale Traditionen, Berufsstände und familiale Kontinuitäten.

•Für die Sozialdemokratie oder sozialistische politische Akteure ging es noch expliziter um die Herstellung von Kontinuität in einer diskontinuierlichen Wirtschaftswelt. Es ging darum, trotz Volatilität von Märkten eine Lebens- und Versorgungsperspektive für die arbeitenden Menschen zu ermöglichen. Es ging um die Erzeugung von Kontinuität, weswegen solche Parteien in der Vergangenheit tatsächlich mehr als nur politische Organisationen waren, sondern auch Bildungs- und Kulturorganisationen als Identitätsangebot für diejenigen, die frei von traditionellen Versorgungsstrukturen waren. Klassische sozialdemokratische Politik zeichnete sich durch eine größere Bereitschaft zur Umverteilung aus.

•Der politische Liberalismus schließlich stand einerseits für Abwehrrechte gegen einen autoritären Staat, andererseits für die Idee, der Volatilität und Eigendynamik der Gesellschaft und den ordnungsbildenden Kräften des Marktes zu vertrauen. Der Liberalismus war auf der einen Seite eine starke Freiheitsbewegung, die von der Kritik der Bevormundung durch den Staat, die Kirche, durch Traditionen und tradierte Lebensformen geprägt ist. Darin ist der klassische Liberalismus vor allem an den Bürgerrechten orientiert. Andererseits neigt er bisweilen zu einer merkwürdigen Anfälligkeit für rechte Ideologien, weil eine der Konsequenzen eines staatsfernen Liberalismus dem Recht des Stärkeren und der Verdrängung des Schwachen nahesteht.

Genau gesehen gruppieren sich die zentralen politischen Konflikte noch immer um diese Formen, die Zugehörigkeiten, Zeitperspektiven und Kontinuitäten auf unterschiedliche Weise erzeugen wollen. Diese Differenzierung von politischen Bewegungen folgt letztlich einem einzigen Bezugsproblem: der Positionierung und Kontinuität von Leben in einer volatilen, ausdifferenzierten Gesellschaft. Die Lösungen sind unterschiedlich, aber das Bezugsproblem ist dasselbe.

Die Krise der klassischen Parteien, wie sie hier als konservative, sozialdemokratische und liberale Formen idealtypisch aufgelistet sind, liegt dann womöglich viel weniger an der Krise der konservativen, sozialdemokratischen oder liberalen Variante, sondern an einer Krise der politischen Konflikte. Die klassische westliche nationalstaatliche Gesellschaft, die zumindest der weltgesellschaftliche »Westen« seit dem 19. Jahrhundert für das gesellschaftliche Grundmodell schlechthin gehalten hat, hat diese Bedingungen des Überlebens als ein Problem der vor allem staatlichen Herstellung von Kontinuität gehalten. Dass zur staatlichen Aufgabe des Nationalstaates die Organisation einer dauerhaften Ordnung gehört, einer Ordnung, die erwartbare Abläufe sichert und Massenloyalität erzeugt, weist auf dieses Bezugsproblem hin. Die katastrophischen Teile der gesellschaftlichen Moderne haben stets etwas mit dem Problem zu tun gehabt, diesen Ort der Ordnung in Abgrenzung zu anderen zu etablieren. Dazu gehört die nationalistische Erfindung von communities8 als Ersatzorte für eine multizentrische Welt, die Erfindung des Fremden und die fast universale Etablierung des Antisemitismus und des Rassismus/Kolonialismus. Dazu gehören die totalitären Versuche der Gesamtsteuerung der Gesellschaft in ihrer faschistischen, nationalsozialistischen, aber auch in ihrer kommunistischen Variante. Diese Krisenformen der Moderne haben letztlich alle dort angesetzt, wo es um die Überlebensbedingungen des eigenen Personals ging – allesamt gepaart mit der historischen Ironie, dass diese Überlebensregime besonders viele Todesopfer durch Kriege, Vernichtung und Hungersnöte erzeugt haben. Sie sind allesamt keine Dementierung der Moderne, sondern laborieren direkt an ihrem Bezugsproblem, der Herstellung von Kontinuität in einer volatilen Welt.

Das Ende des »Goldenen Zeitalters«

Eric Hobsbawm hat die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa und Nordamerika als eine Art »Goldenes Zeitalter« bezeichnet. Vielleicht ist es damals noch am ehesten gelungen, ökonomische, politische, rechtliche und kulturelle Aspekte so miteinander zu verbinden, dass sich ökonomische Potenz und langfristige Versorgungsbeziehungen, Zugehörigkeiten und Weltoffenheit, geschlechtliche Arbeitsteilung und Bildungsorientierung miteinander verbinden ließen. Vielleicht liegt es an der Kombination einer industriellen Produktionsweise, die schon investitionstechnisch auf Langfristigkeit angelegt und zugleich auf langfristig verwertbare Arbeitskraft angewiesen war, mit den Kontinuitätserwartungen von Lebensformen und nationalstaatlicher Entscheidungsautonomie.

Diese Bedingungen geraten unter Druck: nationalstaatliche Autonomie, volatile Märkte mit tiefem globalem Vernetzungsgrad ebenso wie die durch Digitalisierung ungeklärte Frage des Beitrags der arbeitenden Menschen an der Wertschöpfung, die Frage der kulturellen Zugehörigkeit ebenso wie die Asymmetrie von Milieus und Geschlechtern haben diese Passung infrage gestellt. Jedenfalls zeichnet sich ab, dass die klassischen politischen Positionen nicht mehr genügend Konfliktpotenzial entfalten, um angesichts dieser Herausforderungen konkurrierende Lösungen für diese Überlebensfrage anzubieten. Zumindest sollte deutlich geworden sein, welche Sprengkraft die gesellschaftliche Institutionalisierung von Kontinuität und Überlebensbedingungen der Menschen birgt. Die Frage ist tatsächlich: Passen wir überhaupt in diese Welt?

Der Streit um die Identitätspolitik, der derzeit geführt wird, gehört übrigens direkt in diese Kategorie von Konflikt. Der Vorwurf gegen identitätspolitische Ansprüche lautet oft: Ihr kümmert euch nicht um die klassischen Konflikte der modernen Gesellschaft, um gerechte Verteilung von Gütern und Daseinsvorsorge, sondern nur um kulturelle Repräsentation. Und in der Tat geht es hier um Zugehörigkeiten und Anerkennungsverhältnisse, aber damit gehören sie geradezu in den klassischen Kanon der kontingenten und fragilen Herstellung von Orten, an denen sich Personen bewegen können. Denn gerade die Komplexität der Gesellschaft und ihre Indifferenz für konkrete Lebenslagen erzeugen geplante und ungeplante Strukturierungen von Zugehörigkeit und Anerkennung in bestimmten Räumen. Identitätspolitische Fragen docken vor allem an zugeschriebenen Merkmalen an – am Geschlecht, an der ethnischen Herkunft, an der Hautfarbe oder an der sexuellen Orientierung, und damit versuchen sie letztlich ähnliche Probleme zu lösen wie frühere Institutionenarrangements.

Weist das womöglich in die Richtung, in der Gesellschaften in Zukunft dieses Bezugsproblem lösen? Vielleicht – und wenn ja, wären das völlig andere Konstellationen als die bisherigen. Vielleicht sind sie auch nur ein Übergangsphänomen dort, wo die klassischen Institutionenarrangements noch einigermaßen funktionieren – deshalb ist die entsprechende Trägergruppe solcher Debatten auch eher weniger nah an der ökonomischen Wertschöpfungskette und doch in ökonomisch vergleichsweise stabilen und wenig volatilen Zusammenhängen zu finden. Vielleicht ist es ein Übergangsphänomen. Und vielleicht ist es eher das chinesische Modell, das sich durchsetzen wird, in dem der Zusammenhang von Individualität und Kontrolle ganz anders gelöst wird, aber eben auch über eine starke Semantik der Zugehörigkeit.

 

Zum Schluss: Überleben mit dem Virus

Die weltweite Covid-19-Krise ist ein guter Indikator für die Frage des Überlebens – im unmittelbaren Sinne. Man kann hier die unterschiedlichen Ergebnisse solcher institutioneller Überlebensarrangements in unterschiedlichen sozialpolitischen Regimes besichtigen – der eklatante Unterschied der Auswirkungen der gegenwärtigen Krise in den Vereinigten Staaten und etwa in Deutschland liegt nicht nur an den politischen Akteuren, sondern vor allem daran, wie unterschiedlich in den beiden Ländern so etwas wie ein Kontinuitätsmanagement des Überlebens ermöglicht wird. In Deutschland zahlt sich der stabile Sozialstaat ebenso aus wie eine robuste Förderpolitik für bestimmte Branchen. Das weitgehend frei zugängliche Gesundheitssystem und das Kurzarbeitergeld sind zwei Beispiele für die auch kurzfristige Bearbeitung von Diskontinuitäten zur Aufrechterhaltung von Strukturen – von unternehmerischen Strukturen ebenso wie von Strukturen zur Herstellung persönlicher Kontinuität. Die Unterschiede sind hier eklatant. Das US-Modell mit einer kaum wirksamen Sozialpolitik und einer für viele unzugänglichen medizinischen Versorgung trotz der wohl weltweit besten Hochleistungsmedizin stellt Überlebensbedingungen in Krisensituationen schlicht infrage. Zugleich erzeugt ein solches Arrangement eine deutliche strukturelle Ausgrenzung wohldefinierter Gruppen aus den Leistungsbereichen des Bildungs- und des Medizinsystems, aber auch im Hinblick auf ökonomische Sicherheit und Sicherheit für Leib und Leben.

An der Covid-19-Krise lässt sich jedenfalls die Fragilität gesellschaftlicher Überlebensarrangements gut ablesen – und damit ist nicht nur die medizinische Überlebensfrage gemeint. Wie sehr die Kontinuität unseres Lebens und ihrer erwartbaren Strukturen von vielfältigen und komplexen Bedingungen und Regelkreisen abhängig ist, lässt sich daran beobachten, wie schnell ökonomisch stabile Strukturen und mit ihnen Arbeitsplätze verschwinden, wenn der cashflow nur für kurze Zeit unterbrochen wird, wie sehr der cashflow davon abhängig ist, dass man als Kunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann, wie selbst einfache Produktionsketten davon abhängig sind, dass Zulieferung aus anderen Regionen und Ländern sichergestellt ist, wie sehr die Geschlechtergleichheit davon abhängig ist, dass Kinderbetreuungseinrichtungen geöffnet haben und wie sehr deren Öffnungszeiten von der Kontakthäufigkeit der Kinder und des Betreuungspersonals an anderen Orten abhängig sind. Man sieht in der Krise, wie die Familie als Kontinuitätsraum von der Diskontinuität der Kontakte ihres Personals abhängig ist, um nicht überlastet zu werden. Und man lernt, wie radikal die Unterbrechung von Bildungsprozessen Aufmerksamkeit erzeugt. Wir lernen in der Krise, wie existenziell wichtig zum Teil schlecht bezahlte Berufe im Einzelhandel, in der Krankenpflege und in der Müllabfuhr für die Kontinuität des Alltagslebens sind. Und wir werden sichtbar darauf aufmerksam gemacht, wie sehr private Versorgungs- und Pflegeleistungen geradezu Bedingung der Möglichkeit einer funktionierenden Lebensform sind. Wir lernen sogar, dass der sinnlose Konsum von Dingen, die niemand braucht, von der Wirtschaft gebraucht wird, um jene Kontinuität von Geldfluss herzustellen, der auch kontinuierliche Lebensformen zumindest für die erzeugt, die nicht über hohe Vermögen verfügen. Und wir lernen, wie abhängig wir von Infrastrukturen der Energie-, Geld-, Wasser-, Arzneimittel- und der Nahrungsmittelversorgung sind. Zugleich erleben wir, wie schwer jene Umstellung unserer Lebensform zu bewerkstelligen ist, die für die Bewältigung etwa des Klimawandels notwendig ist, ohne die Interdependenzen jener fragilen Wechselwirkungen infrage zu stellen. Die Krise lässt jedenfalls diese Grundfrage der gesellschaftlichen Moderne sehr sichtbar werden: Passen wir überhaupt in diese Welt? Die Antwort lautet streng genommen: Nein. Das wussten offensichtlich schon die Romantiker und die Gegenaufklärer vor 200 Jahren.

Anmerkungen

1 Zur philosophischen Frühromantik vgl. Manfred Frank: »Unendliche Annäherung«. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt am Main 1998.

2 Vgl. Joseph de Maistre: Von der Souveränität. Ein Anti-Gesellschaftsvertrag. Berlin 2016, S. 8.

3 Vgl. Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Berlin 2013.

4 Vgl. dazu Hans Rosling: Factfulness. Berlin 2018.

5 Vgl. dazu Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft, 3. Aufl. Hamburg 2019, S. 106 ff.

6 Vgl. Martin Kohli: »Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), S. 1–29; ders.: »Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Ein Blick zurück und nach vorne«, in: Jutta Allmendinger (Hrsg.): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Opladen 2003, S. 525–546.

7 Vgl. John W. Meyer: »The Self and the Life Course. Institutionalization and its Effects«, in: A. Sorensen et al. (eds.): Human Developement and the Life Course. Hillsdale 1986, S. 199–216.

8 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York 1983.

Andrea Römmele

Was wäre, wenn …?

Drei Szenarien zum Überleben der Demokratie

Wir Menschen neigen gerne dazu, manche Dinge verhältnismäßig schnell für selbstverständlich zu halten. Wir gewöhnen uns etwa an einen bestimmten Lebensstil, ein Gehalt oder unseren Partner. Vor allem bei Kindern lässt sich beobachten, wie die volle Aufmerksamkeit oft auf ein bestimmtes Spielzeug gerichtet wird, dessen Erhalt für kurze Zeit als Erfüllung erlebt wird. Schnell verblasst jedoch die Erinnerung an das Verlangen, das mit dem Wunsch verbunden war. Die Folge: Die Aufmerksamkeit richtet sich auf etwas Neues, oder das Erhaltene verliert langsam an Reiz. Man möchte es zwar nicht unbedingt missen, aber es fällt einem zunehmend schwer, die eigene Faszination, die ursprünglich damit verbunden war, nachzuvollziehen.

Das gilt auch für unsere Demokratie. Damit meine ich allerdings nicht, dass wir ihr gerade überdrüssig werden, sondern dass sie uns als etwas Gegebenes erscheint. Folgt man dem Democracy Index, lebt nicht einmal die Hälfte der Weltbevölkerung aktuell in einer Demokratie. Auch in Deutschland stellt die Demokratie (noch) historisch betrachtet eher die Ausnahme als die Regel dar. Wir sollten deshalb unbedingt Abstand nehmen, die Demokratie und ihr Fortbestehen als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Vieles, was für heutige Generationen quasi natürlich erscheint, ist und bleibt politisch. Und was politisch ist, ist immer in Bewegung. Unser Parlament selbst wählen zu können, ist für den Großteil unserer Gesellschaft nichts Besonderes. Machen wir uns aber bewusst, wie verhältnismäßig kurz der Zeitraum ist, seit dem uns allen (Männern und Frauen, im Westen und im Osten) dieses Recht zusteht, wird deutlich, dass das, was uns alltäglich erscheint, nicht die Regel, sondern eine gewaltige Ausnahme ist.

Die letzten Jahre im Allgemeinen und das Jahr 2020 im Besonderen haben uns (mal wieder) mit voller Wucht vor Augen geführt, dass unser Leben – auf individueller, gesellschaftlicher und politischer Ebene – nicht wirklich planbar ist. Nicht zuletzt die rasante Ausbreitung des Corona-Virus und seine unabsehbaren Folgen haben gezeigt, dass wir nichts für selbstverständlich nehmen können. Quasi ohne Vorwarnung hat ein Virus dazu geführt, dass Grenzen in Europa geschlossen, Einreiseverbote verhängt und elementare Grundrechte eingeschränkt wurden. Dinge, die zuvor noch unvorstellbar erschienen, waren plötzlich Teil unseres neuen Alltags. Zwei Dinge wurden uns rasant vor Augen geführt:

1.Was uns selbstverständlich erscheint, ist es nicht.

2.Was uns alternativlos erscheint, ist es nicht.

Das hat Folgen. Alles, was politisch beschlossen wurde, kann wieder revidiert werden, und alles, was politisch beschlossen werden könnte, kann auch beschlossen werden. Darin steckt Chance und Gefahr zugleich. Es macht Hoffnung, dass die großen Herausforderungen und Krisen, vor denen wir zweifellos stehen, bearbeitet werden können, es unterstreicht aber auch die Fragilität all dessen, was uns wichtig ist. Wer hätte Ende 2019 voraussagen können, was uns 2020 in welcher Radikalität beschäftigen wird? Und wer könnte mit Gewissheit sagen, dass der nächste radikale Bruch nicht kurz bevorsteht? Genau hier liegt der interessante Ausgangspunkt weiterführender Überlegungen, um unsere Gegenwart besser zu verstehen. Auch wenn Covid-19 hoffentlich bald aus unserem alltäglichen Leben verschwindet, werden wir uns in der nahen und fernen Zukunft mit großen Umbrüchen auseinandersetzen müssen, die uns vor Augen führen werden, dass Selbstverständlichkeit und Alternativlosigkeit in der Politik immer nur Konstrukte sind. Immer wieder werden wir mit Ereignissen konfrontiert werden, die uns ihrerseits mit Fragen konfrontieren, wie sie unser Zusammenleben verändern werden. Wie wird sich unsere Gesellschaft verändern? Wird es noch eine Demokratie sein? Wird unsere Demokratie dadurch bedroht oder vielleicht sogar gestärkt?

Eines ist sicher: Unsere Demokratie wird auf die Probe gestellt werden. Durch Veränderungen von innen und von außen. Demokratie kann letztlich durch demokratische Entscheidungen sogar abgeschafft werden. Wie könnte ein demokratischer Angriff auf die Demokratie aussehen? Hätte unsere Demokratie etwas entgegenzusetzen? Und wie widerstandsfähig oder – wie man in der Politikwissenschaft sagt – »resilient« ist unsere Demokratie? Wir können uns nicht einfach auf die Demokratie verlassen, sondern müssen versuchen, sie möglichst widerstandsfähig zu machen. Wir müssen uns heute mit den potenziellen Bedrohungen von morgen auseinandersetzen, um möglichst gut vorbereitet zu sein.

Die Zeit der großen Ideologien, mit ihrem Anspruch, die Zukunft grundlegend zu gestalten, ist vorbei. In einer ausdifferenzierten, globalisierten und individualisierten Welt ist jeder Versuch, die Zukunft zu kontrollieren, zum Scheitern verurteilt. Einschneidende Ereignisse, die den Lauf der Dinge fundamental verändern können, werden zahlreicher, sind schwerer vorherzusehen und in ihrer Bewertung komplexer geworden. Je geringer der Gestaltungsanspruch an die Zukunft wird, desto spannender wird die Frage, unter welchen möglichen Bedingungen man zukünftig handeln muss. Wir können zwar keine Vorhersagen treffen, welchen konkreten Herausforderungen unsere Demokratie in den nächsten Jahren begegnen wird, aber wir können uns damit beschäftigen, unter welchen Bedingungen es geschehen könnte. Denn Veränderungen passieren nicht nur unerwartet und schlagartig, sondern auch prozesshaft und langsam. Diesen Trends können wir nachspüren und so versuchen, Aussagen zu treffen, wie sich das Gerüst entwickelt, das unsere Gesellschaft trägt. Wir finden solche Trends in verschiedenen politischen Problemfeldern, wir können sie in unterschiedliche Richtungen weiterdenken und daraus Szenarien konstruieren, die in einer hochkomplexen Welt und unübersichtlichen Verhältnissen unterstützen können, zumindest ein wenig den Überblick zu bewahren.

Im Folgenden möchte ich die Methode der Szenarien in Politik und Wissenschaft vorstellen und sie dann an drei Beispielen kurz durchexerzieren. Dabei werden zentrale Trends und Akteure identifiziert und ihre möglichen Entwicklungen diskutiert. Es geht mir in erster Linie darum, eine Methodik zu skizzieren, mit der man verschiedene Zukunftsoptionen perspektivendifferenziert beschreibt. Mir ist seit Längerem klar: Mögliche und nicht einmal unwahrscheinliche Ereignisse können unsere Demokratie mehr denn je einmal in eine gefährliche Schieflage bringen, aber andererseits auch zu neuen Chancen führen – je nach Perspektive.

Die Szenariomethode

In großen Szenarien zu denken, ist aktuell en vogue, besonders nach dem Wahlsieg von Donald Trump, dem Ausgang des Brexit-Referendums und der Corona-Krise. Alle diese Ereignisse kamen unerwartet und haben ungeahnte Herausforderungen nach sich gezogen. Gerade in der Politik ist dieses Instrument eine willkommene Methode, um nicht gänzlich unvorbereitet zu sein. Auch mit Blick in die Vergangenheit ist sie ein nützliches Gedankenspiel. Historiker sprechen von der Uchronie – der alternativen oder kontrafaktischen Geschichte –, in der man fiktiv davon ausgeht, die Geschichte hätte an einem entscheidenden Punkt eine andere Richtung eingeschlagen. Was wäre dann geschehen? Doch die Geschichte ist in Tatsachen abgelegt, deswegen wollen wir den Blick in die Zukunft richten. In einer dynamischen, komplexen, vernetzten und beschleunigten Welt wird die Steuerungsfähigkeit von Politik geringer. Solche Verhältnisse erfordern Entscheidungen auf der Basis begrenzter Information und ein Mitdenken, ja das Vorausahnen von Veränderungen.

 

Die Szenariomethode kann helfen, zu verstehen, unter welchen Bedingungen verschiedene Versionen einer Situation eintreten könnten und wann an welchen Stellen für welche Akteure die Möglichkeit bestünde, steuernd in den Prozess einzugreifen, oder welche Änderungen helfen könnten, einen Trend zu stoppen. Bei der Szenariomethode geht es nicht darum, möglichst fantasievolle Blicke in die Glaskugel zu werfen. Sie sind eben nicht als Prognosen für die Zukunft zu verstehen. Die Menge an Akteuren und möglichen Einflüssen machen so etwas wie exakte Vorhersagen für Politik und Gesellschaft sowie in den Sozialwissenschaften quasi unmöglich. Es gibt überdies immer überraschende Wendungen der Weltgeschichte. Szenarien dienen vielmehr dazu, bestehende Trends weiterzudenken und in eine plausible Geschichte zu verpacken. Sie sind nicht aus der Luft gegriffen, werden aber auch nicht zwangsläufig eintreten. Ein bekanntes Beispiel sind die Szenarien des Club of Rome, der negative Trends weiterdachte und somit Aufmerksamkeit dafür schaffen konnte, dass bestimmte Änderungen notwendig seien, wenn das von ihnen entworfene Szenario verhindert werden sollte.

Die lohnende Frage lautet also: »Was wäre, wenn …?«

Damit ist man zwar immer noch nicht vor Überraschungen wie Donald Trump gefeit, aber so lässt sich versuchen, die Zukunft der Demokratie nicht gänzlich als Glücksspiel zu betrachten, indem die Anzahl möglicher Überraschungen zumindest reduziert wird. Es vermittelt uns einen Eindruck, wie gefährdet unsere Demokratie ist, aber auch, wo noch Potenziale zur Verbesserung schlummern. Dies möchte ich im Folgenden beispielhaft skizzieren. Die Szenarien werden dabei allerdings nicht zu Ende gedacht, sondern sollen nur als Denkanstöße dienen, um aufzuzeigen, warum sich die Beschäftigung mit ihnen lohnt.

Szenario 1: Peking an der Spree

Die Einschränkung von Grundrechten im Zuge der Bekämpfung der Corona-Pandemie hat unsere Demokratie eigentlich ganz gut überstanden. Die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit sind in großen Teilen wiederhergestellt. Wir können uns glücklich schätzen, in einem Land zu leben, in dem Einschränkungen wo nötig und erneute Lockerungen sobald wie möglich umgesetzt werden. Aber demokratische Prinzipien können ganz anders verloren gehen. Nicht durch Terror, nicht durch eine Pandemie, sondern schleichend und langsam. Gerade solche Szenarien zeigen Gefährdungen auf, die man andernfalls gar nicht bemerken würde.

Im Vergleich zu Staaten wie China, das innerhalb von drei Dekaden eine Milliarde Bürger aus der Armut gewuchtet hat, erscheint für so manchen Beobachter und Entscheider unsere Demokratie zu oft als zu behäbig, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Man kann es für vernünftig halten, dass man in einem Land lebt, in dem die sogenannte »Corona-App« Monate auf sich warten lässt und langwierige Debatten darüber geführt werden, bis Datenschutzbedenken ausgeräumt sind. Man kann aber auch neidisch auf andere Länder blicken, in denen vergleichbare Apps einfach eingeführt wurden und sich nicht über den Prozess ihres Zustandekommens, sondern ihren Effekt auf die Entwicklung der Pandemie rechtfertigten. Ist unser föderales, widerspenstiges und mit sogenannten Vetospielern gefülltes System vielleicht doch zu langsam für das 21. Jahrhundert? Klimawandel, Pandemien, technologischer Fortschritt – sind wir diesen Herausforderungen gewachsen oder brauchen wir »less talk, more action«?

Demokratische Entscheidungen legitimieren sich zum einen durch die sogenannte Input-Legitimität. Durch die Verfahren, in denen sie getroffen werden, und ihre Transparenz, durch die sich nachvollziehen lässt, wer warum welche Entscheidung auf welcher Grundlage getroffen hat. Werden bei ihrer Verabschiedung bestimmte Regeln eingehalten, kann diese Entscheidung für sich beanspruchen, demokratisch getroffen worden zu sein. Demgegenüber steht die Output-Legitimität von Entscheidungen. Sie wird erzeugt, wenn die Entscheidungen, die getroffen werden, denen, für die sie gelten, nutzen. Man schafft beispielsweise Vertrauen in einen Staat nicht darüber, dass er transparent und nach demokratischen Richtlinien funktioniert, sondern darüber, dass er besonders effizient ist und seine Bürger von ihm profitieren. Die Repräsentierten also ihre Interessen aufgrund der Politikergebnisse von den Repräsentanten als vertreten sehen.

Nicht nur der rasante Aufstieg Chinas, sondern auch die Forderungen nach einem »Update für die Demokratie« machen deutlich, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, wie sich unsere Gesellschaft entwickeln könnte, wenn wir einen solchen Weg einschlagen und dem Staat Instrumentarien an die Hand geben, die effiziente Durchgriffe erlauben, allerdings um den Preis demokratischer Input-Legitimation. Ohne Zweifel würde es einen starken Staat benötigen. Aber nicht einfach nur einen starken Staat, sondern vor allem eine starke Exekutive, die die Führung von vorne übernimmt. Eine starke Exekutive, die individuelle Freiheiten und demokratische Rechte zwar einschränkt, aber dafür soziale Sicherheiten weit über das derzeitige Maß hinaus garantiert. Eine Regierung, die sich weder von einer Opposition noch von widerspenstigen Bürgern aufhalten lässt. Gerade haben wir in der Corona-Krise erlebt, wie viele Unternehmen auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, um zu überleben.

Wäre es da nicht sinnvoller, den Staat gleich die Führung übernehmen zu lassen? Wenn er am Ende für die Risiken haftet, sollte er nicht auch mehr entscheiden und vor allem Zugriff auf die Gewinne haben? Es sind keinesfalls nur Anhänger von Kollektivierung und Verstaatlichung, die neidisch nach China gucken. Auch aus der freien Wirtschaft hört man neuerdings wieder Stimmen. Neidisch blickt man nach China, wo der Staat mit seinem gigantischen Machtregime ideale Bedingungen für die ansässigen Unternehmen schafft. Und verfolgte China vor Corona nicht mehr als ambitionierte Klimaziele? Ist Mitbestimmung überhaupt so nötig, wenn man ohne sie viel effizienter arbeitet?

Es lohnt sich, den Fragen nachzugehen, ob unser politisches System ein Update benötigt, um den existierenden und kommenden Herausforderungen gewachsen zu sein. Sind freier Markt und Demokratie Werte an sich oder können mit anderen Herangehensweisen noch mehr Werte geschaffen werden? Es sind Fragen, die sich nicht abschließend beantworten lassen, sondern zutiefst von Ethik, Philosophie und Moral geprägt sind. Gerade deshalb ist es umso sinnvoller, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen und Szenarien zu entwerfen, die uns ein Bild davon geben, welche Faktoren sie relevant werden lassen, was die Konsequenzen sein könnten, und vor allem, wie sich unsere Demokratie dagegen wappnen kann.

Szenario 2: Die Verengung der Radien

Aus erfahrbaren Trends lassen sich jedoch nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen ableiten. Positive Entwicklungen, denen man nachspüren kann, um Ideen zu entwickeln, an welchen Stellschrauben angesetzt werden müsste, um sie zur vollen Entfaltung zu bringen. So etwas begegnet uns beispielsweise häufig zu Beginn von Krisen, die immer wieder von verschiedenen Formen von nicht alltäglicher Solidarität begleitet werden. Dafür lassen sich unterschiedliche Ursachen finden. Die Corona-Pandemie hat beispielsweise für viele von uns die Welt ein ganzes Stück kleiner gemacht. Nicht nur, weil wir nicht mehr reisen konnten, Restaurants geschlossen wurden und wir uns die meiste Zeit in den eigenen vier Wänden aufhielten. Viele von uns haben gemerkt, was besonders fehlt – der Kontakt zu Familie und Freunden, die oftmals über den gesamten Globus verteilt leben. Selbst ein anderes Bundesland oder eine andere Stadt reichten aus, um ein Treffen unmöglich zu machen.

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