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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

Tekst
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

3 Lernen in Präsenz und virtuell – Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Die durch Digitalisierung möglichen Disruptionen können das Fremdsprachen­lernen grundsätzlich infrage stellen oder radikal verändern: Sprachassistenz­systeme werden die Bewältigung des elementaren kommunikativen Alltags in einer fremden Sprache, die man nicht gelernt hat, ermöglichen; die Dominanz des – sehr teuren – Lernens in Bildungsinstitutionen kann durch die Ausweitung der Möglichkeiten des informellen Lernens untergraben werden. Die institutionelle Fremdsprachenvermittlung, egal ob als Schulfach oder in speziellen Sprachschulen, wird sich mit diesen Herausforderungen in einer Weise auseinandersetzen müssen, die zu einer radikalen Änderung des bisherigen Fremdsprachenunterrichts führen wird.1

Ein Unterricht wie der hier analysierte, und wie die meisten im Jahr 2020 durchgeführten digitalisierten Unterrichtsstunden, hingegen bleibt Unterricht, er wird halt nur in digitalisierter Form durchgeführt: Es gibt weiterhin Interaktionen von Lehrenden und Lernenden und zwischen den Lernenden, es gibt weiterhin individuelles Arbeiten und Arbeiten in der Gruppe, es gibt Lehrmaterial, digitales ebenso wie gedrucktes, es gibt Stundenpläne, es gibt Lernziele und Prüfungsvorgaben usw. Einfach gesagt: Mitreißender, langweiliger, inhaltlich passender oder unangemessener Unterricht usw. wird nicht automatisch besser oder schlechter dadurch, dass er digital stattfindet.

Wer diesen Unterricht erforscht, befasst sich also weiterhin mit Unterricht. Es ist deshalb zunächst festzuhalten, dass im Gegensatz z.B. zu einer Analyse des Lernprozesses von Personen, die außerhalb des Klassenzimmers als Selbstlernende mit einem Programm wie Duolingo eine Fremdsprache lernen (vgl. Bui 2021), oder von Selbstlernern, die mit einer interaktiven animierten Grammatik arbeiten (vgl. Zeyer 2018), eine Analyse des digitalisierten Fremdsprachenunterrichts Teil einer langen Tradition der Analyse von Fremdsprachenunterricht ist.2 Und zu hoffen ist, dass, wenn die vielen auf die Pandemiesituation reagierenden Forschungsprojekte einmal alle ausgewertet sind, dann Ergebnisse vorhanden sind, die sich tatsächlich auf das Lernen von Fremdsprachen – und möglichst sogar auf das Lernen einer bestimmten Sprache – beziehen, so dass nicht wie bisher oft in der Diskussion um das Lernen mit digitalen Medien allgemeine Argumente aus der Medienpädagogik die Diskussion bestimmen.3

Unterricht in analogen Zeiten bestand häufig aus gemeinsamer Arbeit von Lehrenden und Lernenden im Klassenzimmer und individueller Nacharbeit – seltener vorbereitender Arbeit – in Form von Hausaufgaben. Die mit der Digitalisierung aufkommende Idee des Blended Learning behielt überwiegend diese Arbeitsteilung von gemeinsamer Arbeit und individueller Übung bei, terminologisch neu war, dass der Unterricht nun Präsenzunterricht hieß, um den Kontrast zur individuellen Arbeit mit digitalem Material herauszustellen. Diese simple Gegenüberstellung4 würde dazu führen, dass es seit Pandemiebeginn plötzlich kein Blended Learning mehr gäbe, weil Präsenzunterricht nicht möglich ist. In vielen Fällen ist jedoch nicht mehr geschehen als eine Digitalisierung des Präsenzunterrichts. Der Unterricht findet weiterhin synchron statt, Zeit und Ort sind von den Bildungsinstitutionen vorgegeben, die gewählte Sozialform ist weiterhin die des gemeinsamen Arbeitens in der Gruppe, aus der heraus Kleingruppen gebildet werden können5 und in die individuelle Stillarbeit integriert werden kann. Und Hausarbeiten, egal ob digital oder nicht, können weiterhin aufgegeben und gemacht werden. Geändert hat sich also nur der Lernort: Das Klassenzimmer befindet sich nicht mehr im Gebäude der Bildungsinstitutionen, es ist in den privaten Raum der Lernenden eingedrungen.

Bestimmte Rahmenbedingungen ändern sich also beim bloßen Wechsel von Präsenzunterricht in digitalisierten Unterricht nicht: die den Unterricht anbietende Bildungsinstitution, die dort vorhandenen Lehrpläne und Prüfungsorientierungen und meist auch die Festlegungen von Zeit und Ort des Unterrichts. Stark verändert sind hingegen Aspekte der Interaktion: Die Körpersprache der Anwesenden ist kaum wahrnehmbar, eine Lehrkraft, die viel mit ihren Händen kommuniziert, stellt fest, dass diese entweder nicht oder zu groß im Bild sind, ungewohnt oder sogar verunsichernd ist, dass man sich selbst sehen kann, und natürlich: Manchmal oder immer sind manche Teilnehmenden gar nicht sichtbar, sie werden durch eine Kachel6 repräsentiert.

Es scheint die Einschätzung, wenn auch noch keine quantitative Absicherung für diese Einschätzung aus Forschungsprojekten7 vorliegt, zu geben, dass mit digitalisiertem Unterricht eine Tendenz zu vermehrtem Frontalunterricht einhergeht. Das mag mehr mit der abrupten Umstellung auf digitalisierten Unterricht und dem für die Lehrkräfte damit verbundenen Zwang, sich neu in einen bisher fremden Bereich einzuarbeiten, zu tun haben, als mit der Tatsache, dass der Unterricht digitalisiert stattfindet. Schließlich existiert auch digital eine Vielfalt von Möglichkeiten des kooperativen und individualisierenden Arbeitens, die Lehrkräfte sich nach und nach erschließen können. Dabei kann der Unterricht mit Umfrage-Tools wie Kahoot8, Mentimeter9 o.ä., die sich an Interessen und Bedürfnisse der Lernenden anpassen lassen, ergänzt werden. Mit Mindmapping10 oder Flinga11 läuft ein Brainstorming zum Thema dynamisch und strukturiert. Die Einbindung von Audios und Videos in BlinkLearning ermöglicht eine einfache Handhabung des Lehrwerks im Online-Unterricht. Die folgende Analyse der Unterrichtsaufnahmen und Interviews wird eine erstaunliche Menge unterschiedlicher Lernmaterialien und Werkzeuge zeigen, die innerhalb des Unterrichts benutzt wurden.

4 Forschungsdesign und Besonderheiten der Datenerhebung

Der von uns begleitete Sprachkurs für studieninteressierte Geflüchtete fand dreimal in der Woche mit je zwei Unterrichtseinheiten im Zeitraum Mitte Mai 2020 bis Mitte August 2020 am Akademischen Auslandsamt der Universität Gießen statt. Die Kursteilnehmenden kamen aus Afghanistan, dem Iran, Palästina, Syrien und der Türkei. Am Kurs nahmen sechs Frauen und fünf Männer teil, darunter war ein Ehepaar, das sich mit einem Gerät gemeinsam in die Online-Meetings einloggte. Teilnahmevoraussetzung war ein Sprachzertifikat auf B1-Niveau (wie z.B. Deutsch-Test für Zuwanderer (DTZ)). Die Teilnehmenden im Kurs sollten B1+ bzw. die Sprachstufe B1 im akademischen Kontext erreichen und mit einer institutsinternen Prüfung abschließen. Der untersuchte Kurs stellt ein gesondertes Angebot der Universität dar1 und sollte studieninteressierten Geflüchteten den Einstieg ins akademische System ermöglichen, da die Lernenden davor Sprachkenntnisse entweder selbstständig und/oder in Integrationskursen erworben hatten. Im Falle eines erfolgreichen Abschlusses können sich Lernende für die Förderung eines intensiven studienvorbereitenden Deutschkurses für internationale Studienbewerberinnen und -bewerber im Akademischen Auslandsamt bewerben, nach dessen Abschluss sie die sprachliche Voraussetzung für das Studium durch eine TestDaF oder DSH-Prüfung erfüllen. Die Erfahrungen der Teilnehmenden mit dem Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien waren unterschiedlich, jedoch gaben alle zu Kursbeginn an, noch nie einen Sprachkurs via Videokonferenz besucht zu haben.

Das Unterrichten des gesamten Kurses teilten sich zwei Lehrkräfte, die bereits Unterrichtserfahrung im Präsenzformat, aber noch nicht im digitalen Unterricht hatten und die noch relativ am Anfang ihrer Karriere standen. Die Umstellung auf ein digitales Format wurde als positiv empfunden, wobei sie sich im Laufe des Kurses in viele für sie teilweise neue digitale Tools einarbeiten mussten. Darüber hinaus leisteten sie den Lernenden auch technische Unterstützung, indem sie z.B. Lernenden bei der Anmeldung sowie Nutzung von BlinkLearning halfen. Der Kurs fand mit dem Videokonferenztool Cisco Webex statt.

Das Forschungsteam war schon vor der eigentlichen Datenerhebung sowohl bei den einzelnen Unterrichtssitzungen als auch bei den Lehrkräftetreffen anwesend. Die teilnehmende Beobachtung diente der Vorbereitung der videobasierten Datenerhebung. Einerseits ermöglichte sie die Beobachtung der Lernprozesse während des digitalen Umbruchs. Andererseits konnten sich die Lernenden und die Lehrkräfte an die Begleitung gewöhnen; sie erklärten sich anschließend bereit, einen genaueren Einblick in den Unterricht aus ihren Perspektiven zu geben. Die Studie war explorativer Natur und sollte die Reaktion der Beteiligten auf die rasche Umstellung des Unterrichts ins digitale Format erfassen. Es sollte untersucht werden, wie Lehrende und Lernende im virtuellen Unterricht interagieren, wie der Lernprozess organisiert wird, welche Materialien und Werkzeuge wie eingesetzt werden, wie Lehrende und Lernende den Deutschunterricht im virtuellen Raum einschätzen.

Es wurden zwei Unterrichtseinheiten (je 90 Minuten) aufgezeichnet. Mithilfe diverser Aufzeichnungsprogramme wurde alles, was auf dem Bildschirm während des Unterrichts geschah (angeklickt, getippt, gesprochen, recherchiert etc.), dokumentiert. Dabei zeichneten sowohl die Lehrkräfte als auch die Lernenden und die Forscherinnen das Unterrichtsgeschehen per Ton und Bild auf. Es folgten Video-Stimulated Recall-Interviews: Aus den Aufzeichnungen des Unterrichts wurden bestimmte Sequenzen ausgewählt, die anschließend den Lehrenden und den Lernenden mit der Bitte gezeigt wurden, sie zu kommentieren. Der Entscheidung für die Erhebung introspektiver Daten mithilfe von Stimuli liegt die Überlegung zugrunde, den Erinnerungsprozess zwecks Erhöhung der Datenvalidität zu erleichtern (vgl. Aguado 2019: 81). Die Auswahl der Videoschnitte für die Interviews erfolgte unter der Berücksichti­gung der oben genannten Forschungsfragen (vgl. Knorr/Schramm 2012: 195), insbesondere mit dem Fokus auf die Interaktionsprozesse im virtuellen Unterricht. Im abschließenden Interviewteil wurden allgemeine Fragen zur Nutzung unterschiedlicher digitaler Werkzeuge, zur Organisation des Unterrichts im virtuellen Raum und zu Chancen und Herausforderungen an die Lehrkräfte und die Lernenden gestellt.2 Somit wird der Einblick in den Online-Unterricht aus unterschiedlichen Perspektiven – der Lernenden, der Lehrkraft sowie des Forschungsteams – ermöglicht. Die Aufzeichnungen und die Interviews waren freiwillig. Zur ersten Unterrichtseinheit liegen Daten von der Lehrkraft sowie von zwei Lernenden vor. Nach der zweiten Unterrichtseinheit wurden die beiden Lernenden erneut interviewt, zusätzlich stellten noch drei weitere Lernende und die zweite Lehrkraft ihre Perspektiven dar.3

 

Die erhobenen Daten wurden transkribiert und anschließend mittels MAXQDA4 kodiert, um die Einflussfaktoren der Interaktionsprozesse sowie Intentionen und Handlungsprozesse der einzelnen Personen im Online-Unterricht systematisch zu erfassen. Im Folgenden werden exemplarisch ausgewählte Erkenntnisse aus der Studie zu den im Unterricht benutzten Materialien und Tools, zur Rolle der Geräte, mit deren Hilfe die Teilnahme am Unterrichtsgeschehen ermöglicht wird, sowie zur Einschätzung des Unterrichts via Videokonferenz seitens der Lernenden und Lehrkräfte dargestellt.5

5 Vielfalt in 90 Minuten: die verwendeten Werkzeuge

Die Beobachtungsprotokolle, die Bildschirmaufzeichnungen und die Interviews liefern einen umfassenden Überblick über Materialien, digitale Werkzeuge sowie Funktionen des Konferenztools, die im Laufe des Kurses im Einsatz waren. In den Sitzungen nutzten die Lehrkräfte die digitale Version eines Lehrwerks (Netzwerk, vgl. Dengler et al. 2017), die über BlinkLearning abrufbar ist. Die zusätzlichen Materialien aus dem dazugehörigen Intensivtrainer sowie aus weiteren Grammatikbüchern und Lehrwerken wurden gescannt und den Lernenden per Bildschirmfreigabe zugänglich gemacht. In der digitalen Lehrwerkversion via BlinkLearning kann man multimediale Komponenten (Audio und Video) abspielen, Vokabeln markieren, mit einem virtuellen Stift Wörter oder Satzteile verbinden und mithilfe der Textfunktion Stellen auf digitalen Seiten kommentieren.

Im Webkonferenzraum nutzten die Lehrkräfte intensiv die Freigabefunktion zur Lernstoffpräsentation, im Chat wurden Lösungen festgehalten und für Lernende neue Vokabeln bzw. Synonyme eingegeben. Außerhalb des virtuellen Klassenzimmers nutzten die beiden Lehrerinnen auch Google zur Recherche und verschickten Aufgaben an Lernende via WhatsApp. Im WhatsApp-Gruppenchat wurden organisatorische Fragen geklärt und die technische Unterstützung gewährleistet. Neben digitalen Tools und Materialien verwendeten die Lehrkräfte noch Notizen auf Papier, Stifte und analoge Lehrwerke.

Die beiden Lehrkräfte unterrichteten am Laptop. Bei den Lernenden unterscheiden sich die Geräte und somit haben sie auch verschiedene Ansichten, insbesondere wenn die Lehrkraft die Freigabefunktion aktiviert (vgl. Abschnitt 6). Dann verkleinert sich die Ansicht der Teilnehmenden. Der Chat wird nicht automatisch angezeigt, auch wenn bereits Beiträge vorhanden sind. Die Kursteilnehmenden reagierten auf die Nutzung des Chats durch die Lehrkräfte unterschiedlich. Während einige das Aufschreiben von Vokabeln im Chat als sehr hilfreich empfanden und sie ins Heft abschrieben, machten andere Lernende Screenshots vom Chat, arbeiteten jedoch damit nicht mehr weiter.1

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage eines Lernenden, dass er zunächst durch den Einsatz ein- und zweisprachiger Online-Wörterbücher überprüft, ob etwas für ihn wichtig genug ist, um es aufzuschreiben. Diese sinnvolle Einschätzung gilt natürlich für Präsenzunterricht ebenso wie für digitalisierten Unterricht, die Frage ist, ob die technologische Dimension dieses Unterrichts ein derartiges Vorgehen nahelegt, wie es in dieser Aussage der Fall zu sein scheint:

 (2) Maximilian: ja also ich hab mein Handy dabei und: ich guck mal ob das Wort ist wichtig oder nicht

Die Arbeit mit der digitalen Version des Lehrwerks fanden viele Lernende unproblematisch, allerdings war ein gedrucktes Buch auf dem Tisch während des Online-Unterrichts sehr erwünscht. Zum Aufschreiben und Notieren nutzten die Lernenden hauptsächlich Stifte und Hefte statt digitaler Werkzeuge, auch wenn die Kopierfunktion von ihnen als praktikabel eingeschätzt wurde. Die bereits erwähnte Problematik instabiler Internetverbindung oder leistungsschwächerer Technik wurde häufig durch die gleichzeitige Nutzung zweier Geräte gelöst: Beim Ausschalten der Kamera konnte man dem Unterricht folgen, um nicht nur mit einer Kachel am Bildschirm zu erscheinen, wurde beim Einloggen im Konferenzraum mit zwei Geräten an einem die Kamera aktiviert und am zweiten das Mikrofon.

6 Die Bildschirme der Lehrenden, die Bildschirme der Lernenden

Lehrkräften ist manchmal nicht klar, dass das, was sie auf ihrem Bildschirm sehen, sich von dem unterscheiden kann, was die Teilnehmenden an ihrem Kurs auf deren Bildschirmen sehen. Die Analyse der Daten zeigt deutlich, dass sowohl die vorhandenen Endgeräte als auch die Interessen der handelnden Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt Einfluss darauf haben, wie ähnlich oder unterschiedlich die Bildschirme der Lehrkräfte und der Lernenden aussehen.

Ein einfaches Beispiel für den Einfluss des Endgerätes: Haben die Lernenden den Chat geöffnet, sehen sie einen geschriebenen Text der Lehrkraft, sobald dieser geschrieben ist. Ist er nicht geöffnet, sehen sie auf dem Chat-Symbol nur einen roten Punkt. Zu fragen ist, ob die Lernenden überhaupt wissen, dass dieser rote Punkt bedeutet, dass im Chat ein Eintrag vorhanden ist. Falls ja, stellt sich die Frage, ob sie diese Verschriftlichung aufrufen. Falls ja: Führt ein zeitlich versetztes Aufrufen des Chats dazu, dass man sich eventuell gar nicht mehr daran erinnert, wozu man diese Textpassage braucht, und/oder führt die zeitlich versetzte Lektüre dazu, dass man etwas nicht mitbekommt, was behandelt wird, während man sich auf den Chat konzentriert? Eine Lehrkraft, die den Chat als Kommunikationskanal nutzt, sollte ihre Lernenden also möglichst ermutigen, den Chat geöffnet zu halten, falls die Größe ihres Bildschirms dies zulässt.

Zwei zum gleichen Zeitpunkt aufgenommene, sehr unterschiedliche Bild­schirmansichten sind in den Abbildungen 1 und 2 wiedergegeben. Abbildung 1 zeigt den Bildschirm einer Lehrkraft, die ihren Bildschirm mit Vokabeln freigibt, um das Vorwissen der Lernenden zum Unterrichtsthema zu aktivieren. Sie sieht oben rechts vier der elf anwesenden Personen, eine hat ihre Kamera nicht eingeschaltet und ist daher nur als Kachel zu sehen. Die Lehrkraft hat auch das Chatfenster geöffnet, das zu diesem frühen Zeitpunkt im Unterricht allerdings noch leer ist.


Abb. 1: Ansicht der Lehrkraft bei der Freigabe ihres Bildschirms

Abbildung 2 zeigt die Ansicht eines Lernenden, der am Online-Unterricht mit seinem Smartphone teilnimmt. Er sieht die freigegebene Datei; um sie lesen zu können, zoomt er. Die gerade sprechende Person kann er nur hören und ihren Namen lesen „Es spricht: …“. Den Chat könnte der Lernende technisch nutzen, das würde aber die Freigabe überdecken. In der Aufzeichnung ist dokumentiert, wie der Lerner z.B. recherchiert, dafür muss er die abgebildete Ansicht zur Seite wischen.


Abb. 2: Ansicht des Lerners am Smartphone

Während bei einem anderen Lernenden mit einem großen Bildschirm sowohl der freigegebene Text als auch die anderen Lernenden gut zu sehen sind, ist auf dem Bildschirm dieses Lerners die Gruppe der Lernenden in diesem Augenblick nicht mehr zu sehen, bei dieser Momentaufnahme könnte es sich auch um Einzelunterricht handeln. Diese Reduktion ist relativ unproblematisch, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt Stillarbeit stattfindet, die fehlende Sicht auf die gesamte Gruppe wird jedoch zum Problem, wenn der Unterricht interaktive Elemente enthält.

In diesem Fall können also, ebenso wie bei Verschriftlichungen im Chat, wenn sie nicht in einem geöffneten Chat-Fenster zu sehen sind, sondern nur durch einen leicht zu übersehenden kleinen roten Punkt indiziert werden, unterschiedlich große und individuell unterschiedlich gestaltete Bildschirme Einfluss auf individuelle Lernprozesse und Interaktionen in der Gruppe der Lernenden haben. Für Lehrkräfte bedeutet dies eine zusätzliche Belastung: Sie müssen antizipieren, welche ihrer didaktischen Intentionen mit welchen Bildschirmkonstellationen realisierbar sind, und sie müssen die Lernenden auf die Auswirkungen ihrer Bildschirmgestaltung aufmerksam machen.

7 Einschätzungen des virtuellen Unterrichts durch die Lernenden und Lehrenden
7.1 Vor- und Nachteile aus der Sicht der Lernenden

In den Interviews zeigt sich, dass die Teilnehmenden den Präsenzunterricht bevorzugen, sie sehen allerdings in Anbetracht der Pandemiesituation den virtuellen Unterricht als eine Möglichkeit, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, das sei besser als nichts (vgl. Bsp. 3–4).

 (3) Marlene: normalerweise ähm normalerweise bevorzuge ich Unterricht face-to-face-Unterricht […] aber ähm wir haben kein andere Gelegenheit Chance

 (4) Maximilian: aber hier zuhause habe ich Probleme aber (.) ja: (lacht) eigentlich äh würde ich gerne: die face-to-face-Unterricht nehmen (.) abe:r wegen Corona (..) kann man nicht äh (.) etwas machen also das ist (.) besser als nichts (.) (lacht)

Klar wird in den Interviews benannt, welche Aspekte des Online-Unterrichts für sie problematisch sind. Für Elena sind die angeschalteten Kameras wichtig, um auch im virtuellen Unterricht die Gesichter der anderen Lernenden zu sehen, aber auch wenn Teilnehmende ihre Kameras einschalten, sind nicht alle zu sehen, wenn die Lehrkraft gerade ihren Bildschirm freigibt (vgl. Bsp. 5).

 (5) Elena: ja das einfacher vielleicht in Onlinekurs (.) und auch das Problem ist, wenn etwas auf Bildschirm ähm gibt, wir sehen nicht die andere Schüler […] dann ähm wir sehen nur (.) den Lehrer oder (räuspert sich) jemand der spricht

Nicht nur fehlen manchmal die Gesichter, die fehlende räumliche Nähe macht bestimmte Formen des Kooperierens unmöglich (vgl. Bsp. 6).

 (6) Elena: virtuelle Kommunikation ja ähm (.) hat viel Probleme z.B. wir können nicht wie ein Präsenzkurs // nebeneinandersitzen und: vielleicht unseres Bücher und Hefter ein anderes Beispiel ähm geben und bekommen […] weißt du wir können nicht uns im Präsenzkurs wir können uns einfach unterhalten mit andere Leute: (.) das sind die Vorteile von einem Präsenzkurs […] aber im Onlinekurs gibt es keinen diese kein diese Sache […] und ich denke das ist- das ist besser, wenn wir uns gegenseitig sehen können.

Probleme bereitet der Lernort Privatwohnung, im Gegensatz zum Klassenzimmer in der Bildungsinstitution gibt es dort Erwachsene und kindliche Mitbewohner, deren Hintergrundgeräusche stören (vgl. Bsp. 7–8).

 (7) Elena: manchmal das: stört mich sehr viel ich muss ähm konzentrieren und zuhören (.) aber (.) ja: d' Kinde:r oder schreien so weinen (.) ich denke ja die (lacht) Schüler oder die Leute muss in diese Situation Mikrofon ausmachen aber manchmal machen sie nicht (.) das ist eigentlich ein Problem ja ich hab auch ein Kind aber ich immer organisiere ja: die- das- mein Kind mit sein Bruder (.) ähm bleiben oder mit ein Bekannte: ja das ist nicht einfach ich verstehe (.) mit Kinder hat immer- gibt immer dieses Problem aber (.) mmh ja ich finde es nicht so gut

 (8) Maximilian: also wenn man ähm im Zimmer alleine ähm ist also kann man einfach sich konzentrieren aber (.) also hier ich bin mit mein Freund in gleichem Zimmer und: manchmal vergisst er ähm dass ich ähm zu Unterricht (lachend) bin und fragt mir und ja sagt- ich muss antworten (lacht)

 

Dabei wird durchaus gesehen, dass diese Nachteile durch Vorteile wie die fehlende Anreise zum Präsenzunterrichtsort ausgeglichen werden können (vgl. Bsp. 9).

 (9) Maximilian: genau ähm also gibt es Vorteile und Nachteile Vorteile man kann das ähm zuhause machen und nicht so viele Zeit mit ähm Verkehrsmittel verlieren (lacht) es ist ja und: was- und man kann viel Information in weniger Zeit haben wie ja- wie: face-to-face-Unterricht

Die Möglichkeiten, die Lernhilfen auf dem Smartphone und auf dem Computer bieten, werden differenziert wahrgenommen. Digitale Nachschlage­möglich­keiten werden als Helfer in der Not akzeptiert (vgl. Bsp. 10).

 (10) Marlene: aber eine Vorteil von Onlineunterricht ich kann sehr schnell in meinem Handy recherchieren Linda LK (lacht) sieht das nicht // und im Wörterbuch und ich kann auch Googletranslate benutzen wenn mein Stimme aus ist (lacht)

Doch dass die Technik Fehler, die man macht, manchmal sehr schnell korrigiert, wird als Lernverhinderung gesehen (vgl. Bsp. 11).

 (11) Maximilian: aber das Problem ist heutzutage diese Smartphone sind sehr smart und sie korrigieren die Wörter selbst (lacht) also ich kann das schneller schreiben aber mit lernen ich glaube es ist ein eher man kann nicht ähm richtig lernen

Wie sehr sich die Einschätzung wandeln kann, zeigt der Interviewausschnitt in Bsp. (12), der die eigene kritische Einschätzung am Anfang mit einer zu einem späteren Zeitpunkt vergleicht.

 (12) Elena: wenn jemand mich gefragt hat (.) ah Elena wie findest du: Onlineunterricht? ich sagte immer ach nicht so gut (.) ich finde es (.) ja: viele Leute: zusammen arbeiten // und (.) ja das war- ich denke das war ungewöhnlich aber jetzt (.) ich möchte lieber auch B2 Kurs online machen (lacht)

Durch die Unterrichtsbeobachtung im Verlauf des Kurses ließ sich die Entwicklung der Gruppendynamik dokumentieren. Die Lernenden, die einander im realen Leben bisher noch nicht getroffen hatten, unterstützten sich gegenseitig, wenn es im Unterricht technische Probleme gab, und zeigten Verständnis und Empathie, wenn sich jemand im Unterricht durch Störungen zu Hause nicht konzentrieren konnte. Die ausgewählten Interviewausschnitte zeigen auch, wie reflektiert die Lernenden beim Lernen vorgehen, die Chance digitalen Unterrichts erkennen und benennen können, welche Aspekte vermisst werden. Die Anfangsskepsis, so Elena in dem in Bsp. (12) wiedergegebenen Ausschnitt aus dem Stimulated Recall-Interview, verliert sich im Laufe des Kurses, für sie ist der digitale Unterricht nicht mehr nur eine Notlösung, sie möchte den Folgekurs jetzt auch gern online machen.