Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb

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The last decades of the nineteenth century witnessed a determined effort in many countries of the Western world (a) to bring modern foreign languages into the school and university curriculum on their own terms, (b) to emancipate modern languages more and more from the comparison with the classics, and (c) to reform the methods of language teaching in a decisive way. (Stern 1983:98)

Verschiedene Methoden sind in den 20er Jahren (bis in die 40er Jahre) des 20. Jahrhunderts als »praktische Antworten« auf die vorangehende Diskussion entwickelt worden: darunter die vermittelnde Methode (England), die Lesemethode (England) und BASIC English (British/ American/Scientific/International/Commercial), ein Versuch, das Sprachenlernen zu vereinfachen und zu rationalisieren. Mit diesen Methoden beginnen die ersten Ansätze, das Unterrichtsgeschehen, die sprachliche Basis, das Testen von Fertigkeiten und das Lern- und Lehrverhalten mittels verschiedener Pilotstudien systematisch zu untersuchen (unter anderem die Modern Foreign Language Study der American and Canadian Committees on Modern Languages 1924–1928, siehe Bagster-Collins, Werner & Woody 1930). Dieser Trend wurde in den 40er und 50er Jahren mit der Profilierung der Linguistik noch intensiviert. Hierzu gehören Schlüsselereignisse wie die Veröffentlichung von Psycholinguistics: A Survey of Theory and Research Problems, herausgegeben von Osgood, Sebeok, Gardner, Carroll, Newmark, Ervin, Saporta, Greenberg, Walker, Jenkins, Wilson & Lounsbury (1954), Verbal Behavior von Skinner (1957) und Lados erste systematische Erfassung der kontrastiven Linguistik Linguistics across Cultures: Applied Linguistics for Language Teachers (1957). The American Army Method, deren Errungenschaften später heiß umstritten waren, versuchte nachzuweisen, dass Sprachunterricht auch ohne die traditionellen schulartigen Methoden und mit wesentlich größeren Gruppen und in kürzerer Zeit effizient durchgeführt werden kann. Als Folge der behavioristischen Ideologie wurden besonders in den USA die audiolingualen und in Frankreich die audiovisuellen Lehrverfahren entwickelt, die lange Zeit den Sprachunterricht dominierten und unter anderem auch dem Vormarsch der Sprachlabortechnologie Vorschub leisteten und – trotz gegenteiliger empirischer Evidenz – bis heute dem konditionierenden Einsatz elektronischer Medien zugrunde liegen (zum Beispiel in Programmen wie Rosetta Stone oder Tell me more).

Die stetige Zunahme von linguistischen Studien und die Begründung der Psycholinguistik als ein interdisziplinäres Forschungsgebiet leisteten später einen wesentlichen Beitrag zur Identifizierung der aus den Methoden der behavioristischen Verhaltensformung entstehenden Probleme des Spracherwerbs (zum Beispiel Rivers einflussreiches Buch The Psychologist and the Foreign Language Teacher 1964). Als Folge der zunehmenden Kritik an den intuitiven Methoden gewann schließlich das kognitive Lernen – bis heute weitgehend als das regelgeleitete, systematische Lernen missverstanden – in der Diskussion um angemessene Ansätze an Gewicht. Chomskys nativistische Theorie auf der einen Seite und soziolinguistische und pragmalinguistische Strömungen auf der anderen haben im Anschluss daran vor allem die Erwerbsforschung und die Entwicklung neuer methodischer Verfahren geprägt. Chomskys Ausgangshypothese zufolge haben Kinder eine angeborene Fähigkeit der Sprachbildung (in der Muttersprache, L1). Wenn Kinder zum ersten Mal die Sprache hören, setzten allgemeine Prinzipien der Spracherkennung und Sprachproduktion ein, die zusammen das ergäben, was Chomsky den Language Acquisition Device (LAD) nennt. Der LAD steuere die Wahrnehmung der gehörten Sprache und stelle sicher, dass das Kind die entsprechenden Regeln ableite, die die Grammatik der gehörten Sprache bildeten. Dabei bestimmten Verallgemeinerungen, wie die Sätze in der entsprechenden Sprache zu bilden seien. Im Zweitsprachenerwerb werde die Reichweite des LAD einfach auf die neue Sprache ausgedehnt. Nativistische Theorien des Spracherwerbs haben jedoch wenig Einfluss auf die Entwicklung von Erwerbs- und Unterrichtskonzepten für Fremdsprachen gehabt. Den stärksten Einfluss haben sie in der Erforschung und Formulierung von Erwerbssequenzen ausgeübt. In deutlichem Kontrast dazu haben sich seit den 1970er Jahren parallel verschiedene Forschungsrichtungen ausgebildet, die sich an die Valenzgrammatik, die Pragmalinguistik (Sprechakttheorie, Diskursanalyse), die funktionale Linguistik, die Textlinguistik und die Psycholinguistik und andere Kognitionswissenschaften anlehnen. Mit wenigen Ausnahmen ist es aber auch dieser Forschung nicht gelungen, nachhaltig auf die Lehr- und Lernpraxis einzuwirken. Unter den Versuchen einer systematischen Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse für die Entwicklung von Lehrmaterial und Lehrverfahren sind die folgenden zu nennen:

 ein kurzlebiger Versuch, die Valenzgrammatik als Grundlage einer didaktischen Grammatik einzuführen (zum Beispiel das DaF-Lehrwerk Deutsch Aktiv)

 die eklektische Nutzung von Elementen der pragmatischen Erwerbsforschung in der Lehrwerksproduktion (siehe die DaF-Lehrwerke Tangram, Schritte international)

 die Berücksichtigung von Aspekten der Interkomprehensionsdidaktik in Lehransätzen (EUROCOMM)

 die Gestaltung des Sprachunterrichts nach handlungstheoretischen und konstruktivistischen Prinzipien (Szenariendidaktik, fallbasiertes Lernen, Fachsprachenunterricht).

Fremdsprachenunterricht wird verbreitet noch als Domäne des Einzelerwerbs betrachtet. Die systematische Nutzung von Kenntnissen der Vorsprachen beim Erwerb weiterer Sprachen wird bisher nur ansatzweise bedacht und bearbeitet. In Begriffen wie Mehrsprachigkeitsdidaktik, Deutsch nach Englisch oder Interkomprehensionsdidaktik zeigen sich die Vorboten einer neuen Generation der Fremdsprachendidaktik, deren Grundlagen jedoch noch zu erarbeiten sind, wenn sie nicht bei kontrastiven Vergleichen verharren will.

Zur kognitiven Ausrichtung

Um zu verstehen, wie die Sprache überhaupt in den Köpfen der Lerner entsteht und sich weiter verändert – und darum geht es in dieser Buchreihe – sind Erkenntnisse aus verschiedenen Nachbardisziplinen der Sprachlehrforschung erforderlich. Die Neurolinguistik kann zum Beispiel darüber Aufschluss geben, welche Gehirnareale während der Sprachverarbeitung aktiviert werden und inwiefern sich die Gehirnaktivität von L1-Sprechern und L2-Sprechern voneinander unterscheidet. Durch die Nutzung bildgebender Verfahren lässt sich die sprachrelevante neuronale Aktivität sichtbar und damit auch greifbarer machen. Was können wir aber daraus für die Praxis lernen? Sollen Lehrer ab jetzt die Gehirnaktivität der Lerner im Klassenraum regelmäßig überprüfen und auf dieser Basis die Unterrichtsinteraktion und die Lernprogression optimieren? Dabei wird schnell klar, dass eine ganze Sprachdidaktik sich nicht allein auf der Basis solcher Erkenntnisse formulieren lässt. Dennoch können die Daten über die neuronale Aktivität bei sprachrelevanten Prozessen unter anderem die Modelle der Sprachverarbeitung und des mehrsprachigen mentalen Lexikons besser begründen, die sonst nur auf der Basis von behavioralen Daten überprüft werden. Ähnlich wie die Neurolinguistik stellt die kognitive Linguistik eine Referenzdisziplin dar, deren Erkenntnisse zwar für die Unterrichtspraxis sehr relevant und wertvoll sind, sich aber unter anderem aufgrund des introspektiven Charakters ihrer Methoden nicht direkt übertragen lassen. Die kognitive Linguistik erklärt nämlich die Sprache und den Spracherwerb so, dass sie mit den Erkenntnissen aus anderen kognitiv ausgerichteten Disziplinen vereinbar sind. So dienen kognitive Prinzipien wie die Metaphorisierung oder die Prototypeneffekte der Beschreibung bestimmter Sprachphänomene. Der Spracherwerb wird seinerseits durch allgemeine Lernmechanismen wie die Analogiebildung oder die Schematisierung erklärt.

Die kognitive Linguistik, die Psycholinguistik, die Neurolinguistik, die kognitiv ausgerichteten Kulturwissenschaften sind also Bezugsdisziplinen, die als Grundlage einer kognitiv ausgerichteten Sprachdidaktik fungieren. Sie sollen in den Bänden dieser Reihe soweit zum Tragen kommen, wie das nur möglich ist. Bei jedem Band stehen daher die Prozesse in den Köpfen der Lerner im Mittelpunkt der Betrachtung.

1. Mehrsprachigkeit

Zentraler Gegenstand dieses Bandes ist Mehrsprachigkeit als das Ergebnis von multiplem Spracherwerb, also Sprachenerwerb. Die Mehrsprachigkeitsforschung hat sich in den vergangenen Jahren von einer Bestimmung von Mehrsprachigkeit als die Muttersprachler ähnliche Beherrschung mindestens zweier Sprachen hin zu einer dynamischeren und vielfältigeren Betrachtung des Phänomens entwickelt. Unmittelbare Bedeutung für das Thema dieses Moduls haben vor allem funktionale Klassifizierungen mehrsprachiger Kompetenzen in Abhängigkeit vom Lern-, Arbeits- oder Erwerbsumfeld, von den kommunikativen Zielen und von der gewählten Sprachenfolge. Damit kann die unterschiedliche Ausprägung mehrsprachlicher Kompetenzen vor allem in Abhängigkeit von der kommunikativen Absicht und Reichweite (Zweck, Ziele) und unabhängig vom strukturellen Einfluss der Sprachen dargestellt werden. Die Dominanz einer Sprache lässt sich demzufolge funktional begründen, betrifft aber – anders als dies die früheren globalen Klassifizierungen getan haben – unter Umständen nur bestimmte Fertigkeitsbereiche und ist temporär.

In den folgenden Kapiteln erhalten Sie einen Einblick in das Phänomen der Mehrsprachigkeit aus mehreren Perspektiven. Zunächst geht es darum einzuführen, wie mehrere Sprachen in einzelnen Individuen, zwischen ihnen, in mehrsprachigen Gebieten und politischen Systemen koexistieren. Im Übergang zu Kapitel 2 fokussieren wir dann das Individuum. Nach einer Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen Mehrsprachigkeit und Migration in 2.1 wird in Lerneinheit 2.2 auf die Unterscheidung zwischen der inneren Mehrsprachigkeit, die sich auf die Beherrschung unterschiedlicher Register oder Varietäten einer Sprache bezieht, und der äußeren Mehrsprachigkeit, die dagegen Kenntnisse in unterschiedlichen Sprachen umfasst, eingegangen. Auf weitere Aspekte dazu wird später in Kapitel 6 genauer eingegangen. Dort erhalten Sie Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen, wie schwierig es ist, einzelne Varietäten und Sprachen zu bestimmen und voneinander abzugrenzen. Davor aber beschäftigen Sie sich in Lerneinheit 2.3 sowie in Kapitel 3 und 4 mit verschiedenen dynamischen Modellen, die Mehrsprachigkeit als Ergebnis von Sprachenerwerb und Sprachenverarbeitung abbilden. Im Anschluss daran geht es in Kapitel 5 um Phänomene, die für den Sprachengebrauch von mehrsprachigen Individuen typisch sind: Code-Switching und Transfer. Kapitel 7 fokussiert dagegen die Entwicklung von Sprachen als Folge von Kommunikation in Sprachkontaktsituationen. Der Band schließt mit zwei Lerneinheiten zur Analyse von mündlichen und schriftlichen Lernersprachen und einem Überblick der empirischen Forschungsmethoden ab, die in diesem Forschungsfeld eingesetzt werden. Letzterer dient zur Reflexion der Komplexität des Untersuchungsgegenstands und zur kritischen Hinterfragung von Forschungsergebnissen und kann auch begleitend zur Darstellung von Forschungsergebnissen in den anderen Lerneinheiten gelesen werden. Eine umfassendere Darstellung relevanter Forschungsmethoden und Anleitungen zu deren Umsetzung finden Sie im Band »Propädeutikum«.

 

1.1 Kognitive Aspekte

Kees de Bot (übersetzt von Simone Lackerbauer) & Jörg Roche

In der ersten Lerneinheit beschäftigen wir uns mit Mehrsprachigkeit aus kognitiver Sicht. Die wichtigsten Inhalte betreffen die Besonderheiten des Denkens und Handelns in mehr als einer Sprache. Welche Unterschiede bestehen zwischen der Sprachverarbeitung eines einsprachigen und eines mehrsprachigen Individuums? Soll Mehrsprachigkeit von Bilingualismus unterschieden werden? Was wissen wir über die Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Sprachen, die wir in unterschiedlichen Kontexten lernen und verwenden? Wir beginnen mit Erkenntnissen zur frühen und konsekutiven Mehrsprachigkeit sowie Forschungsdesiderata in diesen Bereichen. Im Anschluss daran gehen wir auf die aus kognitiver Sicht zentralen Aspekte von Sprachtrennung und Sprachenwahl ein und erschließen uns, wie sie im Rahmen der Subset-Hypothese modelliert werden. Dabei werden wir feststellen, dass aktuelle Erkenntnisse ein Umdenken von einem statischen hin zu einem dynamischen Modell von Mehrsprachigkeit verlangen.

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

 mit dem Forschungsgegenstand der Mehrsprachigkeit vertraut gemacht werden;

 die Unterschiede zwischen einsprachiger und mehrsprachiger Sprachverarbeitung erkennen;

 sich mit Sprachwahl und Sprachtrennung beschäftigen;

 den Unterschied zwischen statischen und dynamischen Modellen der Sprachverarbeitung erklären können.

1.1.1 Mehrsprachigkeit definieren

Bevor wir in das Thema einsteigen, müssen wir innehalten und überlegen, was MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit eigentlich ist. Es gibt dazu eine Vielzahl an Definitionen (für eine ausführliche Abhandlung siehe Aronin & Singleton 2012), die sich über minimalistische (Ich kenne ein paar Wörter in einer anderen Sprache) bis hin zu maximalistischen Bestimmungen (Ich bin wie ein Muttersprachler in beiden Sprachen), und alles, was dazwischen liegt, erstrecken. Festzuhalten ist hier, dass das Konzept von Mehrsprachigkeit fest an jenes von Sprachkompetenz als das Beherrschen einer Sprache gekoppelt ist (dazu mehr in Lerneinheit 1.2). Forscher wie François Grosjean (1982), einer der führenden Köpfe im Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung, vertreten die Ansicht, dass Mehrsprachigkeit nur auf Grundlage von Sprachgebrauch definiert werden kann. Seiner Ansicht nach ist jemand, der täglich mehr als eine Sprache verwendet, zwei- oder mehrsprachig. Das heißt, dass es in Ländern, wie zum Beispiel den Niederlanden, kaum einsprachige Einwohner gibt, da Englisch überall sehr präsent ist, vor allem in den Medien. Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage (Eurydice 2011) behaupten etwa 70 % der niederländischen Bevölkerung, dass ihre Kenntnisse des Englischen ziemlich gut seien. Für die deutsche Sprache sinkt die Zahl auf 35 % und für Französisch sind es nur noch etwa 20 %. Ob diese Umfragen repräsentativ sind, bleibt anzuzweifeln.

Weiterhin gilt es zu bedenken, ob ein Unterschied zwischen Zwei- und Mehrsprachigkeit gemacht werden sollte. De Bot und Jaensch (2015) haben unterschiedliche Studien dazu analysiert (linguistische, neurolinguistische, psycholinguistische) und festgestellt, dass die Behauptung, dass sich Sprachverarbeitung bei Zweisprachigen im Vergleich zu Mehrsprachigen fundamental unterscheide, empirisch nicht belegt ist. Nachfolgend werden wir immer die Bezeichnung Mehrsprachigkeit verwenden, wenn wir uns auf mehr als eine Sprache beziehen. Zur Abgrenzung der Sprachen benutzen wir die Abkürzung L1 für die chronologisch als erste gelernte Sprache und L2 für alle anderen.

1.1.2 Grundlagen der psycholinguistischen Modellierung von Mehrsprachigkeit

Das Thema Mehrsprachigkeit wird häufig im Rahmen einer der folgenden Typologien behandelt (vergleiche dazu Bausch, Christ & Krumm 2007: 439ff):

 (1) Chronologie und Lebensalter des Erwerbs:simultan oder sukzessivfrüh oder spät erworbene Mehrsprachigkeit

 (2) Domänenspezifische Fertigkeiten und Kompetenzen:rezeptive oder produktive KompetenzenKompetenzen in Teilfertigkeiten

 (3) Einfluss verschiedener Schwellen:bildungs- versus alltagssprachliche Ausprägung der SprachkompetenzSemilingualität bei Nichterreichen der untersten Schwelle

 (4) Stärke der Ausprägung der beteiligten Sprachen:stark oder schwachdominant oder nicht dominantadditiv oder subtraktivsymmetrisch, asymmetrisch oder ausgeglichen

 (5) Organisation:kombiniertkoordiniert } den Kontrast zur Erstsprachesubordiniert

Bemerkenswert an diesen traditionellen Klassifizierungen ist, dass sie sich primär an externen (Alter, Strukturen der Sprachen) und globalen Kriterien der Kompetenzmessung und -organisation (Stärke, Organisation, Schwellen) orientieren und dabei nur am Rande auf die Qualität, Intensität und Dynamik der Mehrsprachigkeit und des Sprachenerwerbs Bezug nehmen (vergleiche Lanza 2009). Die Phase der frühen Mehrsprachigkeit ist dabei dominant in der Forschung vertreten, weil angenommen wird, dass man hier den Sprachenerwerb mit den geringsten Beeinflussungen beobachten und die Entwicklungen klaren Alterskriterien zuordnen kann. Diese Phase stellt trotz der Natürlichkeit der Bedingungen eigene Herausforderungen an die Forschung: Sprachliche und kognitive Entwicklung sind stark miteinander verwoben. Die Bedingungen der frühen mehrsprachigen Entwicklung sind daher nicht ohne weiteres auf den Sprachenerwerb allgemein zu übertragen. Eine der Kernfragen der Mehrsprachigkeitsforschung, nämlich wie die Sprachen untereinander organisiert oder voneinander getrennt sind und wie Hybridbildungen entstehen oder verhindert werden, lässt sich aus diesem Grund bisher nicht eindeutig beantworten.

1.1.3 Frühe Mehrsprachigkeit

Von den Modellen, die sich an Alter und Chronologie des Mehrsprachigkeitserwerbs orientieren und seine frühen Phasen in den Blick nehmen, ist die Unitary-Language Hypothese eine der einflussreichsten Vertreterinnen. In dem Modell beschreiben Volterra und Taeschner (1978) den kindlichen doppelten Erstsprachenerwerb als dreiphasiges Modell eines gemeinsamen Sprachensystems (siehe auch Redlinger & Park 1980):

In the first stage the child has one lexical system which includes words from both languages. A word in one language almost does not have a corresponding word with the same meaning in the other language. […] As a result, words from both languages frequently occur together in two- to three-word-constructions. (Volterra & Taeschner 1978: 312)

In der ersten Phase, welche die Zeit vom Sprechbeginn (den ersten Lauten) bis zum Alter von ungefähr zwei Jahren umfasst, besitzt das Kind demnach ein einziges syntaktisches und lexikalisches System, das Elemente beider Sprachen beinhaltet. Die Phase zeichnet sich durch das Fehlen (oder nur in einer sehr begrenzten Zahl anwesender) intersprachlicher Äquivalente aus. Als Äquivalente werden solche Wörter bezeichnet, die eine identische Bedeutung haben, wie zum Beispiel deutsch Oma und italienisch nonna. Eine weitere Beobachtung, die Volterra und Taeschner (1978) als Beleg für ein eindeutig fusioniertes Lexikon werten, ist die unterschiedliche Häufigkeit von Äquivalenten in den beiden Sprachen. So ist es im Fall ihrer Tochter, bei der deutsch ja eine wesentlich höhere Frequenz aufweist als das italienische si. Auch gemischtsprachige Äußerungen, wie macchina kaputtauto rotto, interpretieren die Autorinnen als Beleg für ein fusioniertes Lexikon. Eine alternative Sichtweise, der zufolge sich die Dominanz einer Sprache aufgrund funktionaler Bedingungen der Sprachenumgebung ergibt (Hauptsprachen der Bezugspersonen, Interessen, Kontexte), wird in der Studie nicht behandelt.

Mit dem Erwerb der ersten Synonyme beginnt nach Volterra und Taeschner (1978) die zweite Phase, nämlich die der Trennung der beiden lexikalischen Systeme. Kennzeichnend für diese vielschichtige Phase ist die zunehmende Etablierung zweier getrennter lexikalischer Systeme. Das Kind ist in der Lage, zwischen zwei Systemen zu unterscheiden, wobei es aber dieselben grammatikalischen Regeln auf beide anwendet. Es kann aber nicht immer eindeutig bestimmt werden, ob das Kind die Regeln von der L1 oder die von der L2 verwendet. Vielmehr zeigt sich, dass das Kind eigene Regeln schafft, die es für beide Sprachen gebraucht. Das Kind beginnt demnach zu unterscheiden, dass es für dieselben Objekte und Ereignisse ein Wort in der einen Sprache und ein Synonym in der anderen gibt. Sprachenmischungen treten in dieser Phase dennoch auf.

Die dritte Phase ist laut Volterra und Taeschner (1978) durch die Existenz von zwei syntaktischen Systemen charakterisiert. Hier vollzieht sich die Trennung der zwei Sprachen des bilingualen Kindes. Das Kind ist in der Lage, zwischen beiden Sprachen vollständig zu unterscheiden, sowohl in lexikalischer als auch in syntaktischer Hinsicht. Dabei nimmt die Komplexität der Syntax mit dem Erwerb zu. Die sprachspezifischen Konzepte von Satzkonstruktionen lassen sich in dieser Phase zum Beispiel in der Sequenz Artikel, Adjektiv und Substantiv in ein schönes Haus versus Artikel, Substantiv und Adjektiv in un sole giallo im Italienischen beobachten. Nach Volterra und Taeschner (1978: 312) ist das Kind erst am Ende der dritten Phase als wirklich zweisprachig zu bezeichnen, da es dann in der Lage sei, die Sprachen unabhängig von seinen jeweiligen Kommunikationspartnern zu benutzen. Die Beobachtungen von Volterra und Taeschner sind nicht ohne Nachfolger geblieben.

So geht auch Romaine (1995: 190) davon aus, dass Kinder, die gleichzeitig zweisprachig aufwachsen, am Anfang ein gemischtes (hybrides) Lexikon besitzen. Die Trennung der Sprachensysteme erfolge erst im Alter von circa zweieinhalb bis drei Jahren. Ein Kind steht demnach nicht nur vor der Herausforderung, die Sprachensysteme zu erwerben, sondern es muss vor allem lernen, seine beiden Sprachen getrennt verwenden zu können (pragmatische Kompetenz der language separation). Im Gegensatz zu diesem Modell geht Grosjean (1982) davon aus, dass das zweisprachige Kind anfänglich zwar ein einziges Regelsystem besitzt, dieses sich aber aus den Regeln der beiden Sprachen (additiv statt unitaristisch) zusammensetzt. Diese seien bereits verknüpft (vergleiche Grosjean 1982: 183). Eine genaue Unterscheidung, also die Separierung der Systeme dieser Sprachen trete demzufolge erst im Laufe der Entwicklung ein. Die dadurch entstehenden Sprachenmischungen im Sinne eines bilingualen Modus (bilingual mode) sind somit ein entwicklungsgemäßes Kennzeichen frühkindlicher Zweisprachigkeit. Dieser Standpunkt wird unter anderem auch von Kielhöfer und Jonekeit (1983: 65) übernommen, die die gemischten Sprachenelemente als naive Sprachenmischungen in der ersten Phase der Sprachenerwerbsentwicklung darstellen. Dass zweisprachige Kinder tatsächlich bereits in der Einwortphase (2. Lebensjahr) mit zwei Lexika operieren, zeigen weitere Untersuchungen (etwa Genesee 1989; Meisel 1989). Die wenigen Äquivalente, die in diesem Erwerbsabschnitt in beiden Sprachen anzutreffen sind, werden demnach als ein Beleg dafür gewertet, dass die Sprachen separat von Anfang an erworben werden und nicht aus einem hybriden Zustand entstehen. Diese Äquivalente zeigen, dass die Sprachen kommunikationsbezogen (komplementär) erworben und nicht parallel in allen Lebenssituationen gebraucht werden. Bereits in der lexikalischen Phase beginnt das Kind, die Laute der beiden Sprachen zu unterscheiden. Außerdem zeigt sich, dass beim Erscheinen der ersten Wortbildungen die morphologische Trennung der Systeme weitestgehend glückt, denn die zusammengesetzten Elemente stammen jeweils aus der gleichen Sprache und werden nicht interlingual gemischt und zu neuen Wörtern kombiniert. Auf syntaktischer Ebene ist nach Meisel (1989: 23) der Nachweis der frühen Sprachentrennung dadurch gegeben, dass Kinder bereits beim Auftreten von satzähnlichen Mehrwortkonstruktionen Wortstellungsmuster aus verschiedenen Sprachen anwenden. Ein Adverb am Anfang eines Satzes, das im Deutschen die Verbzweitstellung erfordert, wie etwa in hier lügt sie, kann in der L2 Polnisch eine variable Verbstellung bewirken, wie ona lez ˙y tutaj; tutaj lez ˙y ona oder ona tutaj lez ˙y. Im Englischen und Französischen steht das Verb dann normalerweise an dritter Stelle (here she is lying). Mehrsprachige Kinder berücksichtigen diese Unterschiede in den Sprachensystemen entsprechend, je nachdem welche Sprachen beteiligt sind. Das kann als ein weiteres Zeichen dafür gewertet werden, dass zweisprachige Kinder meistens schon vor dem zweiten Geburtstag beginnen, sich die Sprachregeln der beiden Sprachen zu eigen zu machen, unabhängig von der jeweils schon erworbenen Sprache.