Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb

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Genauso ist auch die Qualität des Aufenthalts und Zugangs zur Zielsprache und nicht nur die Verweildauer im Zielland beim Erwerb von Sprachkompetenzen zu berücksichtigen. Der quantitative Messindikator ‚Verweildauer‘ liefert keine hinreichende Erklärung von qualitativen Ursachen oder Effekten. Problematisch an der Metaanalyse von Esser und den herangezogenen Daten ist ferner, dass sie von wenig vergleichbaren Informantengruppen stammen. Diese sind zudem nicht selten in Berufen tätig, bei denen sprachliche Kompetenzen nur eine nachrangige Rolle spielen (vergleiche die Studien von Berman, Lang & Siniver 2003; Kalter 2006). Wenn man einen Beruf hat, in dem Sprachen im Normalfall nicht gebraucht werden und in dem das Qualifikationsniveau vergleichsweise niedrig ist, kann man nicht erwarten, dass die Mehrsprachigkeit die Defizite des Qualifikationsniveaus ausgleichen kann. In der Studie von Berman, Lang und Siniver (2003) etwa werden vor allem Programmierer, Computertechniker, Bauarbeiter und Tankstellenkassierer in den Vereinigten Staaten untersucht, zu deren Berufsfeld eigentlich keine extensiven fremdsprachigen Fertigkeiten gehören. In der deutschen Studie von Dustmann und van Soest (2002), die sich auf eine der wichtigsten Datensammlungen der Sozialforschung, das Sozioökonomische Panel (SOEP), stützt, werden „bildungsferne“ Migranten aus Italien, Spanien, der Türkei, Jugoslawien und Griechenland aus der Gesamtheit isoliert, um damit Aussagen über den (mangelnden) Nutzen fremdsprachiger Kompetenzen für die Arbeitstätigkeit und die berufliche Karriere abzuleiten.

Viele der von Esser herangezogenen Studien zum Arbeitsmarkterfolg enthalten nur ungenaue Angaben über die untersuchten Berufe (etwa Chiswick & Miller 2002; Davila & Mora 2001; Hayfron 2001). Wieder andere gehen in Bezug auf die Fertigkeiten und Biographien der untersuchten Personen sehr selektiv vor. Bei Kalter (2006) werden die Befragten mit Hochschulabschluss oder Fachhochschulabschluss explizit aus der Erhebungsgruppe herausgenommen. So darf es nicht verwundern, dass sich aufgrund einer selektiven Datenbasis nur wenige Effekte für den Nutzen der Mehrsprachigkeit auf dem Arbeitsmarkt ergeben.

2.1.2 Grundlagen einer Didaktik der aufgeklärten Mehrsprachigkeit

Aufgeklärte Mehrsprachigkeit

Anhand eines typologischen Vergleichs von drei Mustern europäischer Sprachenpolitik ermittelt Stolle (2013) die unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung von Migrantensprachen. Demnach verfolgt Frankreich mit seiner SprachenpolitikSprachenpolitik einen eher assimilativen Ansatz, obwohl auch dieser Ansatz Elemente des Multilingualismus aufweist und nicht die äußerste Position des Spektrums, die Sprachenverdrängung, markiert. Schweden ist dagegen auf der anderen Seite des Spektrums angesiedelt. Es ist eines der wenigen Länder, das seit langem eine konsequent dynamische Sprachenpolitik verfolgt. Darin besitzen auch Minderheiten und Migrantensprachen einen anerkannten offiziellen Status, der sich in Unterricht und Gesellschaft manifestiert. Deutschlands Sprachenpolitik verortet Stolle zwischen den beiden Extremen als multilingual-dynamisch. In Deutschland zeigen sich demnach ambivalente Tendenzen zwischen der Betonung der Nationalsprache als Integrationssprache (Integrationskurse, Schulsprache; Dirim 2010 spricht hier von Neo-Linguizismus) und der Förderung oder Berücksichtigung von Migrantensprachen (Förderung von Grenzlandsprachen, Begegnungssprachen, Minderheitenschutz) (für weitere Informationen zur Sprachenpolitik siehe auch Lerneinheit 8.3 im Band »Sprachenlehren«).

Im Gegensatz dazu bezeichnet aufgeklärte MehrsprachigkeitAufgeklärte Mehrsprachigkeit ein sprachenpolitisches Desiderat (und eine sich etablierende Praxis) in internationaler Kommunikation: Statt auf eine einzige Sprache auszuweichen, die im ungünstigen Falle von keinem der Beteiligten (richtig) gesprochen wird, oder Übersetzungen in Anspruch zu nehmen, bietet sich ein Verfahren an, bei dem jeder beziehungsweise jede Beteiligte seine oder ihre eigene Sprache spricht, aber die der anderen hinlänglich versteht. Dabei kann es auch zu Übersetzungen, Übertragungen und einem temporären Ausweichen in eine dritte Sprache kommen, aber die Grundlage der Kommunikation bildet die pragmatische Mischung der verfügbaren Sprachen. Analog zu dieser pragmatischen Kommunikationspraxis bezeichnet der Begriff ‚aufgeklärte Mehrsprachigkeit‘ eine didaktische Perspektive auf Mehrsprachigkeit. Damit wird dargestellt, dass der Unterricht didaktisch oder sprachenstrategisch je nach Nutzen und Bedingungen nicht auf nur eine Sprache fixiert sein muss (wie das mit dem Einsprachigkeitsprinzip eine Zeit lang dogmatisch vorgegeben war), sondern dass je nach didaktischem Nutzen sprachliche Strukturen (wie etwa neue Vokabeln) mehr- oder einsprachig vermittelt oder gemischt werden können (wie es zum Beispiel die diglot weave method propagiert).

Mehrsprachigkeitsdidaktik

Ziel aller mehrsprachigkeitsdidaktischen Modelle ist es, die Faktoren für Mehrsprachigkeit im Rahmen schulischen Unterrichts gezielter zu fördern und nutzbar zu machen. Dabei liegt die Annahme zugrunde, Fremdsprachenunterricht könne mit den gleichen zur Verfügung stehenden Ressourcen auf effizientere Weise einen besseren, aber spezifischeren Kenntnisstand erreichen. Das heißt, bei entsprechender Konzeptualisierung ließen sich mit den allgemein verfügbaren Ressourcen mehrere Sprachen bedienen, und mit einer Fokussierung auf bestimmte sprachliche Fertigkeiten in den unterschiedlichen Sprachen ließen sich die Ressourcen optimieren. So kann man etwa mit Grundkenntnissen des Lateinischen die Grundlagen für den Erwerb mehrerer romanischer Sprachen legen und mit Kenntnissen des Deutschen vergleichsweise leicht und fast ohne Unterricht Lesekompetenzen in Niederländisch oder in skandinavischen Sprachen erwerben. Die TransferdidaktikTransferdidaktik basiert auf Gemeinsamkeiten verschiedener Sprachen (interlinguale Korrespondenzen). Die von Klein und Stegmann (2000) entwickelte Methode des linguodidaktischen Sprachenvergleichs filtert zum Beispiel das romanische Sprachmaterial nach interlingualen Transferbasen in Form eines Wortes, einer lingualen Funktion oder einer konkreten Lernerfahrung aus. Diese Transferbasen bilden die Grundlage der Verständlichkeit von Sprachen einer Sprachfamilie (InterkomprehensionInterkomprehension). Wenn die gemeinsame Basis identifiziert oder ausgefiltert ist, bleiben monolinguale Profilelemente als Spezifika einer zu erwerbenden Sprache übrig. Beim Erwerb einer weiteren nahverwandten Fremdsprache, zu der der Lerner bereits in erheblichem Maße über Vorwissen verfügt, kommt es demnach darauf an, das vorhandene Wissen und seine Organisation so zu aktivieren, dass die zwischen den Ausgangssprachen und der Zielsprache liegenden kognitiven Schemata miteinander verbunden werden können. Es geht also darum das Bekannte mit dem Neuen zu verknüpfen, um das Spezifische der zu erlernenden Sprache verankern zu können (vergleiche auch den Band »Sprachenlernen und Kognition«). Das Prinzip der Ähnlichkeit greift die EuroCom-Initiative auf, die Lehrpläne und Materialien für romanische, germanische und slawische Sprachen entwickelt (siehe Klein & Stegemann 2000).

Die Interkomprehensionsdidaktik stellt das systemische Vorgehen verschiedener Modelle dar, die auf Ähnlichkeiten von Sprachen aufbauen und bemüht sind, diese in Unterrichtsmethoden umzusetzen. Zu ihren wichtigsten Elementen gehören:

1 Die SpontangrammatikSpontangrammatik: Sie entsteht bei der ersten Begegnung mit einer einigermaßen interkomprehensiblen oder transparenten Sprache, und zwar im Moment des ersten Dekodierungsvorgangs der neuen sprachlichen Struktur. Bereits hier erkennt der Lerner bedeutungshaltiges lexikalisches Material und gegebenenfalls weitere Regularitäten in und zwischen den Sprachen. Betroffen ist daher das gesamte Sprachensystem. Die Spontangrammatik spiegelt Identifikations- und interlinguale Korrespondenzmuster, die ein Lerner als Sprachhypothesen zwischen ihm aus unterschiedlichen Sprachen bekannten Schemata und einer neuen lingualen oder semantischen beziehungsweise thematischen kognitiven Einheit generiert. Dies setzt ein tertium comparationis für das zielführende Vergleichen voraus. Ohne dieses wäre die Konstruktion einer Analogie oder eine ,Differenzierung in der Ähnlichkeit‘, das heißt die Identifikation einer Transferbasis, nicht denkbar. Die Spontangrammatik ist also eine flüchtige, instinktive Hypothesengrammatik, die im weiteren Lernprozess modifiziert wird, sofern sich das deklarative und prozedurale Wissen auf den systemischen Charakter der Sprachen einstellt und seinen Umfang erweitert.

2 Mehrsprachenspeicher: Das beim Entwurf der Spontan- oder Hypothesengrammatik konstruierte Wissen bezieht sich auf positive und negative Transferbasen sowie auf gelungene und gescheiterte Transferprozesse und bleibt langfristig verfügbar. „Während die Hypothesenverarbeitung weitgehend eine Angelegenheit des Kurzzeitgedächtnisses ist, bleiben die im Mehrsprachenspeicher gesammelten Sprachen-, Hypothesen- und Sprachlernerfahrungen im Langzeitgedächtnis verfügbar“ (Meißner 2004: 42).

3 Didaktischer Monitor: Das aufgebaute Wissen betrifft nicht ausschließlich Sprachdaten, sondern auch Lernerfahrungen und – so vermuten die Autoren des Gießener Modells – die Lernsteuerung. Der didaktische Monitor erhöht demnach durch Sensibilisierung die Menge der Sprach- und Lerndaten, die durch Perzeption der mentalen Verarbeitung zugeführt werden. Ohne die hier in Gang gesetzten Monitorprozesse bleibt der Mehrsprachenerwerb nach Ansicht der Autoren inzidentell, also nach ihrem Verständnis unvollständig. Des Weiteren intensiviere die Erhöhung der mentalen Verarbeitungsbreite und -tiefe die Speicherung der lernrelevanten Informationen. Indem die Lernsteuerung die Zugriffsleistungen auf Sprachdaten erhöhe, trage sie bereits zur Automatisierung interlingualer Transferroutinen bei. Deshalb verstärke Mehrsprachentraining deutlich die Fähigkeit zur Nutzung des interlingualen Transferpotenzials.

 

Diese Vorstellung vom Funktionieren des didaktischen Monitors im Kontext der Interkomprehensionsdidaktik erinnert an verbreitete Annahmen zur Effizienz von Steuerungsmaßnahmen im Unterricht und zur Debatte über grammatikbasierte oder metakognitive Sprachbewusstheit. Inzidentelles Lernen wird dagegen in handlungsorientierten Ansätzen gerade als wichtige Grundlage des Sprachenerwerbs angesehen. Die Aktivierung intensiverer kognitiver Verarbeitung kann dementsprechend nicht nur durch metasprachliche Bewusstmachung oder Fokussierung geschehen. Auf die Umsetzung von Interkomprehensionsstrategien im Unterricht und den Schulungsbedarf der Lehrkräfte verweist Marx (2008).

2.1.3 Zusammenfassung

 Transferbasen bilden die Grundlage der Interkomprehension. Wenn die gemeinsame Basis identifiziert oder ausgefiltert ist, bleiben monolinguale Profilelemente als Spezifika einer zu erwerbenden Sprache übrig.

 Beim Erwerb einer weiteren nahverwandten Fremdsprache, zu der der Lerner bereits in erheblichem Maße über Vorwissen verfügt, kommt es demnach darauf an, das vorhandene Wissen und seine Organisation so zu aktivieren, dass die zwischen den Ausgangssprachen und der Zielsprache liegenden kognitiven Schemata miteinander verbunden werden können.

 Dermaßen erschlossene sprachliche Kompetenzen können ein wichtiges Mittel auch in spontaner Kommunikation sein, da damit zumindest ein Verständnis einer fremden Sprache erschlossen werden kann, schriftlich oder mündlich.

 Viele Migranten und Migrantinnen, insbesondere in den soziokulturell modernen Milieus, haben ein bikulturelles Selbstbewusstsein und eine postintegrative Perspektive.

 Deutschkenntnisse sind unter Migrantengruppen unterschiedlich ausgeprägt und dementsprechend sind auch die Bewusstheit für die Notwendigkeit sprachlicher Kompetenzen sowie die Bereitschaft sie zu erwerben, differenziert gestaltet.

 Die Heterogenität der Zielgruppe und die unterschiedlichen Einstellungen zum Sprachenlernen sowie die unterschiedlichen sprachlichen Kompetenzniveaus legen grundsätzlich eine nicht segregative Sprachförderung nahe. Wenn ethnische Faktoren nicht milieubildend wirken, können sie auch nicht Maßstab für ethnisch segregierende Fördermaßnahmen sein.

2.1.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle

1 Welche Defizitbereiche treten in der Behandlung des Themas ‚Sprache und Integration‘ auf? Erklären Sie die Problematik.

2 Was ist bei der Konzeptualisierung von Sprachfördermaßnahmen zu Integrationszwecken zu beachten? Welche Sprachfördermaßnahmen sind nötig um Integration zu verbessern?

3 Was ist bei der Bewertung von Sprachkompetenzen zu beachten?

4 Wie stehen ein bikulturelles Selbstbewusstsein und eine postintegrative Perspektive vieler Migranten und Migrantinnen in Bezug zur deutschen Sprache?

2.2 Faktoren der Mehrsprachigkeit

Jörg Roche

Individuelle Mehrsprachigkeit umfasst das Zusammenwirken aller Sprachen, die ein Individuum beherrscht und nutzt. In Lerneinheit 1.2 wurde allerdings bereits angedeutet, dass es nicht immer einfach ist, einzelne Sprachen voneinander abzugrenzen. Das heißt während man jemanden, der Deutsch und Französisch spricht, sofort als mehrsprachig einschätzen würde, könnte man bei jemandem, der Deutsch, Bairisch und Kanaksprak (siehe Lerneinheit 7.1) spricht diskutieren, ob er nun eine oder drei Sprachen beherrscht. Aus diesem Grund führt diese Lerneinheit einleitend in das Konzept der Inneren und Äußeren Mehrsprachigkeit ein. Anschließend beschäftigen wir uns damit, welche Rolle die L1 für den Sprachenerwerb spielt. Dabei möchten wir Sie dafür sensibilisieren, welche Gefahren die Modellierung von Mehrsprachigkeitsmodellen an den Struktureigenschaften von Sprachen, beziehungsweise die Annahme einer reinen L1 für die Gewinnung von Erkenntnissen zu Mehrsprachigkeit als eine dynamische Größe, birgt. Im zweiten Teil der Lerneinheit werden Ihnen lernerinterne und lernerxterne Faktoren präsentiert, die die Entwicklung von Mehrsprachigkeit beeinflussen.

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

 für Formen der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit sensibilisiert werden;

 die Darstellung des Einflusses der L1 in traditionellen Darstellungen von Mehrsprachigkeit kritisch reflektieren;

 relevante Faktoren für individuelle Mehrsprachigkeit unterscheiden können.

2.2.1 Innere und äußere Mehrsprachigkeit

Nach der These der natürlichen Mehrsprachigkeit beginnt diese nicht mit fremdsprachigen Codes. Auch „monolinguale“ Kinder erwerben im Laufe ihrer Sozialisation mit viel Erfolg und viel Vergnügen spielerisch und experimentell mehrsprachige Kompetenzen, die man als Varietäten der Sprache beschreiben kann. Diese natürliche Mehrsprachigkeit, die Wandruszka (1979) innere Mehrsprachigkeitinnere Mehrsprachigkeit nennt, entwickelt sich Zeit des Lebens mit dem Erschließen neuer Lebens- und Arbeitsbereiche weiter, obwohl gesellschaftliche Sanktionen und mangelnde Förderung in den frühen Jahren nicht selten die Entwicklung behindern.

Schon in unserer Muttersprache lernen wir ein dynamisches PolysystemPolysystem kennen, in dem die Sprachen verschiedener Lebenskreise, denen wir angehören, ineinandergreifen und sich vermischen. (Wandruszka 1979: 314)

Äußere Mehrsprachigkeitäußere Mehrsprachigkeit bezeichnet den Erwerb von Fremd- oder Mischsprachen (Hybridsprachen). Die anthropologische Dimension der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit ergänzt das Variationsspektrum, das in der nachfolgenden Liste anhand der wichtigsten Dimensionen skizziert ist. Dabei sind die drei klassischen Kategorien des Diasystems nach Coseriu (1988a, 1988b; siehe Lerneinheit 6.1 in diesem Band) um weitere Variationsperspektiven (unterschiedlicher linguistischer Forschungsansätze) ergänzt. Damit ergeben sich auch Mehrfachzuordnungen.

Sprachliche Variation kann demnach aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht und erklärt werden:

 anthropologisch: in Bezug auf die innere und äußere Mehrsprachigkeit

 diatopisch: in Bezug auf groß- und kleinräumige Dialekte; Regionalsprachen, Nationalsprachen, Kontakt- (Minderheiten-)Sprache, In-Group-Sprachen

 diastratisch: in Bezug auf Schicht- und Gruppensprachen, Soziolekte, Ethnolekte, Jugendsprache, Alters-, Geschlechtsspezifik

 diasituativ: in Bezug auf öffentliche beziehungsweise private Register, Ethnolekte, Soziolekte

 diachronisch: in Bezug auf die historische Entwicklung von Sprachen, zum Beispiel die Entstehung von Kreolsprachen aus Pidgins

 diaphasisch: in Bezug auf Kommunikationsbedingungen und Situativität, Stile und Register

 medial beziehungsweise modal: in Bezug auf Schriftlichkeit und Mündlichkeit, wie sie sich etwa in Diglossien manifestieren

 ontogenetisch: in Bezug auf den individuellen Sprachenerwerb und Sprachverlust, etwa in Aphasien

 phylogenetisch: in Bezug auf die (chronologische) Entwicklung eines Sprachsystems

 adaptiv: in Bezug auf adressatenspezifische Anpassungen, etwa kindgerichtete Sprache (Ammensprache, Motherese), Xenolekte, Pidgins, Gerolekte, Code-Switching

 transkulturell: in Bezug auf Neologismen, Transkulturalität

 didaktisch: etwa in Bezug auf die Sprache des Unterrichts, Lehrersprache

Diese Kategorien sind außerdem um die pragmatische Dimension zu ergänzen, da letztlich jede Art von sprachlicher Variation immer auch pragmatisch begründet werden kann.

Im Zusammenhang mit sprachlicher Variation spricht List (2004: 133) von „quersprachiger Kompetenz“ und bezeichnet damit ein fruchtbares Potenzial, die symbolischen Dienste unterschiedlicher sprachlicher Medien und Register zu erkennen, zwischen ihnen zu unterscheiden, sie womöglich selbst zu mischen oder wechselnd zu benutzen und quer durch sie hindurch zu handeln. Quersprachige Variationsstrukturen sind Ausdruck der natürlichen Kreativität im Umgang mit Sprache. Kinder und Jugendliche schaffen sich aus diesem Grund Geheimsprachen oder imitieren mit Freude und Leichtigkeit andere Kinder, Erwachsene, Cartoonfiguren oder öffentliche Stars. Lerner einer fremden Sprache haben vor allem deshalb Zugangsschwierigkeiten zu dem dargestellten Variationsspektrum der Sprachen, weil es am Anfang des Erwerbs von außen betrachtet unkonturiert erscheint und weil aus diesem Grund im Unterricht die Vielfalt oft reduziert, vermieden oder in die fortgeschrittenen Stufen ausgelagert wird. Eine erwerbsfördernde Funktion könnten aber gerade solche Variationstypen übernehmen, die den Lernern aufgrund ihres Erwerbsstandes besonders nahe sind, nämlich solche Strukturen, die von den Lernern auf ihren jeweiligen Erwerbsstufen verarbeitbar sind oder den Strukturen ihrer Erwerbsstufen entsprechen (vergleiche auch Kapitel 7 in diesem Band).

2.2.2 Einfluss der L1

In den Mehrsprachigkeitsmodellen, die sich dagegen an die KontrastivhypotheseKontrastivhypothese anlehnen, spielen Aspekte der gegenseitigen Beeinflussung der Sprachen eine wichtige Rolle (InterferenzInterferenz), aber Ausmaß und Qualität des Einflusses von vorerworbenen Sprachen und Kulturen werden in den Modellen unterschiedlich stark gewichtet. Die Kontrastivhypothese geht davon aus, dass die erworbenen Vorsprachen, vor allem aber die L1, einen Einfluss auf den weiteren Sprachenerwerb haben.

Bei der Modellierung von L1 und L2 werden allerdings homogene Sprachgebilde vorausgesetzt. Das heißt, dass Konzepte der sprachlichen Variation dort nicht berücksichtigt werden. In dem foreign language acquisition model (FLAM) von (Groseva 1998) etwa kommt der strukturellen Verwandtschaft der Sprachen eine wichtige Bedeutung zu: Die nähere Sprache übernehme demnach über bewusste und unbewusste Sprachlernstrategien die Funktion der Kontroll- und Korrekturinstanz für die weiteren Sprachen. Erst mit zunehmenden Sprachlernerfahrungen würden die Strategien vertieft und reflektiert. Als Resultat des Erwerbsprozesses entstehe ein L2-System, das alle charakteristischen Merkmale der Zielsprache, aber auch Interferenzerscheinungen aus der L1 sowie spezifische und nach Ansicht des Lerners besonders erfolgreiche Lern- und Kommunikationsstrategien in der L2 enthalte.

Diese bewusst gelernte L2 wird nach unserer Ansicht zu einer Art Korrektur- und Kontrollinstanz für jede weitere nächste Fremdsprache (L3, L4 etc.). (Groseva 1998:22)

Auf die katalytische Funktion des kognitiven Entwicklungsstandes beim Sprachenerwerb hebt dagegen die SchwellenhypotheseSchwellenhypothese ab. Sie geht davon aus, dass die vermeintliche Globalkompetenz der Erstsprache eine Referenzfunktion für die kognitive Entwicklung und damit für den L2-Erwerb hat. Ursprünglich wird aus dieser Referenzfunktion eine kausale Wirkung abgeleitet. Demnach sind gut ausgeprägte Sprachkompetenzen in der L1 Bedingung für den L2-Erwerb und guter L2-Erwerb ist die Grundlage zur Entwicklung höherer kognitiver Kompetenzen.

Abbildung 2.5:

Schwellen- und Interdependenzhypothese (nach Skutnabb-Kangas & Toukomaa 1977)

Der InterdependenzhypotheseInterdependenzhypothese zufolge sind also bestimmte minimale Niveaus in den Sprachen erforderlich, wenn der Sprachenerwerb positive Effekte auf die allgemeine kognitive Entwicklung der Lerner haben soll (vergleiche Abbildung 2.5). Diese Niveaus werden in Bezug auf die Kompetenz in der Erstsprache definiert und meist an Alter oder sozioökonomischem Status festgemacht. Die Hypothese besagt, dass der Erwerb einer fremden Sprache eher negative Effekte auf die kognitive Entwicklung eines jungen Lerners habe, wenn der Lerner nur eine niedrige Kompetenz in seiner Erstsprache besitze. Das Resultat sei dann ein doppelter SemilingualismusSemilingualismus, eine niedrige Kompetenz in Erst- und Zweitsprache. Über dieser Schwelle, in so genannten Standardfällen, in denen die Erstsprache zwar gut entwickelt ist, die Zweitsprache aber weniger gut, sind demnach die Effekte auf die kognitive Entwicklung neutral, das heißt, weder positiv noch negativ. Erst im additiven Bilingualismusadditiver Bilingualismus, bei einer hohen Kompetenz in Erst- und Zweitsprachen, lassen sich positive Effekte auf die allgemeine kognitive Entwicklung feststellen. Skutnabb-Kangas und Toukomaa (1977) fassen diese Hypothesen in dem Diagramm in Abbildung 2.5 zusammen. Diese frühen Hypothesen zur Mehrsprachigkeit haben unter anderem dazu geführt, Förderunterricht für Kinder mit Migrationshintergrund in deren Erstsprache einzuführen (muttersprachlicher Unterricht wie Türkisch für Kinder mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland und Österreich), wenn diese nicht gut ausgebildet war. Erst nach der Etablierung der Grundlagen der Erstsprache kam der Unterricht in der neuen Umgebungssprache (zum Beispiel Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache) hinzu. Die Hypothesen sind später durch Cummins‘ Differenzierung zwischen Bildungssprache (Cognitive Academic Language Proficiency, CALP) und instrumentellen umgangssprachlichen Fertigkeiten (Basic Interpersonal Communicative Skills, BICS) weiterentwickelt worden (Cummins 1981). Diese Differenzierung ist ein wesentliches Kriterium für die Bewertung der allgemeinen kognitiven Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Im Sinne von Cummins globaler Unterscheidung lässt sich bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund vor allem ein Mangel an Kompetenzen in konzeptioneller Schriftlichkeit feststellen. Auch ihren schriftlichen Arbeiten in der Schule liege demzufolge ein Konzept von Sprache zugrunde, das eigentlich mündlich sei. Die konzeptionelle Mündlichkeit lasse sich als Grundlage medial schriftlicher Produktionen von Schülerinnen und Schülern und damit als Fehlerquelle des Unterrichts und Ursache für schlechte schulische Leistungen identifizieren. Zu der Unterscheidung von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit und unterschiedlichen medialen Realisierungen siehe Dürscheid und Brommer (2009).