Menschen, die Geschichte machten

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ANMERKUNGEN

1Vgl. Meier 1988.

2Schneider 1936, S. 6.

3Vgl. Neumann 1997, bes. S. 177-181.

4Nietzsche 1980: III 404.

5Einstein 1980, S. 37.

6Warburg 1992, S. 232.

7Gombrich 1994, S. 43.

8S. z.B. Herding & Reichardt 1989, Danelzik-Brüggemann 1996 und Flacke 1998.

9Ricoeur 1965, S. 47.

10Z.B. Duby 1966/67:1 11-17, und Borst 1973, S. 675f.

11Clark zitiert hier den Titel eines Dramas von Thornton Wilder aus dem Jahre 1942. Duby 1995, S. 7.

LITERATUR

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Meier, Christian 1988: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München.

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Ricoeur, Paul 1965: De l’Interpretation, Paris; zit. dt. Die Interpretation, Frankfurt a. M. 1974.

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Schama, Simon 1995: Landscape and Memory, London.

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Warburg, Aby M. 1998: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hg.v. Horst Bredekamp, Michael Diers, Kurt W. Förster, Nicholas Mann, Salvatore Settis & Martin Warnke, Berlin, seit 1998.

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GILGAMESCH, KÖNIG VON URUK
„Der, der alles sah“ von Stefan M. Maul

Nur wenige Jahre, nachdem die assyrisch-babylonische Keilschrift, das älteste Schriftsystem der Menschheitsgeschichte, entziffert und die untergegangene semitische Sprache des Alten Mesopotamien soweit erforscht war, dass man babylonische Keilschrifttexte weitgehend verstand, erregten die Ergebnisse altorientalischer Forschungen in einer breiten Öffentlichkeit großes Aufsehen. Im Dezember 1872 stellte der britische Assyriologe George Smith auf einer Sitzung der Londoner Society of Biblical Archaeology das Bruchstück einer Tontafel vor, das man in der assyrischen Hauptstadt Ninive im Schutt des Palastes des Assyrerkönigs Assurbanipal (668-627 v. Chr.) gefunden hatte. Das Tafelfragment, geschrieben im 7. vorchristlichen Jahrhundert, gehörte zu einer Dichtung, die in formvollendeter poetischer Sprache – in dem dem Hebräischen recht nahe verwandten Babylonischen – die Geschichte von der Sintflut und dem „Überaus-Weisen“ erzählte. Dieser hieß in der neu entdeckten keilschriftlichen Fassung der Erzählung zwar nicht Noah, sondern Uta-napischti, aber wie Noah war Uta-napischti mit seiner Familie als Einziger der alles vernichtenden Flut mit Hilfe einer nach genauen Vorgaben angefertigten Arche entkommen, in der, auf göttlichen Rat, auch die Tiere das urzeitliche Weltengericht überlebt hatten.


Gilgamesch tötet den Chumbaba; Umzeichnung einer Gravur auf einem babylonischen bronzenen Gefäß aus dem frühen 1. Jahrhundert v. Chr.

Die bis in Einzelheiten gehenden Parallelen zwischen dem neu entdeckten „heidnischen“ Sintflut-Mythos und der wohlbekannten Noah-Erzählung im ersten Buch der hebräischen Bibel ließen keinen Zweifel daran, dass die Verflechtungen des biblischen mit dem uralten mesopotamischen Gedankengut weitaus enger waren, als man es je zuvor angenommen hatte. Sofort erwachte ein starkes Interesse an dem altorientalischen Mythos, der die Einzigartigkeit und für nicht wenige damit auch die normative Autorität der deutlich jüngeren biblischen Überlieferung in Frage zu stellen schien.

EIN NEUENTDECKTES EPOS

George Smith hatte sehr bald erkannt, dass die keilschriftliche Sintfluterzählung ihrerseits in ein großes Epos eingefügt war, das von den Abenteuern und Heldentaten Gilgameschs, des sagenhaften Königs von Uruk, sang. Leidenschaftlich suchten er und andere Forscher nun unter den in London aufbewahrten Tontafeln aus Ninive nach weiteren Tafelfragmenten, die zu diesem umfangreichen Werk gehört haben könnten. Dies war kein leichtes Unterfangen. Denn die Eroberer Ninives hatten, bevor sie den Palast in Brand gesteckt hatten, auch in den königlichen Bibliotheken übel gehaust und die Abertausende von Bruchstücken der mutwillig zerschlagenen Tafeln in einem Umkreis von mehreren hundert Metern über Räume, Säle und Höfe des Palastes verstreut und nur das, was zweieinhalb Jahrtausende später unter meterhohem Schutt noch aufzufinden war, war ins Britische Museum gelangt. Nach langer und geduldiger Arbeit (es müssen immer wieder kleine Tafelscherben als zusammengehörig erkannt und physisch „gejoint“ werden) zeigte sich, dass die große Dichtung um König Gilgamesch stets auf Tontafeln niedergeschrieben worden war, die drei Kolumnen auf der Vorderseite und drei Kolumnen auf der Rückseite aufwiesen, wobei eine jede aus etwa 50 Versen bestand. Die Tafeln des Werkes waren durchnummeriert und schließlich fand sich eine, es war die zwölfte Tafel, auf der vermerkt worden war, dass es sich bei dieser um die letzte Tafel des Werkes handele. Zwölf Tafeln von insgesamt etwa 3600 Versen galt es also aus den vielen kleinen Fragmenten zusammenzuflicken. Diese philologisch physische und ganz grundlegende „Arbeit am Mythos“ ist auch heute, 130 Jahre, nachdem das erste Stück des Textes bekannt wurde, immer noch nicht abgeschlossen. Obgleich in der neuesten, hervorragenden wissenschaftlichen Edition von Andrew R. George weit mehr als hundert Textzeugen zusammengetragen wurden, die keineswegs nur aus der Assurbanipal-Bibliothek in Ninive, sondern auch aus anderen Städten des Zweistromlandes stammen – aus Assur, Kalchu und Chuzirina, aus Babylon und Uruk – fehlt immer noch mehr als ein Drittel des Gesamttextes. Trotz größter Fortschritte der vergangenen Jahre bleibt daher immer noch viel Unklares und wohl auch manches Missverstandene.

 

Die Geschichte des jungen, unerschrockenen Fürsten, der in großen Abenteuern seine Kräfte mit der ganzen Welt messen will und trotz aller Mühsal doch nur auf die ewig gültige Erkenntnis zurückgeworfen wird, dass das menschliche Leben endlich ist, fasziniert gleichwohl. Denn sie handelt von den ganz grundlegenden und wohl durch alle Zeiten unveränderlichen Wünschen, Hoffnungen und Ängsten des Menschen. Schon im frühen 20. Jahrhundert, als eine erste umfassendere Übersetzung des damals Bekannten erschien, hatte „Der Gilgamesch“ sich einen sicheren Platz in der Weltliteratur erobert. Rilkes Begeisterung für das – wie er es nannte – „Epos der Todesfurcht“ ist berühmt geworden. Das 20. Jahrhundert hat in der Folge eine kaum noch zu überblickende Zahl von Theaterstücken und Romanen, ja sogar zwei Opern hervorgebracht, die ihren Stoff aus dem altorientalischen Zwölf-Tafel-Epos schöpfen, das derzeit immerhin in 16 moderne Sprachen der Welt übersetzt wurde. Hier und heute beschäftigt uns freilich die durchaus interessante moderne Rezeptionsgeschichte weit weniger als die des Altertums.

In der globalen hellenisierten antiken Welt hatten die Geschichten um König Gilgamesch offenbar einen solchen Nachklang, dass Aelius noch im frühen 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, zu einer Zeit, als die Keilschrift schon seit mehreren Generationen in Vergessenheit geraten war, in seiner Sammlung von Exzerpten und Anekdoten von einem König Gilgamos zu berichten weiß. Noch im hellenistischen Babylon Alexanders und seiner Nachfolger hatten, wie schon Jahrhunderte zuvor im Babylon des Nebukadnezar (6.Jh. v. Chr.), die Schulanfänger in ihren ersten keilschriftlichen Schreibübungen, die sie stolz dem Nabu, dem Gott der Weisheit, an einem eigens dafür vorgesehenen Feiertage weihten, Exzerpte von Texten auf Tontafeln niedergeschrieben, die sie studiert hatten: neben Zeichenlisten, orthographischen Übungen und auswendig niedergeschriebenen Passagen aus Wörterbüchern, neben Modellverträgen, Götterhymnen, Gebeten und Zauberformeln finden sich in diesen Dokumenten auch Zitate aus dem Werk, das den babylonischen Schülern unter dem Namen Sa nagba Tmuru, „Der, der alles sah“, geläufig war. Dieses zwölf Tafeln umfassende Gilgamesch-Epos, so hatten sie es gelernt, hatte der gelehrte Sin-leqe-unnini verfasst, den man in der späten Überlieferung für den ersten Weisen nach der Sintflut, für den klugen Berater des Gilgamesch selbst, also gewissermaßen als seinen Chronisten, betrachtete. Sin-leqe-unnini, der gleich mehreren Gelehrtendynastien aus Uruk, der Heimatstadt des Gilgamesch, als Stammvater galt, dürfte dennoch eher – wie es der Sprachstand seines Zwölf-Tafel- Epos nahe legt – im letzten Drittel des zweiten vorchristlichen Jahrtausends gelebt haben.

Der jungen Keilschriftforschung blieb freilich nicht allzu viel Zeit, über diese Frage nachzusinnen. Die auch hier stets drängende Frage nach dem unverfälschten Ursprung, nach dem Anfänglichen und der vermeintlichen Urgestalt, die die Theologen treibt, das biblische Werk in Überlieferungsschichten zu zerlegen, deren Nahtstellen man (mit einem für den Assyriologen befremdlich-erschreckenden Optimismus) in flüchtig gekitteten Textfugen zu erkennen glaubt, diese Frage beantwortete sich für das Gilgamesch-Epos von ganz alleine. Ausgefeilte und sich widersprechende Theorien über einen Deutero-, Trito- oder Proto-Sin-leqe-unnini erwiesen sich, Gott sei Dank, als unnötig. Denn luftgetrocknete oder gebrannte Tontafeln, die in Mesopotamien seit dem ausgehenden 4. Jahrtausend v. Chr. als Schriftträger Verwendung fanden, widerstehen, wie auch Stein und Gold, dem Zahn der Zeiten selbst in Jahrtausenden ganz unbeschadet, wohingegen organische Stoffe wie Papyrus, Leder und Holz in der Regel sehr rasch vergehen. Daher muss in der Assyriologie über ältere Textformen, über Vorläufer und Anfänge nicht spekuliert werden. Mit etwas Glück wird sich früher oder später ein Textzeuge finden, anhand dessen diese Fragen zu beantworten sind. Es kam also, wie es kommen musste. Kurz nach dem ersten Weltkrieg wurden zwei Tontafeln bekannt, die Teile eines deutlich älteren Gilgamesch-Epos in babylonischer Sprache enthielten und wohl im 18. vorchristlichen Jahrhundert, also gute 500 Jahre vor dem Entstehungsdatum des Zwölf-Tafel-Epos (und nebenbei: Tausend Jahre vor Homer) niedergeschrieben wurden. Wie sich alsbald herausstellte, waren dort in meisterhafter Weise mehrere ihrerseits erheblich ältere unabhängige Gilgamesch-Erzählungen zu einem so harmonischen und schönen Ganzen zusammengefügt, dass es schwer fällt, nicht zu glauben, dass dieses altbabylonische Gilgamesch-Epos auf einen einzigen großen Dichter zurückgeht. Den Namen des Schöpfers dieses vielleicht bedeutendsten sprachlichen Meisterwerks des Alten Orients kennen wir leider nicht. Sin-leqe-unnini, dem das altbabylonische Gilgamesch-Epos vorgelegen haben muss, so zeigte es sich, übernahm mehr oder weniger unverändert lange Passagen des alten Textes in sein umfangreiches Werk. Ob die Meister alttestamentlicher Textkritik wohl in der Lage wären, diese Zeilen in der „Endgestalt“ des Textes zu benennen? Einen Versuch wäre das wohl wert! – Weitere Textzeugen zeigen, dass der altbabylonische Text seinerseits Wandlungen erfahren hat, bevor das Zwölf-Tafel-Epos entstand und kanonisiert wurde. Vor Sin-leqe-unnini haben wohl weitere „Proto-Sin-leqe-unninis“ an der endgültigen Textgestalt des Gilgamesch-Epos gewirkt.

Die ältesten sumerischen Erzählungen um König Gilgamesch blieben uns in Textvertretern erhalten, die Schüler zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. schrieben, zu einer Zeit, als das Sumerische als gesprochene Sprache bereits weitgehend ausgestorben war. Damals erzählte man sie sich wohl schon seit Jahrhunderten. Die Geschichten um Gilgamesch, die ja nicht nur von der Frage um Leben und Tod, sondern auch davon handeln, wie sich ein durch Erfahrung klug gewordener Fürst zu verhalten hat, erfreuten sich in allen Perioden der altorientalischen Geschichte größter Beliebtheit. In der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrtausends wurde das Gilgamesch-Epos nicht nur in Babylonien studiert, sondern auch in Syrien, in Palästina und sogar in Anatolien. In den Ruinen der hethitischen Hauptstadt Hattuscha fand man keineswegs nur Textvertreter in der babylonischen Sprache, sondern auch eine Übersetzung ins Hethitische, die wohl dort am Hofe zum Vortrage gebracht wurde. Es fanden sich sogar Bruchstücke einer hurritischen Fassung des Heldenliedes.

Dank der Unverwüstlichkeit des getrockneten und gebrannten Tons, der noch in Jahrtausenden sein wird, wenn an unsere Schriftkultur außer wenigen Steininschriften nichts mehr erinnert, überschauen wir heute – und dies scheint mir einmalig zu sein – eine mehr als zwei Jahrtausende währende Literaturgeschichte eines Erzählstoffes, die sich auf jeweils originale Textzeugnisse berufen kann.

Wer war nun dieser Gilgamesch? Was war es, das nicht nur die Gelehrten und Fürsten Mesopotamiens (und wohl auch die einfachen Menschen, von denen wir diesbezüglich kaum schriftliche Kunde haben), sondern auch Lernende und Lehrende, Berater und Könige im gesamten Alten Vorderasien über mehr als zwei Jahrtausende an dieser Königsgestalt so sehr faszinierte?

In der sumerischen Königsliste ist Gilgamesch genannt. Als fünfter König der ersten nachsintflutlichen Dynastie von Uruk – einer im Süden des heutigen Irak gelegenen Stadt, die archäologischen Erkenntnissen zufolge auch als ältestes Zentrum städtischer Kultur in Mesopotamien gilt – soll er sagenhafte 126 Jahre lang regiert haben. Es ist freilich angeraten, sich zu hüten, aus diesem Grunde die frühe Königsgestalt ‚Gilgamesch‘ allzu vorschnell dem Reich der Sagen zuzuweisen. Denn Könige, die man im 2. oder 1. vorchristlichen Jahrtausend für Zeitgenossen des Gilgamesch hielt, können heute bereits als historische Herrscherpersönlichkeiten erfasst werden, da Inschriften bekannt wurden, die diese in den Fundamenten von Tempeln und Palästen für die Nachwelt deponierten. Es spricht daher manches dafür, dass eine historische Gestalt Gilgamesch tatsächlich in der Zeit um 2750 v. Chr. lebte und wirkte. Die in den literarischen Überlieferungen Babyloniens ganz zentrale Überzeugung, dass die eindrucksvolle, mehr als 9 km lange, turmbewehrte Stadtmauer von Uruk ein Werk des Gilgamesch sei, findet in der vorgeschlagenen Datierung des historischen Gilgamesch insofern eine Bestätigung, als die wohl tatsächlich älteste Stadtmauer Mesopotamiens, deren Reste in Uruk immer noch an manchen Stellen zu sehen sind, erstmals im ersten Drittel des 3. Jahrtausends v. Chr. errichtet wurde.

Den König, den man in Mesopotamien offenbar nahezu drei Jahrtausende dafür rühmte, seiner Stadt Uruk mit der Mauer eine „Hürde“ errichtet zu haben, innerhalb derer die Menschen Schutz und Zuflucht vor den Bedrohungen des Außen fanden, bezeichneten im 21. Jahrhundert v. Chr. die mächtigen Könige von Ur, die wie Gilgamesch aus Uruk stammten, als ihren „Bruder“, der – so wie sie selbst, ja geradezu als ihr Vorbild – den Menschen Schutz und Schild gewesen war als sipa zi, als „guter Hirte“. In ihren Inschriften setzten sie so die Kenntnis von Gilgamesch und seinen Taten als selbstverständlich voraus. Ihren unmittelbaren verstorbenen Vorgängern gleich, verehrten sie ihn als Gott und richteten ihm einen regelrechten Kult ein. Da der Name Gilgameschs aber bereits in erheblich älteren Götterlisten genannt ist, dürfte die Vergöttlichung des Königs fast bis in seine eigene, noch weitgehend im Dunkeln liegende Zeit zurückreichen. Ritualtexte aus dem 1. vorchristlichen Jahrtausend schließlich zeigen, dass der tote Gilgamesch als König der Unterwelt betrachtet und als Richter angerufen wurde, wenn sich die Menschen zu Unrecht von einem Totengeist verfolgt fühlten. Die Verehrung des Gilgamesch hatte auch im Alltag ihren ‚Sitz im Leben‘. Denn es war üblich und sogar vorgeschrieben, das erste, aus einem neu gegrabenen Brunnen geschöpfte Wasser nicht etwa selbst zu trinken, sondern als Trankspende und Totenopfer den Unterweltsgöttern und Gilgamesch, dem „König der Unterwelt“, darzubringen.