Menschen, die Geschichte machten

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DER GRÜNDERHEROS

Dem Faszinosum ‚Gilgamesch‘, wie es in den Jahrhunderten und Jahrtausenden der mesopotamischen Textüberlieferung – möglicherweise sich jeweils verändernd – wahrgenommen wurde, möchte ich mit Hilfe einer kleinen Beobachtung ein wenig näher kommen. Hierfür sollen jeweils die ersten Zeilen der altbabylonischen Fassung des Gilgamesch-Epos (also diejenige, die im 18. Jahrhundert v. Chr. entstanden war) und jener des Sin-leqe-unnini betrachtet und verglichen werden. Zur Erläuterung dieses Vorgehens ist es jedoch zunächst notwendig, ein wenig auszuholen. In dem Schrifttum des Alten Orient ist es, abweichend von unserer eigenen westlichen Tradition, nicht üblich, literarischen oder wissenschaftlichen Werken eine Überschrift zu geben. Sie werden daher nicht mit einem Titel wie Ilias oder De divinatione benannt, sondern schlicht nach ihren Anfangsworten, die in der Regel freilich so geschickt gewählt sein müssen, dass sich in ihnen dem aufmerksamen Leser möglichst das Wesen des gesamten Werkes offenbart. So heißt etwa der große babylonische Schöpfungsmythos ebenso wenig zufällig Enüma elis lä nabü samämü, „Als droben noch nicht benannt waren die Himmel“, wie das erste Buch der hebräischen Bibel berēšīt, „Im Anfang“ heißt, denn dieses behandelt die Urgeschichte der Menschheit und des Gottesvolkes, jenes babylonische Werk die Geschichte der Vorwelt, der Zeit also, die vor der Schöpfung der Welt liegt. Vor diesem Hintergrund dürfte klar sein, dass auch die Anfangszeilen der Gilgamesch-Epen mit größtem Bedacht gewählt wurden und jeweils Licht auf die Aussageabsicht des gesamten Werkes werfen.

Das uns nur teilweise erhaltene altbabylonische Epos, das zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends entstand, heißt nach seinen Anfangsworten Šūtur eli šarrī, „Von allen Königen unübertroffen“. Diesem Titel zufolge stehen im Mittelpunkt des Epos die Herrlichkeit, die Größe, die Machttaten und der Ruhm eines Königs und Feldherrn, dessen gewaltige Leistungen in Vergangenheit und Zukunft unerreicht bleiben. Dass ein solcher Text nicht nur an den Königshöfen Mesopotamiens, sondern auch an denen anderer Völker und Kulturen, in Syrien, Palästina und Anatolien Verbreitung fand und zur Erbauung – und wohl auch als Exemplum – studiert wurde, überrascht uns daher nicht. Der Eindruck der ersten Zeile des frühen Gilgamesch-Epos findet in den folgenden Versen rasch Bestätigung:

Šūtur eli šarrī šanu’udu bēl gatti

qardu lillid Uruk rīmu muttakpu

illak ina pāhi ašāred

arka illakma tukulti ahhēšu

kibru dannu şulūl ummānīšu

agû ezzu mu’abbit dūr abni

Unter allen Königen unübertroffen, hochberühmt und von edler

Gestalt,

der kühne Spross Uruks, der stoßende Stier

geht vorne als erster voran.

Auch hinten geht er als Zuversicht seiner Brüder;

festes Ufer und Schirm seiner Truppen,

wütende Woge, die einreißt die Mauer aus Stein.

Der Titel des Jahrhunderte später entstandenen Zwölf-Tafel-Epos Sin-leqe-unninis betont nicht die unbändige Kraft des Königs und Feldherren, sondern einen ganz anderen Aspekt des Titelhelden. Ša nagha īmuru, „Der, der alles sah“ nannten Babylonier und Assyrer das jüngere Epos um Gilgamesch, den König von Uruk. Die ersten Zeilen des Werkes lauten in deutscher Übersetzung:

Der; der alles sah, das Fundament des Landes,

der [um Verdecktes] wusste, der der alles erkannt -

Gilgamesch, der alles sah, das Fundament des Landes,

der [um Verdecktes] wusste, der der alles erkannt -

[…]

über alles [erfuhr er] das All an Weisheit.

Er sah das Geheime und legte dar das Verdeckte,

brachte Weisung von der Zeit vor der Flut.

Bereits das zweite Wort, nag/qbu, das hier etwas leichtfertig mit „alles“ wiedergegeben wurde („Der, der alles sah“), hat es in sich. Denn nagbu in Ša nagba īmuru bedeutet keineswegs nur „Gesamtheit“ oder „alles“. Im Babylonischen gibt es ein gleichklingendes (homophones) Wort nagbu, das in der ersten Zeile des Epos ganz sicher ebenso gemeint ist wie das Wort nagbu, „Gesamtheit, alles“. Dieses zweite Wort nagbu bezeichnet einen für das mesopotamische Weltbild äußerst wichtigen kosmographischen Begriff. Dem babylonischen Weltbild zufolge besteht der Kosmos aus vier Schichten: dem Himmel, der begehbaren Erde, einem unmittelbar darunter befindlichen Süßwasserhorizont, der Brunnen und Quellen speist, sowie der Unterwelt. Nagbu ist die babylonische Bezeichnung für den ‚Süßwasserhorizont‘, den Machtbereich des wasserspendenden und damit – insbesondere für das aride Mesopotamien – auch lebensspendenden Gottes der Weisheit Enki, durch dessen indiskreten Hinweis auf die bevorstehende Sintflut der babylonische Noah und damit die gesamte Menschheit dem göttlichen Beschluss, dem Leben ein Ende zu setzen, entkam. Gilgamesch sah also nicht nur „alles“, sondern er „sah“ und erfuhr auch den nagbu genannten Süßwasserhorizont, der den Menschen ansonsten unzugänglichen Machtbereich des Weisheitsgottes selbst. Das jüngere Gilgamesch-Epos stellt anders als das ältere, so sehen wir es gleich an der ersten Zeile, die Erfahrung, die Weisheit Gilgameschs deutlich in den Vordergrund. Dies ist es, was das jüngere Epos in erster Linie rühmt: den Gilgamesch, der nicht nur ein „All an Weisheit“ erworben hatte, sondern das „Geheime, das er sah“, der Menschheit „offenlegte“. Die Ruhmestaten dieses Königs Gilgamesch sind nicht durch Kraft erlangt, sondern durch erworbene und offenbarte Erkenntnis, die der König zum Nutzen der ihm Anempfohlenen einsetzte und weitergab. Gilgamesch, so haben wir es als zentrale Aussage bereits aus den ersten Zeilen des Textes vernommen, brachte Erkenntnis, „brachte Weisung von der Zeit vor der Flut.

Was bedeutet dies? In der Weltenschöpfung hatten, nach babylonischer Vorstellung, die Götter nicht nur den Kosmos, die Natur und den Menschen erschaffen. Als Vollendung des göttlichen Schöpfungswerkes seien, so berichten es die Keilschriftquellen, nacheinander sieben göttliche Weise aus den Wassern gestiegen (den babylonischen Theologen zufolge soll es immer wieder der Weisheitsgott selbst gewesen sein) und diese sieben Weisen hätten die Menschen Wissenschaften und Künste, kurz alle Kulturleistungen gelehrt, die seitdem nicht mehr hätten vermehrt werden können. Durch die Katastrophe der Sintflut jedoch waren die Menschen abgeschnitten von der Frische und der klaren Ordnung der Schöpfung, beraubt des Ordnungswerkes der uranfänglichen Schöpfung und gesetzt in eine Zeit, der es an dem ordnenden Regelwerk der vorsintflutlichen Welt gebrach. Das mit und von der Flut Verschüttete ist es, was Gilgamesch, der Allerfahrene – so lesen wir es aus den ersten Zeilen des Textes – den Menschen wiederbringt: die „Weisung von der Zeit vor der Flut“. Die folgenden Zeilen des Textes zeigen dies deutlicher:

Er brachte Weisung von der Zeit vor der Flut.

[…]

Er baute die Mauer von ‚Uruk, der Hürde‘,

die des hochheil’gen Eanna, des glanzvollen Schatzhauses.

Sieh’ an dessen Mauer, deren Friese (strahlen) wie Kupfer!

Betrachte deren Brustwehr, die niemand nachzubilden weiß!

Nimm doch die Treppe, die (dort) seit ewigen Zeiten!

Komm heran an Eanna, den Wohnsitz der Ischtar,

den kein künft’ger König wird nachbilden können, noch sonst ein

anderer Mensch.

Steig doch herauf, auf der Mauer von Uruk wandle einher.

Nimm ihre Fundamente in Augenschein und prüfe ihr Ziegelwerk:

(Prüfe), ob ihr Ziegelwerk nicht aus Backstein besteht

und ob nicht die Sieben Weisen (selbst) ihre Fundamente gelegt!

Die „Hürde“, die Gilgamesch, der König, der ihm anempfohlenen menschlichen Herde errichtet hat, die Mauer Uruks, das über Jahrtausende unvergängliche Werk des Königs, ist in der Sicht des Dichters keineswegs erstmals auf Weisung Gilgameschs entstanden! Die letzten Verse: „Prüfe, ob ihr Ziegelwerk nicht aus Backstein besteht / und ob nicht die Sieben Weisen (selbst) ihre Fundamente gelegt!“ besagen deutlich: Gilgamesch errichtete die von der Flut zerstörte Mauer auf ihren vorsintflutlichen Fundamenten und bietet so durch seine Kraft, sein Wissen und seine Kunst den Menschen wieder den Schutz, den die vorsintflutliche Ordnung ihnen bot und die nachsintflutliche Welt ihnen bisher verwehrte. Die Mauer ist den Menschen ewiges Zeichen dafür, dass mit Aufwand und Kraft die Sicherheit der sozusagen paradiesischen Ordnung wiederhergestellt werden kann. Hierum geht es – unter anderem jedenfalls – im Gilgamesch-Epos.

Ein weiteres zeigt noch die erste Passage des Epos: Die Erinnerung der schon im 1. Jahrtausend v. Chr. ehrwürdig-uralten Schriftkultur Mesopotamiens geht offenbar so weit zurück, dass nach Jahrtausenden noch bewusst geblieben ist, dass „Stadt“ als segen- und schutzbringende „Hürde“ der Menschen eine mit höchsten Anstrengungen erreichte Kulturleistung ist, die sich erstmals im südlichen Mesopotamien vollzog. Von Kulturleistungen soll auch im Folgenden noch die Rede sein.

 

FAHRT ANS ENDE DER WELT

König Gilgamesch, voll ungezügelter Kraft und zu zwei Dritteln Gott, nur zu einem Drittel Mensch, bedrängt die ihm anvertrauten Menschen Uruks, die ihres Königs wegen keine Ruhe finden können. Um ihn zu bändigen, erschaffen die Götter Enkidu als seinen Gegenpart. Ist Gilgamesch die Kultur, so ist Enkidu ganz Natur. Der ganz Behaarte

frisst mit den Gazellen das Gras,

mit dem Wild trinkt er am Wasserloch

und mit dem Getier erfreut er sich am Nass.

Die Tiere weichen erst dann in Angst vor ihm, nachdem eine Dirne, die sich vor ihm entblößte und mit der er „6 Tage und 7 Nächte schläft“, ihn verführt, von der Natur zur Kultur verführt: „Komm, ich will dich hineinführen nach Uruk …“ Brot, Bier und Kleidung empfing er aus ihrer Hand. Diesen „Sündenfall“ zur Kultur wird Enkidu in der Stunde seines Todes einst verfluchen und mit ihm die Verführerin, die Dirne, die für alle Zukunft auf der Straße leben und von Betrunkenen geschlagen werden möge. Der Sonnengott muss intervenieren, um von Enkidu auch einen Segen für die Dirne zu erwirken: „Um deinetwillen werde verlassen die Mutter von sieben Kindern, die Gattin!“, lautet einer dieser Segenssprüche.

Der „domestizierte“ Enkidu und Gilgamesch messen ihre Kräfte, werden unzertrennliche Freunde. Gemeinsam ziehen sie gegen Chumbaba, den von den Göttern eingesetzten „Wächter des Zedernwaldes“, den noch nie ein Mensch betreten hatte. Als erste wollen sie die gewaltigen Bäume fällen und mit diesen prächtige Bauwerke errichten, so wie es seit ihrer Urtat dann dem Königtum geziemt. Mächtige Baumstämme stehen in dem waldarmen Mesopotamien kaum zur Verfügung und werden dennoch von jedem mesopotamischen König, der seiner Macht mit einer repräsentativen Architektur Ausdruck verleihen möchte, für die Dachkonstruktionen großer Bauwerke und für die Herstellung monumentaler Türen dringend benötigt. Über Jahrtausende führten die Herrscher des Zweistromlandes Kriege mit den Völkern Irans, Anatoliens, Syriens und Palästinas, um an diesen unverzichtbaren Rohstoff zu gelangen. Der uranfängliche dieser Kriege ist der Zug Gilgameschs und Enkidus gegen Chumbaba, die furchtbare, feuerspuckende, aber nicht bösartige Kreatur: „Sein Mundwerk ist ‚Das Feuer‘, sein Ausspruch ist der Tod“. Mit List bezwingen die beiden Freunde den armen Chumbaba, der ganz vergebens um sein Leben bittet (s. S. 33). Er wird geschlachtet, zerfetzt, sein Haupt als Trophäe verschickt. Dann werden die Zedern gefällt und den Euphrat herabgeflößt.

In dem Mord am göttlichen Diener, der doch eine notwendige Bluttat war – denn die hohe Kultur zwischen Euphrat und Tigris braucht das Holz und würde es immer brauchen –, in diesem Mord liegt tiefe Hybris. Dreist griffen Menschen in die göttliche Ordnung ein und zerstörten sie. Und nicht allein der Wunsch, die „Hürde“ Uruk mit Bauholz zu errichten, trieb Gilgamesch und Enkidu zu ihrer grausamen Tat. Auch eitle Geltungssucht war mit im Spiel. Denn vor der Gefährlichkeit des Chumbaba gewarnt, hatte Gilgamesch gesagt: „Würde ich fallen, hätt’ ich (mir dennoch) einen Namen gemacht. / (Man würde sagen:) ‚Gilgamesch hat den unbänd’gen Chumbaba in Kampf verstrickt!'“. – Der Sieg der Kultur über die Natur, der Gilgameschs und Enkidus über Chumbaba hat seinen Preis, der höchsten Triumph und Allmachtsgefühle vergällt.

Enkidu muss sterben und Gilgamesch, der seinen geliebten Freund nicht eher verlässt, „bis ihm der Wurm aus der Nase fiel“, erfährt hautnah, dass die Triumphe des Mächtigen vor den essentiellen Dingen des Lebens nichts weiter sind als Schall und Rauch. Später wird es ihm der aus dem Reich der Toten empor beschworene Enkidu bitter bestätigen: Hinter dem Eingang zur Unterwelt liegen die Kronen irdischer Herrscher, abgelegt auf einem Haufen – denn vor des Todes Angesicht sind alle gleich.

Nun tut Gilgamesch etwas Unerhörtes, etwas im Umfelde mesopotamischen Königtums nie Gesehenes. Er, der königliche Hirte, verlässt seine Stadt, verlässt seine Menschen und irrt durch die Welt, um zu entdecken, wie er dem endlichen Schicksal entkäme. Vergessen ist scheinbar alle Eitelkeit auf der Suche nach dem unbegrenzten Leben. Als Gilgamesch an das Ende der Welt gelangt, ist er nicht mehr König. Verschmutzt, abgerissen, nur notdürftig in Felle gewickelt, wie einst der Natur-Mensch Enkidu, kommt er an das Ende der Welt. Die Göttin, auf die er hier trifft, soll ihm den Weg weisen, zu Uta-napischti, dem babylonischen Noah und seiner Frau, den einzigen Menschen, denen die Götter das ewige Leben gewährten. Von ihnen erhofft er sich das Geheimnis unendlichen Lebens. Doch spöttisch nur antwortet ihm Siduri, die Göttin:

Gilgamesch, was streunst du umher?

Das Leben das du suchst, wirst du nicht finden:

Als die Götter die Menschheit schufen,

setzten sie der Menschheit den Tod,

das Leben aber behielten sie in ihrer eigenen Hand.

Du, Gilgamesch, lass voll sein den Bauch, und hab’ Freude bei Tag und bei Nacht!

An jedem Tage bereite dir Freude, spiele und tanze bei Tag und bei Nacht!

Strahlen mögen all deine Kleider.

Dein Kopf sei gewaschen, in Wasser seist du immer gebadet!

Schau auf das Kind, das an der Hand dich ergreift!

Die Gattin möge sich immer wieder erfreuen in deinem Schoße!

Nur dies ist das Schicksal der Menschen.

So muss der herrliche Gilgamesch erfahren, dass ihn, den Fürsten, von den Menschen nichts unterscheidet. Er will es nicht wissen und reist weiter durch Räume und Regionen, die noch nie ein Mensch betreten, bis er letztlich – wie niemand vor ihm – doch zu Uta-napischti gelangt.

Dieser ist zwar gerne bereit, Gilgamesch das Geheimnis anzuvertrauen, wie er selbst zur Unsterblichkeit gelangte – dies ist die berühmte 11. Tafel des Gilgamesch-Epos mit der Sintflutgeschichte. Aber sein Urteil über den durch Irren und Wirren verwahrlosten Gilgamesch ist gar noch härter als das der Siduri. Gilgamesch, der erfahren hatte, wie Uta-napischti für immer dem Tode entronnen war, erhoffte sich, dem babylonischen Noah das Geheimnis zu entlocken, wie er selbst zu einem Unsterblichen werden könnte. So rät Uta-napischti dem Gilgamesch, eine ganze Woche lang zu wachen. Gilgamesch besteht diese Probe aber nicht und muss so erfahren, dass er den Tod nie wird besiegen können, wenn er nicht einmal dem Schlaf zu widerstehen weiß. Nun geht der weise Uta-napischti mit Gilgamesch hart ins Gericht:

Was treibt dich, Gilgamesch, denn dauernde Trübsal,

der du doch aus Fleisch der Götter und Menschen geschaffen?

[…]

In der Versammlung stellt’ einen Thron man dir hin: ‚Setz dich‘, sagten sie zu dir!

[…]

Was aber ist dem Dumpfen gegeben?

Der im Folgenden leider nur schlecht erhaltene Text lässt erkennen, dass Uta-napischti von Gilgamesch verlangt, sich endlich wie ein König zu betragen und seiner Natur, seiner Bestimmung entsprechend für die Menschen zu sorgen und sicherzustellen, dass die Menschen, so wie es die Regeln verlangen, die Götter versorgen. Nicht die Sorge um das eigene Ich, sondern die um die Menschen und die Götter hat das Streben des Königs zu bestimmen, der erst dann wahre Heldentaten, Ordnungstaten vollbringen kann, wenn er sich selbst bescheidet. Der babylonische Noah stattet den verwilderten Gilgamesch mit dem prächtigen Königsornat aus und schickt ihn zurück nach Uruk. Auf Bitten seiner Gattin verrät er, wohlwissend um den Ausgang, Gilgamesch zum Troste, wo er ein Kraut finden kann, das ihn wieder in den Zustand der Jugend zurückzuversetzen vermag. Zwar findet Gilgamesch das Kraut, doch bevor er selbst es essen kann, verschlingt es eine Schlange, die sich dann – wie es Schlangen bis heute tun – verjüngt, indem sie ihre alte Haut abwirft. Gilgamesch hingegen bleibt nicht nur das Geschenk des ewigen Lebens, sondern auch das der zweiten Jugend verwehrt. Er muss sich nun endgültig bescheiden und – wie alle mesopotamischen Könige – mit einem Fortleben in seinem Nachruhm begnügen.

Dass Gilgamesch den Rat des Sintflutweisen, die nachsintflutlichen Menschen mit den Göttern zu versöhnen, befolgt hat, zeigen nicht nur die ersten Zeilen des Epos, die den herrlichen Bau des „Himmelshauses“ preisen, sondern auch folgende Verse der Einleitung:

Der, der die heiligen Stätten, die die Sintflut zerstörte, wieder errichtete,

der den umwölkten Menschen die Kultordnungen festlegte -

wer ist der, der sich mit seinem Königtum messen könnte,

und so wie Gilgamesch sagen könnte: Ich, ja ich, bin König.

Das Königsbild, das hier gezeichnet und späteren Königen zum Vorbild gestellt ist, lässt sich nicht in Einklang bringen, mit dem Bilde des „Orientalischen Despotismus“, das der Westen so gerne – von den Perserkriegen bis heute – von den Herrschaftsformen des Orients zeichnet. So möge man auch hier die uralte Warnung vernehmen, die im Epos von Gilgamesch in die Ohren der Mächtigen gelegt ist: Es bescheide sich der Mensch…

QUELLEN

Claudius Aelianus: On the characteristics of animals, hg. u. übers, v. A. F. Schofield, Cambridge (Mass.) 1971. [Der Bericht über die wunderbare Rettung des als Kind von einem Turm geworfenen Gilgamos durch einen Adler findet sich im 21. Kapitel des 12. Buches.]

George, Andrew R.: The Babylonian Gilgamesh Epic. Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts, London 2003.

LITERATURHINWEISE

Hecker, Karl 1994: Das akkadische Gilgamesch-Epos, In: Texte aus der Umwelt des Alten Testamentes, Band III, Lieferung 4, Mythen und Epen II, hg. v. Otto Kaiser, Gütersloh.

Maul, Stefan M. 1999: Wer baute die babylonische Arche? – Ein neues Fragment der mesopotamischen Sintfluterzählung aus Assur, In: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 131, S. 155-162. (Vgl. http://www.assyriologie.uni-hd.de/assurmaul/gilga.htm).

Maul, Stefan M. 2001a: Reste einer frühneuassyrischen Fassung des Gilgamesch-Epos aus Assur, In: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 133, S. 11-32.

Maul, Stefan M. 2001b: Neue Textvertreter der elften Tafel des Gilgamesch-Epos aus Assur, In: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 133, S. 33-50.

HOMER
Die Erfindung des Autors von Barbara Graziosi

Zwischen Februar und April 1772 verbreiteten mehrere größere Zeitungen in England und Frankreich eine sensationelle Neuigkeit: Das Grab Homers war entdeckt worden! Bis Ende desJahres hatte der Entdecker, Pasch van Krienen, über seinen Fund einen ausführlichen Bericht abgefasst, den er in einem Buch mit dem Titel Breve descrizione dell’arcipelago in den letzten Monaten des Jahres 1772 oder zu Beginn des folgenden Jahres in Livorno publizierte. Graf van Krienen stammte aus holländischer Familie, war in Preußen geboren und hatte bis 1771 in der russischen Ägäis-Flotte gedient. Danach widmete er sich auf eigene Kosten archäologischen Forschungen. Den in den antiken Homerbiographien enthaltenen Angaben folgend, segelte er mit der Absicht nach Ios, einer Insel der Kykladen, dort das Grab des Dichters zu finden. Nachdem er einige Zeit damit zugebracht hatte, die Einheimischen zu bedrängen und zu bestechen, riet man ihm schließlich, mit den Grabungen an einem bestimmten Platz zu beginnen, und er stieß auch prompt auf drei Sarkophage: Die ersten beiden enthielten riesenhafte Skelette, doch erst der unterste barg den wahren Schatz. Sobald die Arbeiter den Deckel des Sarkophags angehoben hatten, konnte van Krienen eine auf einer Marmorplatte kauernde Figur erkennen, mit einem Tintenfass, einer Feder, einem Schreibgriffel und einem Gerät zum Schärfen dieses Griffels als Beigaben. Ebenfalls sichtbar war ein Medaillon mit der Aufschrift „OMIROS“ für eine antike Inschrift eine seltsame Schreibung, die sich aber umso leichter aus der Aussprache des Neugriechischen erklärt. Unglücklicherweise erwies sich der Sarkophagdeckel als zu schwer für die Arbeiter, sodass sie ihn an seinen ursprünglichen Platz zurückfallen ließen. Als man ihn wieder anhob, war von der Figur nur noch ein Häuflein Staub zurückgeblieben.

 

Porträt des Homer, sog. „Epimenides-Typus“, nach einem Original von ca. 460 v. Chr.; München, Glyptothek

Es mag uns seltsam anmuten, dass diese Geschichte von der zeitgenössischen Presse so enthusiastisch aufgenommen wurde. Tatsächlich wurde etwa in einem Artikel des Mercure de France im April 1773 sogar mit einigem Eifer dafür argumentiert, das Grabmal von seinem Fundort zu entfernen und ihm eine angemessene Ruhestätte in „Europa“ zu geben:

[…] wir sollten in Dankbarkeit seinen sterblichen Überresten eine würdige Ruhestätte verschaffen. Möge sich also Europa in den Besitz dieses Denkmals bringen und an ihrem Busen die kostbaren Überreste dieses größten aller Dichter bergen.

Van Krienen selbst war – wie zu erwarten – nur allzu erpicht darauf, das Grab an einen europäischen Herrscher zu verkaufen. Wir wissen allerdings weder, ob er dabei Erfolg hatte, noch, wohin das Monument schließlich gebracht wurde. Der schwedische Gelehrte Biörnstähl sah es in Kisten verpackt am 2. Juni 1772 in Livorno. Einige Jahre später fand der Reisende und Archäologe Lechevalier ein „Grab des Homer“ in St. Petersburg vor, aber der Beschreibung und den angegebenen Maßen nach zu urteilen, handelte es sich um ein anderes Monument dieser Art.1 Ganz offensichtlich war van Krienen nicht der einzige, der das Grab des „größten aller Dichter“ entdeckt hatte. Tatsächlich waren Gräber keineswegs die einzigen mit Homer verknüpften Funde. Im 18. Jahrhundert und darüber hinaus las man die antiken Homerbiographien als Führer zu archäologischen „Entdeckungen“: Reisende identifizierten den Fluss Meies in der Nähe von Smyrna, an dem – einigen Berichten zufolge – Homer geboren worden sein soll, und ebenso eine Höhle in der Nähe, in der er angeblich seine Dichtungen abgefasst hatte. Auf Chios vor der Küste Kleinasiens fand man in einigen Steinsitzen die „Schule des Homer“: Der Dichter soll dort in seinen mittleren Lebensjahren unterrichtet haben. Die Übereinstimmungen zwischen diesen Funden und den Geschichten, die in der Antike über Homer zirkulierten, sind bemerkenswert. Diese Legenden äußerten sich zu den möglichen Geburtsorten Homers, erzählten von seinen Reisen, Abenteuern und Begegnungen, um schließlich sein Ende zu berichten: Nachdem der Dichter ein Kinderrätsel nicht hatte lösen können, rutschte er auf einem Stück Dung aus und starb. Obwohl diese antiken Biographien ganz offensichtlich viele phantastische und in sich widersprüchliche Elemente enthalten, wurden sie von den frühen Reisenden und Archäologen wie van Krienen für bare Münze genommen.2

Zur selben Zeit, aber in anderen Kreisen, verwendeten die Gelehrten wenig Mühe auf die alten Legenden, die sich um die Person Homers ranken. Friedrich August Wolf warf die berühmte „Homerische Frage“ auf, indem er in seinen Prolegomena ad Homerum behauptete, die homerischen Epen seien eine Zusammenstellung von Einzeldichtungen, die von vielen unterschiedlichen Sängern in mündlicher Form geschaffen worden wären.3 In gewisser Weise waren seine Schlussfolgerungen den Positionen einiger früherer Forscher sehr ähnlich, so etwa den von Francois Hedelin Abbe d’Aubignac in seinen Conjectures académiques ou dissertation sur l’Iliade oder von GiambattistaVico in Della discoverta del vero Omero — Scienzia Nuova 2.3 geäußerten.4 Doch Wolf war wesentlich erfolgreicher darin, seine Argumente in einer Art und Weise zu präsentieren, die man für streng philologisch hielt; nicht zuletzt aus diesem Grund sah man in ihm später den Gründervater der Klassischen Philologie. Bemerkenswerterweise behauptete er ausdrücklich, an den antiken Homerbiographien und den von ihnen behandelten Themen nicht interessiert zu sein. Er erklärte:

Wo hat er gelebt? Wo war er geboren?

Darauf kommt es nicht an.5

Erst vor dem Hintergrund der sensationsheischenden „Entdeckungen“, die man damals auf der Grundlage der Homerviten machte, wird Wolfs deutliche Ablehnung, sich mit diesen auseinander zu setzen, recht verständlich. Aber nicht alle waren von Wolfs Anspruch, einen wissenschaftlichen Fortschritt erreicht zu haben, überzeugt. Goethe zögerte nicht, Wolfs Forschungen in seinem wenig ehrerbietigen Epigramm Der Wölfische Homer lächerlich zu machen:

Sieben Städte zankten sich drum, ihn geboren zu haben; Nun da der Wolf ihn zerriss, nehme sich jede ihr Stück.6

Während Wolf versuchte, sich von den antiken Legenden über Homer frei zu machen, benutzte sie Goethe, um anzudeuten, dass es in Wahrheit nichts Neues zu vermelden gab: Schon immer hatte es Streit über die Identität des einen Autors Homer gegeben, und stets hatte die Gefahr bestanden, dass aus solchen Diskussionen eine Mehrzahl von homerischen Autoren hervorgehen würde. Goethes Gedicht war als witzige Replik gedacht, aber es trifft den Kern einer ernsten Frage: Gibt es Kontinuitäten zwischen antiken und modernen Spekulationen über Homer? In welchem Maße ist es statthaft, von „Fortschritt“ zu sprechen, wenn es darum geht, eine Vorstellung von dem Dichter Homer zu gewinnen?

Diese Fragen haben im Allgemeinen wenig Beachtung gefunden. An der Wende zum 19. Jahrhundert begriff man die antiken Homerbiographien entweder einfach als Schatzkarten, die zur Entdeckung etwa von Homers „Grab“ führen konnten, oder man verwarf sie gänzlich als irrelevant für die ernsthafte Forschung. An der Wende zum 21. Jahrhundert ist die Situation in etwa dieselbe. Den Touristen, die nach Chios kommen, zeigt man noch immer die „Schule des Homer“, und ähnliche lokale Traditionen, die letztlich auf die antiken Homerbiographien zurückgehen, überleben auch an anderen Orten. Die Ursprünge dieser lokalen Überlieferungen sind nicht schwer zu erraten. Wie wir gesehen haben, benutzten die frühen Reisenden, die in der Ägäis auf den Spuren Homers wandelten, die antiken Viten als Baedeker und konfrontierten die ansässige Bevölkerung mit Fragen und Erwartungen, die sich aus den antiken Legenden speisten. Im 18. Jahrhundert beklagten sich diese Reisenden für gewöhnlich darüber, dass die Einheimischen alles über das Leben Homers „vergessen“ hätten; heute zeigen sich Forscher beeindruckt (oder irritiert) durch die Übereinstimmungen zwischen den Berichten der lokalen inoffiziellen Fremdenführer, zum Beispiel in Chios, und den antiken Homerbiographien. Das Phänomen ist einfach zu erklären: Diejenigen, die mit den Homerviten als Reiseliteratur die antiken Stätten aufsuchten, hauchten den alten Legenden bei der griechischen Bevölkerung ihrer Zeit neues Leben ein: Als die nächsten Reisenden ankamen, wussten die Führer bereits, was diese hören wollten.

In der akademischen Welt indessen verwerfen Gelehrte die antiken Legenden über Homer bis heute mit derselben Entschlossenheit wie einst Wolf. Dabei sind die Ansichten über die tatsächliche Entstehung der homerischen Epen heute so vielfältig wie im 18. Jahrhundert: Forscher wie Gregory Nagy bestehen beispielsweise auf der Ansicht, die homerischen Epen in der uns überlieferten Form seien das Resultat einer langen Tradition der Nachschöpfung während mündlicher Rezitationen. Dieser Meinung zufolge ist kein einzelner Dichter verantwortlich für die Abfassung der Epen, der Ilias und der Odyssee, und „Homer“ ist der Name eines mythischen Barden, der als Etikett für eine bestimmte Dichtungstradition dient. Andere Forscher, wie etwa Joachim Latacz, betonen hingegen, die homerischen Epen könnten nur das Werk eines außerordentlich begabten Sängers sein. Sie seien zu komplex strukturiert und insgesamt zu gut, um das Produkt einer Vielzahl von Dichtern zu sein.

Es ist offensichtlich, dass die gegenwärtige Diskussion um die Entstehung der homerischen Epen ganz wesentlich dadurch geprägt wird, was wir, als moderne Leser Homers, uns über die Entstehung seiner Werke vorstellen können oder eben nicht können. Man sollte nun meinen, dass es allein aus diesem Grund sehr gewinnversprechend wäre, unsere Konzepte von Autorschaft mit der Auffassung zu vergleichen, die sich die alten Griechen von Homer machten. Tatsächlich sind sich jedoch Forscher aller Schulen einig darin, die antiken Homerbiographien aus dem Studium der homerischen Epen zu verbannen.