Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung

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Zum Beispiel Carl Lutz

Von den Gräueltaten hatte Carl Lutz als Schweizer Konsul im britischen Palästina durch einen Schweizer Missionar erfahren. 1944 dann amtete Lutz als Konsul in Budapest und rettete dort Zehntausende verfolgte Juden, indem er sogenannte „Schutzpässe“ für eine Auswanderung nach Palästina ausstellte und sogenannte „Schweizer Schutzhäuser“ einrichtete. In der Schweiz wurde er für sein eigenmächtiges Vorgehen kritisiert und erst nach seinem Tode gewürdigt.

Der Völkermord an den Armeniern reicht bis in unsere Gegenwart: In diesen Tagen machen die Mördertruppen des sogenannten Islamischen Staates Jagd auf aramäische Christen in den Dörfern im Nordosten Syriens. Sie foltern, töten, vertreiben die Menschen. Die 35 assyrischen Dörfer am Fluss Chabur waren durch aramäische Christen gegründet worden, die den Völkermord an den Armeniern und Christen vor hundert Jahren überlebt hatten. Und in unseren Tagen sehen wir alle zu, wie eine weitere Verfolgungswelle wahrscheinlich die Reste des christlichen Lebens dieser Region auf grausamste Art und Weise zerstört.

Die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern war in den 1930er-Jahren durchaus lebendig. Sie hat die bald darauf einsetzende Massengewalt und auch den Holocaust nicht verhindert.

Wir erinnern uns heuer an den Völkermord an den Armeniern – doch was bedeutet das konkret? Was leiten wir aus diesem Gedenken an vergangenen Schrecken ab?

Es ist ungemein schwierig, aus dem Gedenken an schlimmes vergangenes Geschehen Anleitungen für richtiges gegenwärtiges Handeln abzuleiten.

Der Althistoriker Christian Meier aus München schrieb ein schmales Büchlein über Erinnern und Vergessen. Es trägt den Titel: „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit.“

An den Anfang des Buchs setzt er zwei Beispiele zum Umgang mit „schlimmer Vergangenheit“. Einmal zitiert er die Worte des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Herzog, der 1996 sagte: „Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Diesem Gebot des Erinnerns setzt Meier einen Friedensvertrag von 851 gegenüber, in dem drei zerstrittene Karolinger Verständigung suchten. In diesem Vertrag wird eine völlige „Tilgung“ alles vergangenen Unrechts und aller Übel aus den Herzen der Beteiligten gefordert, nichts davon sollte im Gedächtnis erhalten bleiben, damit es nicht zur Vergeltung käme. Dies sollte dem Rachebedürfnis begegnen und eine Gewaltspirale verhindern, in der Gewalt und Gegengewalt sich bald nicht mehr unterscheiden – es diente der Sicherung des sozialen Friedens.

Meier führt eine ganze Reihe von Beschlüssen aus der Antike an, die alle das Vergessen von schlimmen Taten forderten. Allenfalls die Hauptschuldigen sollen bestraft werden, für den Rest galt „Amnestia“, was wörtlich „Nicht-Erinnerung“ bedeutet. Die Friedensverträge enthielten Bestimmungen, die versuchen, einen Schlusspunkt gegen die Zyklen von Gewalt zu setzen. Sie enthielten Bestimmungen zum Vergessen und Vergeben, damit die ehemals verfeindeten Gruppen einen neuen Anfang machen können, friedfertig miteinander zu leben.

Doch auch für Christian Meier sind die NS-Zeit und vor allem der Völkermord an den Juden ein einschneidendes Ereignis, das nicht vergessen werden kann.

Für die nationalsozialistischen Massenmorde gilt ganz besonders, dass dieses zur Herstellung des sozialen Friedens angeordnete Vergessen mit den „unabweisbaren“ Erinnerungen an die Verbrechen konfligiert: Die Erinnerungen an die erlittene Gewalt sind insbesondere für die Opfer „unabweisbar“.

Opfern wie auch Tätern ist zumeist gerade in den ersten Jahrzehnten nach den Gewaltereignissen gemeinsam, dass diese Erinnerungen zur Seite geschoben werden. Die zu Opfern gewordenen Menschen müssen ihr Leben neu aufbauen, sie wollen Familien gründen und haben zumeist gar keine Gelegenheit, sich diesen Erinnerungen hinzugeben. Und doch haben diese Erinnerungen eine ganz eigene Dynamik. Saul Friedländer, der große Historiker des Holocaust, war von seinen Eltern in einem katholischen Internat in Sicherheit gebracht worden. Die Eltern wurden deportiert und später ermordet und der junge Pavel, wie er damals hieß, konvertierte zum Katholizismus. Nach dem Krieg besann er sich wieder seiner jüdischen Identität. 1979 schrieb er über seine Geschichte und die Geschichte seiner Familie und gab dem Buch den Titel „Wenn die Erinnerung kommt“. Dem Buch stellt er ein Zitat voran: „Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe …“

Es lohnt, diese notwendige Verbindung von Wissen und Erinnerung festzuhalten und daran anknüpfend die Frage zu stellen, was denn ein Gedenken wert ist, wenn es nicht gleichzeitig ein Ringen um Wissen, um Erkenntnis ist?

Um wieder auf die unabweisbaren Erinnerungen zurückzukommen: Die ehemaligen Nationalsozialisten und insbesondere die Täter hatten jeden Grund, ihre Integration in die Nachkriegsgesellschaft nicht durch diese Erinnerungen zu gefährden bzw. sie nur mit Gleichgesinnten zu teilen.

Es dauerte recht lange, bis die Erinnerungen der zu Opfern gemachten Menschen öffentlich vernehmbar wurden und bis die Taten ins öffentliche Bewusstsein gelangten.

Die Erfahrungen und Erzählungen der Verfolgten sind deshalb besonders wichtig, weil sie einer abwehrenden Gesellschaft erzählen, was Menschen widerfuhr, wie sich die große Politik und wie sich diese massenhafte Gewalt ganz konkret im Leben von Menschen auswirkten, und was es heißt, mit den Ausgrenzungs- und Verfolgungserfahrungen weiterzuleben.

Es ist wichtig, diesen Erfahrungen Raum zu geben und den Menschen zuzuhören, die bereit sind, darüber zu sprechen, weil damit das Leid anerkannt wird. Durch den Akt des Zuhörens und der Anteilnahme wird den vormals Ausgeschlossenen ein besonderer Platz in der Gesellschaft eingeräumt.

Doch gibt es schon lange Zweifel daran, ob diese Zeitzeugenberichte einen Beitrag dazu leisten können, dass sich Auschwitz nicht wiederholt.

Raul Hilberg, der große Chronist des Holocaust, dessen Werk lange überhaupt ignoriert und noch viel länger nicht ins Deutsche übersetzt worden war, formulierte das einmal so: Man müsse zunächst die Verfolger analysieren, „… weil nur der Täter, nicht das Opfer wusste, was am nächsten Tag geschehen würde. Die Täter waren ausschlaggebend. Man kann nicht mit der Reaktion anfangen.“

In dieser Einschätzung trifft er sich mit dem deutschen Philosophen Theodor W. Adorno, der schon 1966 betonte, wir könnten von den Erfahrungen der Opfer gar nichts lernen, wenn es uns darum gehe, zu verhindern, dass sich „Auschwitz“ wiederholt.

Vielmehr müssten wir uns mit den Tätern und dem gesellschaftspolitischen System beschäftigen, das diese Taten hervorbrachte.

In anderen Worten, es bedarf der geschichtswissenschaftlichen, soziologischen, psychologischen und anderer Forschung, die zu erklären versucht, was jenen Menschen widerfuhr, die zu Opfern gemacht wurden.

Wer war am Völkermord der Nationalsozialisten beteiligt?

Das beginnt bei den Schreibkräften, die Listen der zu Deportierenden schrieben, und reicht hinauf bis zu Hitler, Himmler und dem nationalsozialistischen Führungspersonal. Vom Lokführer der Deportationszüge bis zu Polizeieinheiten an den Erschießungsgräben. Die Leute, die sich um Hausrat balgten, Wohnungen nahmen, Posten besetzten. Die Gendarmen, Volkssturmleute und Hitlerjungen, welche die Todesmärsche hier in Gleisdorf begleiteten und so viele Menschen dabei ermordeten.

Völkermord ist eben ein gesellschaftlicher Vorgang, der die Involvierung von vielen bedingt. Und: Es gibt beim Völkermord keine „Zuschauer“. Denn die Menschen, die zusahen und nichts dagegen taten, rechtfertigten und unterstützten die Täter. Es machte einen entscheidenden Unterschied, ob jemand hungernden Menschen ein Stück Brot zuzustecken versucht, oder ob jemand das verhindert, indem er den schlägt, der zu helfen versucht.

Nach 1945 – um nochmals bei Christian Meier anzuschließen – wurde zunächst versucht, gesellschaftlichen Frieden zu stiften, indem die Nazis integriert wurden und die Verbrechen bzw. die Beteiligung so vieler an diesen Verbrechen nicht zur Kenntnis genommen wurde. Das geschah auf Kosten der zu Opfern gemachten Menschen, die zumeist nicht jene anteilnehmende Zuwendung erfuhren, derer sie so dringend bedurft hätten.

Mit großem zeitlichem Abstand begann die intensivere Auseinandersetzung mit der Zeit der nationalsozialistischen Massengewalt – in der Geschichtsschreibung, in den Medien, aber auch in der juristischen Aufarbeitung. Der vermeintliche Gegensatz zwischen einem angeordneten Vergessen zur Sicherung des sozialen Friedens und der unabweislichen Erinnerung an den Holocaust kann vielleicht durch einen gesellschaftlichen Bearbeitungsprozess aufgehoben werden, in welchem sowohl die emotionale Dimension der Trauer über die Verluste und die Gewalt wie auch die kognitive Bearbeitung der historischen Kausalitäten Raum haben.

Lassen Sie mich nochmals den Bogen zeigen, den ich zu schlagen versuchte.

Die Erinnerung an den Genozid an den Armeniern hat den Holocaust nicht verhindert. Das Gedenken an den Holocaust hat den Völkermord in Ruanda 1994 sowie die Massengewalt in Indonesien (1965–1968) und in Kambodscha (1975–1979) genauso wenig verhindert wie den Massenmord an muslimischen Männern in Srebrenica (Bosnien und Herzegowina, 1995). Die in Srebrenica versagenden holländischen Soldaten hatten in ihrer Erziehung ganz sicher über die Nazi-Gräuel gelernt. Aber dieses Gelernte half ihnen nichts, als sie sich entschieden, die bosnisch-muslimischen Männer den serbischen Truppen auszuliefern.

 

Die Entscheidungsträger in Europa, die ihre Truppen aus Ruanda abzogen, um die der kanadische General Dallaire händeringend bat, weil er wusste, mit relativ wenig mehr militärischer Macht könnte er den Mördertrupps in Ruanda Einhalt gebieten – diese Entscheidungsträger wussten wahrscheinlich über „Auschwitz“ Bescheid und manch einer mag auch schon in Gedenkreden „niemals wieder“ gesagt haben. Als es drauf ankam, versagten sie.

Die zentrale Frage ist eine recht einfache Frage: Was hat das mit mir zu tun?

Diese einfache Frage ist aber ungemein schwer zu beantworten. Manche halten es nicht aus, dass die Antwort jeweils so schwer zu finden ist. Sie entladen die so entstehenden Spannungen, indem sie fordern, militärisch zuzuschlagen, ohne zu bedenken, wie es danach weitergehen soll.

Andere weichen dieser Frage aus, indem sie sich gar nicht damit beschäftigen oder sie investieren ihre Emotionen und Energien in Gedenken, ohne dass aus diesem Gedenken ein Gedanke für die Gegenwart erwächst.

Doch es gibt sinnvolle Antworten auf die Frage, was diese Geschichten und diese Geschichte mit uns zu tun hat.

Eine dieser möglichen Antworten ließ der aus einer jüdischen Familie stammende Jurist Fritz Bauer in den 1950er-Jahren am Eingang des damaligen Neubaus der Staatsanwaltschaft Braunschweig groß anschreiben:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Wie Sie vielleicht wissen, ist das etwas verkürzt der erste Absatz des ersten Artikels der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes.

Fritz Bauer war als Sozialdemokrat 1933 von den Nazis inhaftiert worden, bevor er fliehen konnte. Nach der Befreiung kam er ans Landesgericht Braunschweig. Bekannt wurde Bauer als hessischer Generalstaatsanwalt in Frankfurt, wo er den Auschwitz-Prozess (1963–1965) gegen 24 Männer vorbereitete, die beschuldigt wurden, im Konzentrationslager Auschwitz Menschen getötet zu haben.

Die Wahrung der Menschenwürde ist ganz sicher eine wichtige Lehre aus den erinnerten schlimmen Zeiten. Gilt sie noch heute? Haben wir noch andere Antworten auf die Frage: „Was hat das mit mir zu tun?“

Literaturverzeichnis

Friedländer, Saul: Wenn die Erinnerung kommt (München 1979).

Ihrig, Stefan: Justifying Genocide. Germany and the Armenians from Bismarck to Hitler (Cambridge, Mass. 2016).

Kieser, Hans Lukas / Dominik Schaller (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah (Zürich 2002).

LaCapra, Dominique: Writing History, Writing Trauma (Baltimore, London 2001).

Meier, Christian: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit (München 2010).

Werfel, Franz: Die vierzig Tage des Musa Dagh (Berlin 1933).

Good Man in Hell: General Romeo Dallaire and the Rwanda Genocide (Video-Interview United States Holocaust Memorial Museum 2003).

„Ich fälle kein Urteil“. Interview mit Raul Hilberg, in: taz, 7.12.2002.

Anmerkung

1 Gedenkrede in Gleisdorf (Steiermark) anlässlich des Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, 5. Mai 2015. Die Rede wurde für die Publikation leicht überarbeitet.

Peter Gautschi
Holocaust und Historische Bildung – Wieso und wie der nationalsozialistische Völkermord im Geschichtsunterricht thematisiert werden soll

Dass die Thematisierung des Holocaust in der Schule zum Pflichtprogramm gehört, ist mittlerweile unbestritten. Dies ist im deutschsprachigen Raum auch ein Verdienst von _erinnern.at_. Praxistaugliche Unterrichtsvorschläge, theoretische Erwägungen sowie ein Engagement in Lehrplanung und Schulpolitik haben dazu geführt, dass viele Schülerinnen und Schüler in der obligatorischen Schule in der einen oder anderen Weise dem nationalsozialistischen Völkermord begegnen und dabei neues Wissen erwerben, Können aufbauen und Einstellungen entwickeln. Während also ein großer Konsens besteht, dass das Lehren und Lernen über den Holocaust zum schulischen Alltag auf den Sekundarstufen gehört, ist weniger klar, mit welchen Zielen und wie der Holocaust im Geschichtsunterricht thematisiert werden soll. Ein Blick in die Unterrichtspraxis, in die Literatur und auch auf die Website von _erinnern.at_ zeigt eine große Vielfalt.

Im vorliegenden Beitrag wird dafür plädiert, den Jugendlichen mit dem Lehren und Lernen über den Holocaust historische Bildung anzubieten. Was damit genau gemeint ist, wird im ersten Kapitel gezeigt. Im zweiten Kapitel werden die postulierten Ansprüche anhand der Web-App „Fliehen vor dem Holocaust“, die von _erinnern.at_ mitentwickelt wurde, überprüft. Im dritten Kapitel schließlich werden einige Empfehlungen formuliert, welchen Inszenierungsmöglichkeiten in Zukunft größere Aufmerksamkeit als bisher geschenkt werden könnte.1

Historische Bildung als orientierender Kompass im schulischen Umgang mit dem Thema Holocaust

„Weshalb soll über den Holocaust unterrichtet werden?“ (IHRA, 2019, S. 12). Auf diese Frage gibt es eine Vielzahl von Antworten (vgl. z. B. Brüning, 2018; Eckmann, 2017; Fracapane, 2014). Die IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) formuliert dazu in ihren Empfehlungen für das Lehren und Lernen über den Holocaust, dass der schulische Umgang mit dem Holocaust eine wichtige Möglichkeit bietet, „kritisches Denken, gesellschaftliches Bewusstsein und die Entwicklung der Persönlichkeit zu fördern“ (IHRA, 2019, S. 13). Geschichtsvermittlung scheint in diesem Zusammenhang in erster Linie für die Wissensvermittlung zuständig: „Lehrende in Institutionen (wie z. B. in Schulen) und informellen Umfeldern (wie z. B. in Museen und vergleichbaren Einrichtungen) können Lernende durch interdisziplinäre Zugänge, die auf gesichertem historischen Wissen basieren, motivieren.“ (IHRA, 2019, S. 13).

Zweifellos sind aus theoretischer Sicht interdisziplinäre Zugänge zum Thema Holocaust und fächerverbindende Vorgehensweisen angemessen, aber für die schulpraktische Vermittlung ergibt sich dadurch ein gravierendes Problem: Weil Schule heute nach wie vor und aus gutem Grunde nach Fächern gegliedert und mit dem Stundenplan rhythmisiert ist (Künzli, 2012; Schneuwly, 2018), haben es interdisziplinäre Vermittlungsanliegen schwer, ihren Platz im Schulalltag zu finden. Entweder fallen sie weg, oder sie finden einen Ort in einem disziplinär orientierten Lehrplan, was beim Thema Holocaust mit dem Fach Geschichte der Fall ist.

So entstanden in den letzten Jahren viele Vorschläge zum Lehren und Lernen über den Holocaust im Fach Geschichte. Dort, wo die Ziele für diese Vermittlung explizit ausgewiesen wurden, gingen sie weit über Wissensvermittlung hinaus und legten dar, welchen Beitrag die schulische Thematisierung des Holocaust zur Kompetenzentwicklung leistet. Da sich die Kompetenzmodelle von Land zu Land unterscheiden, unterscheiden sich auch die Argumentationen für dieselben Unterrichtsvorschläge von Land zu Land (Gautschi, 2017; Gautschi, 2015; Barricelli, 2012).2 Kompetenzen sind, laut der oft zitierten Definition von Franz E. Weinert, „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert, 2002).

Wer nun aber als Lehrerin oder Lehrer im Geschichtsunterricht Überlebende des Holocaust in die Schulklasse einlädt, mit den Schülerinnen und Schülern in eine KZ-Gedenkstätte fährt, videografierte Zeitzeuginnen oder Zeitzeugen zu Wort kommen lässt oder Quellen und Darstellungen zu den Verbrechen analysiert, will den Lernenden weder in erster Linie Wissen vermitteln, noch will er sie prioritär befähigen, ein Problem zu lösen. Hier stehen oft andere Anliegen im Zentrum, z. B. „die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt“, wie das Wilhelm von Humboldt schon 1793 formulierte, als er „Bildung“ beschrieb (Humboldt, 1903, S. 283). Im Geschichtsunterricht im Allgemeinen und bei der Thematisierung des Holocaust im Besonderen geht es nicht um bloße Anpassung des Einzelnen an eine ihm vorgegebene Welt und deshalb nicht ausschließlich um das Lösen von bestimmten Problemen in dieser Welt. Vielmehr geht es um eine vielfältige Auseinandersetzung, „bei der der Einzelne seine je eigene Form des Menschseins in dieser Welt entwickeln kann – sich also selbst bildet“ (Sander, 2014, S. 11; Sander, 2018). Bildung – so lässt sich kurz und populär zusammenfassen – spiegelt einen reflektierten Umgang mit sich selber, mit anderen und mit der Welt (Wikipedia, 2020).

Jetzt hat sich die Geschichtsdidaktik in den letzten Jahren kaum mehr explizit mit historischer Bildung im Humboldt’schen Sinne beschäftigt. Die einschlägigen Werke sind an einer Hand abzuzählen (Henke-Bockschatz, 2005; Mayer, 2005; Dressler, 2012; Mütter, 1995; Buschkühle, 2009), und nicht einmal im Wörterbuch Geschichtsdidaktik kommt „historische Bildung“ vor. Bildung bezeichnet sowohl eine Entwicklung (Bildungsprozess) als auch einen Zustand (gebildet sein) (Sander, 2018). Historisch gebildet sind Menschen mit ausdifferenzierten personalen und sozialen Identitäten, die offen und neugierig dem Universum des Historischen begegnen, die über gut entwickelte Kompetenzen im Umgang mit Vergangenheit, Geschichte und Erinnerung verfügen und die darauf aufbauend die eigenen Handlungsspielräume in Gegenwart und Zukunft sehen und nutzen sowie die Chancen historischer Bildung erkennen und sich weiterhin bilden wollen (Gautschi, 2019b).

Wenn im Folgenden diese Definition entlang der drei Dimensionen Umgang mit Geschichte, Umgang mit sich selber und Umgang mit Gesellschaft ausdifferenziert wird, dann zielt dies auf eine Konkretisierung und Sichtbarmachung fachspezifischer Prinzipien und Konzepte. Es versteht sich von selber, dass historische Bildung – wie Bildung generell – ein lebenslanger Prozess ist und also nicht mit einer Inszenierung erreicht werden kann. Beschrieben wird ein Ideal und nicht etwa Lernziele für eine Unterrichtssequenz oder gar für eine konkrete Schulgeschichtsstunde. Es ist darüber hinaus klar, dass Bildung in den genannten drei Dimensionen auch von anderen Disziplinen angeboten wird. Aber historisches Denken, das als mentale Bewegung verstanden werden kann, die aus der Gegenwart ins Universum des Historischen und wieder zurück in die Gegenwart führt und auf diese Weise Sinn bildet, die das Handeln in Gegenwart und Zukunft beeinflussen kann, hat in allen drei Dimensionen besonderes Potential, das es zu erkennen und zu nutzen gilt. Um dies deutlich zu machen, sind in der folgenden Aufzählung exemplarische, themenspezifische Fragen aufgeführt.

Historisch gebildete Menschen können gut mit Geschichte umgehen. Sie …

(1.) … haben sich gesellschaftlich relevante Basisnarrative angeeignet (Gautschi 2012, S. 332–334) und kennen einschlägige Begriffe und Konzepte. Wenn sie die Phrase „Arbeit macht frei“ lesen, kommt ihnen das Eingangstor von Konzentrationslagern, z. B. zum KZ Auschwitz in den Sinn, und sie erkennen in diesem Ausspruch die zynische Verschleierung der menschenverachtenden Behandlung in den Konzentrationslagern während des Holocaust.

(2.) … erzählen und analysieren Geschichten (Narrativität/Konstruktivität) (Pandel, 2013, S. 86–105). Dabei verknüpfen sie sich erzählend mit der Welt (Humboldt, 1903) und zeigen, wie sie selber „in Geschichten verstrickt“ (Schapp, 2012) sind. Sie fragen beispielsweise: Was geht mich der Holocaust an? (Yad Vashem, 2012)

(3.) … nehmen das Vorher und Nachher (Temporalität), Kontinuität und Wandel (Historizität) (Pandel, 2005, S. 10–15) sowie Ursachen und Folgen von Prozessen, in diesem Fall des nationalsozialistischen Völkermords, in den Blick: Woran haben die Mitlebenden erkennen können, dass die Nationalsozialistische Partei die Jüdinnen und Juden systematisch vernichten wollte? Was geschah mit den Täterinnen und Tätern nach dem Zweiten Weltkrieg?

(4.) … unterscheiden Faktizität und Fiktionalität: Was genau ist von den Geschehnissen in einem ausgewählten Spielfilm zum Holocaust faktisch überliefert, was erfunden? (Moller, 2018; Fink, 2018)

 

(5.) … setzen Multiperspektivität und Kontroversität um (Lücke, 2017): Wie argumentierten jene Schweizerinnen und Schweizer, welche die Aufnahme von Flüchtlingen im Zweiten Weltkrieg ablehnten, und wie jene, welche sie befürworteten?

(6.) … streben nach Objektivität (Rüsen, 1997; Pandel, 2017) und sind sich bewusst, dass sie nie das Ganze sehen, aber reflektieren, inwiefern sich im Konkreten das Allgemeine zeigt (Exemplarität).

Historisch gebildete Menschen können gut mit sich selbst umgehen. Sie …

(7.) … haben eine ausdifferenzierte Identität und sind offen für Alterität (Identitätsbewusstsein) (Rüsen, 2020; Rüsen, 2013, S. 267–271; Bergmann, 1997): Was hätten wir Schweizerinnen und Schweizer im Zweiten Weltkrieg anders machen können oder müssen? Sie kennen darüber hinaus handelnde und leidende Menschen aus der Vergangenheit und können deren Handlungsspielräume einschätzen (Personalisierung/Personifizierung) (Schneider, 2017): Welche Schweizerinnen und Schweizer wurden als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet, und was war die Motivation für ihr Handeln? (Wisard, 2007)

(8.) … können in die Geschichte eintauchen (Immersion) und auch eine reflektierende Distanz einnehmen (Reflexionsfähigkeit) (Knoch, 2020): Wie gelingt es mir nachzuvollziehen, was die Menschen damals auf der Flucht erlebten? Welche Quellen helfen mir dabei?

(9.) … können mit Menschen mitfühlen (Emotion) und Prozesse analysieren (Kognition) (Brauer, 2013): Kann ich gleichzeitig mit den Opfern mitfühlen und ihr Schicksal reflektiert analysieren?

(10.) … denken kritisch, nehmen also Sachen nicht einfach so hin, wie sie scheinen, sondern fragen sich, ob die Sachen wirklich so sind, wie sie scheinen (Fink, 2017): War es wirklich so, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs nicht mehr Flüchtlinge hätte aufnehmen können, als sie es tat? (Bonhage, 2006, S. 106–115)

(11.) … orientieren ihr Sein und Handeln an Werten (Moralisches Bewusstsein) (Pandel, 2005, S. 20): Welche Möglichkeiten gibt es, dass sich Auschwitz nicht wiederholt?

Historisch gebildete Menschen können gut mit Gesellschaft umgehen. Sie …

(12.) … sind in der Lage, ihr Sein und Handeln an der Gegenwart und der Lebenswelt zu orientieren und sich gleichzeitig auch davon zu lösen (Buck, 2012; Gatzka, 2019): Drohen auch heute in unserer Welt Völkermorde, und was kann ich dazu beitragen, sie, wenn immer möglich, zu verhindern?

(13.) … kennen und thematisieren ausgewählte Episoden aus der Vergangenheit, um daran Schlüsselprobleme der gegenwärtigen Gesellschaft zu zeigen (Klafki, 1985): Gibt es einen gerechten Krieg?

(14.) … haben die gesellschaftlichen Grundbedürfnisse (Ernährung, Wasser/Luft, Kleidung, Wohnen, Zusammenleben, Bildung, Arbeit/Erholung, Kommunikation u. a. m.) im Blick und stellen sich die Frage, welche Faktoren in dieser und jener Zeit die Befriedigung der Bedürfnisse erleichtert und welche sie erschwert haben (Gautschi, 2019a, S. 50): Welche Auswirkungen hatten die Nürnberger Rassengesetze auf das Alltagsleben von Jüdinnen und Juden in Deutschland ab dem Jahr 1935?

(15.) … thematisieren Inklusion und Exklusion (Völkel, 2017): Was waren die ersten Anzeichen für die Exklusion von Jüdinnen und Juden, und welche Möglichkeiten hätte es gegeben, dies zu verhindern?


Historische Bildung, Entwicklung und Zustand von Menschen in drei Dimensionen: im Umgang mit Geschichte, mit Gesellschaft und mit sich selbst. 3

Lehren und Lernen über den Holocaust dient also der Verpflichtung, Jugendlichen historische Bildung anzubieten und sie zu befähigen, gut mit Geschichte, mit Gesellschaft und mit sich selber umzugehen. Bei der Thematisierung von Holocaust scheinen auf exemplarische Art und Weise viele Grundfragen des menschlichen Handelns auf, die mit Grundfragen historischer Bildung zusammenhängen.

Natürlich ist es weder möglich noch erstrebenswert, mit jeder schulischen Thematisierung des Holocaust alle Aspekte historischer Bildung zu vermitteln oder alle Grundfragen menschlichen Handelns zu stellen. Die oben genannten Aspekte und Fragen dienen jedoch als orientierender Kompass für die Entwicklung von Inszenierungen, wie im Folgenden am Beispiel der App „Fliehen vor dem Holocaust“ aufgezeigt werden soll (vgl. dazu Gautschi, 2018).