Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung

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– Die Konfrontation mit Jugendlichen, die mit „problematischen“ Äußerungen zu Nationalsozialismus und Holocaust verunsichern und irritieren.

Die Lehrpersonen, die an Fortbildungsveranstaltungen von _erinnern.at_ teilnehmen, ob an den Pädagogischen Hochschulen in den Bundesländern, am Zentralen Seminar oder aber auch an den Lehrgängen, die sie an Erinnerungsorte nach Israel führen, eint die Überzeugung von der Wichtigkeit des Themas. Entsprechend ihrer oben beschriebenen Erfahrungen formulieren Lehrerinnen und Lehrer ihre Anliegen und Erwartungen. Die meisten sind auf der Suche nach geeigneten Zugängen zum Thema, sie wünschen sich Anregungen, wie sie in ihren zunehmend heterogenen Klassen das Thema behandeln, wie sie die Distanz zum Thema überwinden können, wie sie auf provozierende oder aber auch ideologisch motivierte Äußerungen ihrer Schülerinnen und Schüler angemessen und wirkungsvoll reagieren, wie sie die Jugendlichen auf Gedenkstättenbesuche vorbereiten und diese mit ihnen gut nachbereiten können. Auf den Seminarreisen nach Israel geht es vielen auch darum, „die andere“, also die Opferperspektive kennenzulernen und so die eigene Perspektive zu erweitern.

Lernerfahrungen in Israel

Die Erinnerungsorte in Israel beeindrucken die Lehrenden auf unterschiedlichste Weise. In Yad Vashem sind es Dimension, Ästhetik und natürlich auch der konsequente Blick auf die verfolgten und ermordeten Menschen, auf die Zerstörung der jüdischen Kultur in Europa. Anders als bei uns werden die Verbrechen nicht relativiert, es gibt keine Rechtfertigungen wie die wirtschaftliche Not der Menschen oder das Nichtwissen-Können. Im Kinderdenkmal werden in einer Endlosschleife die Namen der ermordeten Kinder und ihr Alter genannt, während man vielen von ihnen auf Fotos in die kindlichen Augen schaut. Die emotionale Wirkung ist enorm. Der Besuch im Tal der Gemeinden zeigt die Wucht der Zerstörung auf einer ganz anderen Ebene. So viele Orte in Europa hatten eine mehr oder weniger große jüdische Gemeinde, viele Lehrerinnen und Lehrer entdecken dort in Jerusalemer Stein gehauen ihre Heimatorte und wissen: Nichts oder kaum etwas ist davon ist geblieben. Die Anzahl der österreichischen Gerechten unter den Völkern macht sich im europäischen Vergleich bescheiden aus. Und der Gang durch das Museum, das die Geschichte des Holocaust in Form einer unausweichlichen Einbahn erzählt, nimmt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit – im doppelten Sinne. Der Gang durch die Ausstellungsbereiche als eine Art Selbsterfahrung. Alles fängt an mit dem auf Videos festgehaltenen Treiben jüdischen Lebens in Osteuropa, führt zu den verächtlichen Auswüchsen antisemitischer Propaganda, es zeigt das assimilierte jüdische Leben und zeichnet die verschiedenen Phasen des Genozids nach. Am Ende die Halle der Namen und zuletzt der Blick auf die Hügel Jerusalems. Dieses Ende der Ausstellung ist natürlich auch ein politisches Statement.

Es ist die Perspektive der Verfolgten, die hier erzählt wird. Aber die Vertriebenen und die Ermordeten begegnen den Besucherinnen und Besuchern nicht als Opfer, zu denen sie von den Nationalsozialistinnen und -sozialisten gemacht wurden, sondern als Menschen mit ihrer Geschichte, mit einem Namen, mit einem Gesicht. Durch fundierte Vorträge wird das historische Wissen über den zutiefst verwurzelten Antisemitismus, über Ideologie und Strategien des Nationalsozialismus, über die schrittweise Entwicklung von Diskriminierung hin zum industriellen Massenmord substanziell erweitert. Das Vorgehen von SS und Wehrmacht im Osten, der Umgang mit den Opfern nach Ende des Krieges und die weitgehende Schonung der Täterinnen und Täter – all das wird den Lehrpersonen zugemutet. Und viele reagieren sehr bewegt. Vieles, das mehr oder weniger bekannt war, fühlt sich aus dieser Perspektive ganz anders an. In Österreich lernt man die Zahlen der Vernichteten, weiß um die Vertriebenen, hat mit einzelnen Zeitzeuginnen und -zeugen gesprochen, Filme gesehen, Einzelschicksale kennengelernt. Aber diese unausweichliche gemeinsame Erfahrung, die die europäischen Jüdinnen und Juden machten, die systematische Zerstörung einer zur Rasse gemachten, überaus heterogenen und zahlenmäßig unfassbar großen Anzahl von Menschen und das daraus resultierende kulturelle Gedächtnis von Jüdinnen und Juden, das wird vielen Lehrpersonen erst beim Besuch dieser Erinnerungsorte bewusst. Es wird die Geschichte des gesellschaftlich tief verankerten Antisemitismus, der Zustimmung, der Begeisterung erzählt, die Vernichtung wird offengelegt, indem vor allem auch diejenigen Menschen ein Gesicht und eine Geschichte bekommen, die nicht überlebt haben. Und es sind unzählige. Die Erklärungsansätze, die aus der durchaus vorhandenen wirtschaftlichen Not und den politischen Konflikten der Zwischenkriegszeit unser Geschichtsbild prägen, gibt es dort nicht.

In Lochamej haGeta’ot machen die Teilnehmenden andere zentrale Lernerfahrungen. Sie gehen durch das Ghetto Fighters Museum. Und auch dort hören und sehen sie gesammelte Geschichten von Ermordeten und Überlebenden, sie halten Ego-Dokumente aus dem Archiv in den Händen und lesen aus diesen Originalen, in denen die Gedanken und Gefühle in den Momenten der Angst und des Schreckens, des Verlustes, des Abschieds, der Sehnsucht und der Sorge zur Sprache kommen, von Menschen aus den unterschiedlichsten österreichischen Orten. Die Archivarin hat sie extra für die Gruppe herausgesucht. Beim Lesen wird es still im Raum.

Dass man in Israel schon mit sehr jungen Kindern über den Holocaust spricht, haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereits in Yad Vashem erfahren. Hier in Lohamej lernen sie eine Ausstellung kennen, die diesen Kindern den Holocaust erzählt. Die Ausstellung des Kindermuseums Yad LaYeled spaltet häufig: Manche sind zutiefst beeindruckt, finden die anschauliche und naturalistische Darstellung als Lernerfahrung überzeugend. Andere sind aber auch irritiert, dass man Kindern eine derartig schonungslose Darstellung zumutet. Israelis leben mit dieser Geschichte, israelische Kinder wachsen mit ihr auf. Immer wieder erzählt Noa Mkayton, wie stark die Wirkung des jährlich wiederkehrenden Holocaust-Gedenktags in Israel ist, an dem plötzlich alles stillsteht, die Sirenen aufheulen und ganz Israel erstarrt. Man müsse den Kindern möglichst früh erklären, worum es hier geht, und zwar mit einem wohldurchdachten pädagogischen Konzept und möglichst professionell. Die Kinder sich selbst zu überlassen und damit Gefahr zu laufen, dass sie die omnipräsenten Geschichten ungeschützt und unbegleitet aufschnappen, sei fahrlässig.

Und dann die Begegnung mit den Überlebenden! Mit Zeitzeuginnen und -zeugen, auch mit „Alt-Österreicherinnen und Alt-Österreichern“, wie sie genannt werden: Menschen, die im hohen Alter jenseits der 90 in ihrer Muttersprache Deutsch ihre österreichische Vertreibungs- und israelische Überlebensgeschichte erzählen.

Die Seminartage in Yad Vashem fordern die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr, wirken emotional auf sie ein, indem ihnen die Geschichte von Vernichtung und Massenmord auf verschiedenen Ebenen vermittelt wird. Die musealen Darstellungen, die historischen Verträge, die Workshops und die Begegnung mit den Überlebenden sind geradezu überwältigend.

Das Center for Humanistic Education in Lochamej haGeta’ot arbeitet mit einem anderen, einem universalistischen Ansatz, den die Lehrenden dort kennenlernen. Man bezieht die Lernenden persönlich ein, lädt sie ein und ermutigt sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen:

„Ein jüdisches Mädchen erzählte hier von ihrer Großmutter, die als einzige Überlebende 1946 nach Palästina einwanderte und in einen Kibbuz eintrat. Dieser Kibbuz wurde während des Unabhängigkeitskrieges von Arabern angegriffen. Einige Freunde der Großmutter hätten bei diesem Angriff ihr Leben verloren. Direkt im Anschluss erzählt ein arabischer Junge vom Dorf seiner Großeltern, welches während der Nakba von der israelischen Armee zerstört worden sei. Einen alten rostigen Schlüssel hätte er von seinem Großvater als Andenken erhalten, um das Haus, das sie damals bewohnt hätten, niemals zu vergessen.“ (Kashi, 2008, S. 80f.)

Raya Kalisman, Gründerin des Center for Humanistic Education, sagt, dass

„die Beschäftigung mit dem Holocaust deutlich machen [kann], wie wichtig die Bewahrung und der Schutz pluralistischer und demokratischer Werte sind. Infolgedessen müsse sinnvolle Holocaust-Education jedoch auch bedeuten, die Augen für das gegenwärtige Leid der Menschen zu öffnen und sich mit diesem auseinanderzusetzen.[…] Im Gegensatz zum üblichen israelischen Vermittlungsansatz, der auf die Stärkung israelischer und jüdischer Identität ausgelegt sei, könne ein universalistischer Blick auf die Geschichte somit sogar der Ausgangspunkt eines gemeinsamen Dialogs zwischen Juden und Arabern sein und helfen, eine Brücke zwischen jüdischen und palästinensischen Israelis zu bauen.“ (Kashi, 2008, S. 77).

Hier sehen viele österreichische Lehrpersonen einen pädagogisch-didaktischen Schatz für ihre Arbeit. So können sie auf ihre heterogenen Klassen schauen, so können sie das Thema angehen: Empathisch und analytisch zugleich, aus einer historischen Perspektive, gleichzeitig mit einem spannenden Gegenwartsbezug.

Dass die Arbeit des Center for Humanistic Education im gegenwärtigen Israel eine Außenseiterposition darstellt, ist für die Teilnehmenden irritierend, erleben sie diese doch als zukunftsweisend in einem von Kriegs- und Terrorerfahrungen geprägten Land. Diese Irritation sowie das große Staunen über die Bruchlinien im Land Israel, die gefühlte und von vielen als solche formulierte Ausweglosigkeit im seit Jahrzehnten andauernden Nah-Ost-Konflikt – all das nehmen die Lehrerinnen und Lehrer auf der Seminarreise nur am Rande, aber doch wahr, und sie nehmen diese Eindrücke mit nach Hause. Die Interventionen des Begleitteams vor Ort und einzelne Vorträge vor, während und nach der Seminarreise bieten Hilfestellungen an, vieles allerdings bleibt als großes Fragezeichen hängen.

 

Resümee

Die österreichischen Lehrpersonen lernen im Rahmen der Seminare in Israel mehrere israelisch-jüdische Narrative kennen. Das bereichert, motiviert, befremdet, verunsichert und es muss zwangsläufig auch überfordern. So vieles muss neu gedacht, anders gewichtet und auch verändert erzählt, manches auch kritisch beäugt werden. Auf einige ihrer Fragen erhalten die Lehrpersonen in Israel Antworten, sie erhalten inhaltliche und didaktische Anregungen, die viele in ihren Unterricht integrieren. Davon zeugen die Unterrichtsbeispiele und Projektideen, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entwickeln. Ob und wieweit es ihnen aber nachhaltig gelingt, ihre Erkenntnisse und Erfahrungen in ihren Unterricht zu integrieren und die Begegnung mit dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust perspektivisch anders anzulegen, das bleibt oftmals verborgen. Das Aufbrechen von gewohnten Erzähl- und Denkmustern zeigt aber gewiss nachhaltige Wirkung.

Ich bin davon überzeugt, dass in einer wirksamen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit alle drei eingangs geschilderten persönlichen Erfahrungen miteinander verbunden werden müssen. Wenn bei Gedenkfeiern, oft in Anwesenheit der letzten Überlebenden, bei Gedenkstättenbesuchen oder Gesprächen mit Zeitzeuginnen und -zeugen Emotionen geweckt werden, hat das sehr viel mit uns selbst zu tun, mit der Bereitschaft, sich einzulassen, mit der gegenwärtigen politischen Situation und der aktuellen gesellschaftlichen Verfasstheit, natürlich auch mit der Betroffenheit, die wir selbst im Zusammenhang mit dem Thema haben oder spüren. Empathie, Betroffenheit oder Emotion kann man nicht didaktisch verordnen – und man soll es auch nicht anstreben. Wenn Schülerinnen und Schüler Einzelschicksale kennenlernen, sind sie ohnehin in den meisten Fällen berührt. Wichtig ist ein inhaltlich orientierter, analytischer Zugang zu historischem Wissen, der systematische Blick auf Phänomene, die Gesellschaften an allen Orten und zu allen Zeiten bedrohen. So kann, wie Raya Kalisman sagt, „die Beschäftigung mit dem Holocaust […] zu einem Baustein der Peace Education [werden], anstatt als Projektionsfläche und Argumentationsmuster für Feindlichkeiten zwischen jüdischen und arabischen Israelis zu fungieren“ (Kashi, 2008, S. 77). Übertragen auf unsere Gesellschaft gilt es, Argumentationsmuster und Feindlichkeiten offenzulegen, die hierzulande nicht nur, aber auch mit dem Thema Holocaust bedient werden. Nur mit einem universalistischen Ansatz wird es gelingen, dem Unterricht über Nationalsozialismus und Holocaust einen Gegenwartsbezug und eine Zukunftsbedeutung zu geben.

Bei jeder Auseinandersetzung mit Geschichte ist immer wieder neu zu fragen: Mit welchem Ziel erzählen wir das, wozu soll die Beschäftigung damit dienen? Wenn in diesen Tagen in Israel und international über die umstrittene Neubesetzung der Leitungsfunktion in Yad Vashem mit einem Vertreter der äußersten Rechten diskutiert wird, so wird diese Frage ungemein brisant. Das Thema und die Inhalte sind in der Geschichtsvermittlung nur eine Seite der Medaille, die andere ist die Motivation, die dahintersteckt. Das gilt für die international bedeutendste Holocaust-Gedenkstätte genauso wie für jeden Geschichtsunterricht.

Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, in: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959–1969. Hrsg. von Gerd Kadelbach (Frankfurt/M. 1970) S. 92–109.

Alanam, Omar Khir: Sisi, Sex und Semmelknödel. Ein Araber ergründet die österreichische Seele (Wien 2020).

Alavi, Bettina: Herausforderung an eine „Erziehung nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft, in: Rathenow, Hanns-Fred / Birgit Wenzel u. a. (Hrsg.): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung (Schwalbach/Ts. 2013) S. 79–94.

Embacher, Helga / Margit Reiter: Gratwanderungen. Die Beziehungen zwischen Österreich und Israel im Schatten der Vergangenheit (Wien 1998).

Edtmaier, Bernadette: Welche Bedeutung hat der Holocaust für Jugendliche mit Migrationsgeschichte?, in: Embacher, Helga / Manfred Oberlechner u. a. (Hrsg.): Eine Spurensuche. KZ-Außenlager in Salzburg und Oberösterreich als Lernorte (Frankfurt/M. 2019) S. 157–175.

Erkurt, Melisa: Generation Haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben (Wien 2020).

Kashi, Uriel: Demokratiebildung in Israel. Geschichte und aktuelle Ansätze. Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (Berlin 2008), https://bit.ly/2Q52MHZ (23.11.2020).

Reiter, Margit: Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis (Innsbruck 2006).

Zeitungsartikel

Wiener Schüler unterschätzen Zahlen der Holocaust-Opfer massiv, in: Der Standard (Online-Ausgabe) vom 9. Mai 2020, https://www.derstandard.at/story/2000117388175/wiener-schueler-unterschaetzen-zahlen-der-holocaustopfer-massiv (24.11.2020).

Grobe Wissenslücken zum Holocaust. Edtstadler: Alle Schüler sollen Mauthausen besuchen, in: Kleine Zeitung (Online-Ausgabe) vom 2. Mai 2020, https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5621225/Grobe-Wissensluecken-zum-Holocaust_Edtstadler_Alle-Schueler (30.10.2019).

Antisemitismus in Schulen. „Schon wieder Holocaust?“ Rechtsradikale Schüler mobben jüdische Kinder, arabischstämmige loben Hitler. Was können Schulen gegen Antisemitismus tun? Zwei Lehrer berichten von ihren Erfahrungen. Interview von Elisabeth Kagermeier, in: ZEIT (Online-Ausgabe) vom 12. September 2018, https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-09/diskriminierung-antisemitismus-rechtsextremismus-juden-schulen-mobbing (23.11.2020).

Anmerkungen

1 Die Autorin bezieht sich auf sozialpsychologische Studien, die fünf verschiedene Muster des familiären Sprechens über Nationalsozialismus und Holocaust ergaben. Neben dem Tradierungstyp der Opferschaft gibt es den der Rechtfertigung, der Distanzierung, der Faszination und der Überwältigung.

2 Die „Holocaust Knowledge and Awareness Study“ wurde von der Claims Conference beauftragt. Befragt wurden 1.000 Österreicherinnen und Österreicher via Telefon- oder Online-Interview. Die Daten wurden von Schoen Consulting analysiert – www.claimscon.org/austria-study (7.4.2021).

3 So ergab beispielsweise eine Studie des Zentrums für Politische Bildung an der PH Wien aus dem Jahr 2020, durchgeführt im Auftrag der Arbeiterkammer, dass nur jeweils drei Prozent der Schülerinnen und Schüler an der AHS- und BHS bzw. sieben Prozent an der BMS sowie fünf Prozent an der PTS der Ansicht sind, dass im Unterricht zu viel über das Thema gesprochen werde. Eine Mehrheit der Jugendlichen an der BMHS und an der PTS wünscht sich sogar mehr zum Thema. Vgl.: Der Standard (Online-Ausgabe) vom 9. Mai 2020.

Peter Larndorfer
„Die Bedeutung der historischen Dimension“ – Historisch-Politische Bildung in der Berufsschule

Als ich im April 2012 nach meinem Diplomstudium Geschichte und einigen Jahren als Gedenkstätten-Vermittler begann, an einer Berufsschule zu unterrichten, hatte ich hehre Vorstellungen davon, wie ich mein historisches Verständnis und die damit verbundenen politischen Debatten dort vermitteln würde, wo scheinbar kaum über Geschichte, Gedenken und Erinnerung gesprochen wird. Viel vager und unkonkreter war mein Bild von der Zielgruppe meiner bevorstehenden Vermittlungsarbeit: Als Guide an der Gedenkstätte Mauthausen hatte ich recht selten mit Lehrlingen zu tun gehabt, die meisten Jugendlichen besuchten die Gedenkstätte in der 8. Schulstufe oder in einer der letzten Klassen einer höheren Schule. Lehrlingsgruppen waren eher eine Ausnahme, wenn auch eine sehr willkommene. Denn Lehrlinge waren älter als die oft noch etwas unreifen 14-jährigen Mittelschülerinnen und -schüler und weniger auf Außenwirkung, Erwartungen und Repräsentanz bedacht als die Jugendlichen aus Gymnasien. Die seltenen Diskussionen mit Lehrlingen an der Gedenkstätte waren meist angetrieben von impulsiven, wenig überlegten, manchmal auch scheinbar unpassenden Fragen, die zu viel spannenderen Auseinandersetzungen führten als die erwartbaren Fragen, die wohlmeinend im Geschichteunterricht vorbereitet worden waren. In meinen ersten Unterrichtstagen und Wochen wurde mir bewusst, warum diese Erfahrungen mit Lehrlingen in der Gedenkstätte die einzigen waren, auf die ich zurückgreifen konnte: Ich hatte seit meinem 15. Lebensjahr kaum noch Kontakt zu Personen, die eine Lehre begonnen hatten und in die Berufsschule gewechselt waren – und das, obwohl meine Eltern beide eine Lehre absolviert hatten. Ich wusste eigentlich kaum etwas über die soziale Gruppe, die mir im Klassenzimmer gegenübersaß.

Im folgenden Text möchte ich die Gruppe der Lehrlinge als Zielgruppe für historisch-politische Bildung darstellen und Debatten in diesem Zusammenhang nachzeichnen. Im Mittelteil werde ich ausgehend von Workshops, die ich zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Netzwerk von _erinnern.at_ für Lehrende aus verschiedenen Berufsschulen halten durfte, auf Bedingungen, Heraus-forderungen und Themenstellungen des historisch-politischen Lernens mit Lehrlingen eingehen. Abschließend werde ich ein konkretes Unterrichtsmaterial vorstellen und allgemeine Überlegungen zum konkreten Unterrichten zeitgeschichtlicher Themen an der Berufsschule anstellen. Dabei werde ich immer wieder meine persönlichen Erfahrungen als Lehrer an einer Wiener Berufsschule einfließen lassen.

Die „vergessene Mehrheit“

Der ehemalige Wiener Landesschulinspektor Hubert Prigl hat Lehrlinge in einem Interview mit dem „Standard“ einmal als eine vergessene Mehrheit bezeichnet (Kapeller, 2010). Im Feld der historisch-politischen Bildung ist das ganz sicher zutreffend. Lehrlinge kommen in diesem Zusammenhang höchstens als Problem vor, als zu wenig historisch gebildet und deswegen anfällig für Autoritarismus, Antisemitismus und menschenfeindliche Ideologien. Als Lösung wird dann oft nach dem verpflichteten Besuch von NS-Gedenkstätten gerufen – eine Forderung, die auch durch ihre vielfache Wiederholung nicht klüger wird und die durch die Verknüpfung mit der Herkunft der Jugendlichen einen rassistischen Beigeschmack bekommt. Selten wird in diesem Kontext gefragt, wer diese jungen Menschen eigentlich sind, diese Mehrheit, die schon mit 15 Jahren beginnt, einer Lohnarbeit nachzugehen. Was unterscheidet sie von jenen, die eine höhere Schule besuchen? Welche Strukturen begründen oder verfestigen diese Unterschiede? Unter welchen Rahmenbedingungen findet historisch-politische Bildung an der Berufsschule statt und was bedeutet das für Fragen der Vermittlung?

In erster Linie unterscheiden sich Lehrlinge von jenen Jugendlichen, die eine höhere Schule besuchen, darin, dass sie viel weniger Zeit für Bildung zur Verfügung haben als ihre Altersgenossinnen und -genossen. Die Unterschiede liegen also vor allem anderen in ihrer gesellschaftlichen Position und ihrem Zugang zu Bildung. Diese wird in Österreich überdurchschnittlich stark vererbt – ein großer Teil der Lehrlinge hat Eltern, die selbst eine Lehre absolviert haben. Dennoch sind die jungen Erwachsenen, die uns in Berufsschulen begegnen, in vielerlei Hinsicht heterogen – auch bezüglich des eigenen Bildungshintergrunds (zu den folgenden statistischen Daten siehe Dornmayr, 2020). Nur ein knappes Drittel der Lehrlinge in Österreich steigt so in eine Lehre ein, wie es das Schulsystem vorsieht, also nach erfolgreicher Absolvierung der 9. Schulstufe an einer Polytechnischen Schule. Etwa genauso viele beginnen eine Lehre, nachdem sie eine höhere Schule abgebrochen haben. Es gibt auch einige Lehrlinge, die davor eine höhere Schule oder sogar ein Studium abgeschlossen haben. Viele Lehrlinge haben die Schulpflicht schon nach der 4. Klasse der Mittelschule (MS) erfüllt, weil sie im Laufe ihrer Schullaufbahn eine Klasse wiederholen mussten. Manche haben keinen Schulabschluss, weil sie noch nicht lange in Österreich sind oder ihr Abschluss in Österreich nicht anerkannt wird. Insgesamt haben Lehrlinge öfter negative Erfahrungen mit Schule und dem Bildungssystem gemacht als Gleichaltrige in höheren Schulen. Auch in Bezug auf ihren familiären Hintergrund sind Lehrlinge eine von Diversität geprägte Gruppe – der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund oder nicht-deutscher Umgangssprache ist bundesweit unter den Lehrlingen jedoch deutlich geringer als unter den Schülerinnen und Schülern an kaufmännischen mittleren und höheren Schulen. Hier gibt es analog zum Anteil der Migrantinnen und Migranten an der Gesamtbevölkerung große Unterschiede zwischen Wien und den Bundesländern. Die oft konstatierte Heterogenität in Berufsschulklassen zeigt sich also deutlicher im Bildungshintergrund als in einem in seiner Definition etwas schwammigen „Migrationshintergrund“.

 

Die Vielfalt der Lernenden und ihrer Hintergründe stellt in allen Schultypen zugleich ein Potential und eine Herausforderung für historisch-politischen Unterricht dar. Sie ermöglicht lebendigen Austausch, Multiperspektivität und Lernen aus den Erfahrungen anderer. Sie macht es gleichzeitig schwierig, den Stand der Vorkenntnisse richtig einzuschätzen und den Unterricht so vorzubereiten, dass niemand unter- oder überfordert wird. Während etwa Berufsschülerinnen und-schüler, die ihre Lehre nach Abschluss einer höheren Schule beginnen, oft sehr viel historisches Wissen (vor allem zu zeitgeschichtlichen Themen) mitbringen, haben Jugendliche ohne positiven Hauptschulabschluss häufig Schwierigkeiten mit einer groben zeitlichen Einordnung des Nationalsozialismus und stützen ihr Geschichtsbild auf problematisches Halbwissen. Dazu kommen sprachliche Probleme, sei es, weil Schülerinnen und Schüler noch nicht lange Deutsch sprechen oder weil es an Lesekompetenz mangelt. Zusätzlich nehmen viele Lehrlinge sich selbst nicht als Adressatinnen oder Adressaten historisch-politischer Bildung oder als geschichtspolitische Akteurinnen und Akteure wahr und werden auch selten als solche adressiert. Lehrlinge stehen schon als Jugendliche im Berufsleben und sehen sich mit Arbeitsdruck konfrontiert und mit der Frage, inwiefern Inhalte, die sie in der Berufsschule lernen, in ihrem Beruf verwertbar sind (Schmid-Heher, 2019, S. 97f.).

Der ökonomische Verwertungsdruck, dem die Bildung von Lehrlingen ausgesetzt ist, zeigt sich auch an den zeitlichen Ressourcen, die für historisch-politische Bildung vorgesehen sind. Im seit 2016 gültigen Rahmenlehrplan ist Zeitgeschichte kein eigenes Themengebiet für den Unterricht, doch sind „zeitgeschichtliche Entwicklungen (…) unter Beachtung der Bedeutung der historischen Dimension der zu behandelnden Themenbereiche, insbesondere der Demokratie und Menschenrechte, in den Unterricht zu integrieren.“ Im Vergleich zu höheren Schulen bleibt trotz dieser Vorgabe meist nicht besonders viel Raum für Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte und der Zeit des Nationalsozialismus. Lehrlinge verbringen etwa ein Viertel der Stundenanzahl gleichaltriger Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in der Schule, über drei bis vier Jahre entweder einen Tag in der Woche oder zehn Wochen als Blockunterricht im Jahr. Etwa die Hälfte davon ist für Berufspraxis und Berufstheorie vorgesehen. Oft bleibt für die Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte im Rahmen einer dreijährigen Lehrzeit gerade einmal eine Doppelstunde im Rahmen des Faches Politische Bildung.