Naturphilosophie

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

7. Naturphilosophie jenseits der Grenzen der Naturwissenschaft

Der von Siegel (1913) benannte „metaphysische“ Strang der Naturphilosophie ist heute durch die vehemente Metaphysikkritik der Neopositivisten eher randständig, der Sache nach jedoch weiter präsent. Zwar gilt die Suche nach möglichst metaphysikarmen Ansätzen als Gütekriterium, jedoch könnte die ablehnende Haltung zur Metaphysik innerhalb der Wissenschaftsphilosophie, berücksichtigt man die Einsichten von Popper, Thomas S. Kuhn (1922–1996), Imre Lakatos (1922–1974) oder Paul Feyerabend (1924–1994), auch weniger kategorisch ausfallen. Zumal naturwissenschaftliche Programme in ihrem ‚harten Kern‘ selbst metaphysische Überzeugungen tragen. So überrascht es wenig, wenn der aus der Wissenschaftstheorie stammende Feyerabend (2009) selbst eine Naturphilosophie vorlegt. Zudem sind alle über den engeren wissenschaftsphilosophischen Rahmen hinausgehenden Ansprüche und Agenden – etwa Naturphilosophie solle die Einbindung der Wissenschaften in die Lebenswelt garantieren, sie leiste eine Reflexion über die Grenzen der Wissenschaft (Esfeld 2002: 127ff.) oder sie solle wissenschaftsphilosophische Reflexion mit kulturellen Aufgaben verbinden (Bartels 1996: 21) – kaum von einer Naturphilosophie zu erwarten, deren Ansatz, Methode und Möglichkeiten in den Grenzen der Naturwissenschaft verbleiben.

Deshalb erlebt die metaphysische Naturphilosophie einen Aufschwung (Nagel 2012). Das zeigt auch die wachsende Aufmerksamkeit für das kulturphilosophische und anthropologische Programm der Naturphilosophie von Helmuth Plessner (1892–1985). Dessen Stufen des Organischen und der Mensch (1928) sind zwar wissenschaftsnah, kritisieren aber die methodologischen Auswirkungen des cartesianischen Dualismus als einseitige Methodenprogramme der mathematisch-mechanischen |64|Naturwissenschaft oder der introspektiv-hermeneutischen Geisteswissenschaft. Ergänzend zur kulturwissenschaftlichen Analyse fordert Plessner eine Ableitung des Menschen aus der Natur. Ziel ist es, die Daseinsweise der Lebendigkeit (→ II.10), die den Menschen mit den übrigen Lebewesen verbindet, zur Grundlage der Philosophischen Anthropologie (→ II.11) zu machen. Während die Naturwissenschaft Philosophie nur in Form von Logik oder Methodologie benötige, brauche die Geisteswissenschaft Naturphilosophie: „Ohne Philosophie des Menschen keine Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften. Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen“ (Plessner [1928] 2003: 63). Diese Naturphilosophie auf phänomenologischer und leibphilosophischer Grundlage (→ III.1) steht zwar in Differenz aber nicht in Feindschaft zur Naturwissenschaft und hat in Hans Jonas (1903–1993) oder Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) bedeutende Nachfolger.

Literatur

Bartels, Andreas 1996: Grundprobleme der modernen Naturphilosophie. Paderborn.

Carnap, Rudolf [1934] 1992: Die Aufgabe der Wissenschaftslogik. In: Schulte, J./McGuinness, B. (Hg.): Einheitswissenschaft. Frankfurt/M.: 90–117.

Carus, Carl G. [1822] 1986: Von den Anforderungen an eine künftige Bearbeitung der Naturwissenschaften. In: ders.: Zwölf Briefe über das Erdleben. Hg.: E. Meffert. Stuttgart: 12–20.

Dingler, Hugo 1913: Grundlagen der Naturphilosophie. Leipzig.

– 1932: Geschichte der Naturphilosophie. Berlin.

Du Bois-Reymond, Emil [1890] 1912: Naturwissenschaft und bildende Kunst. In: Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden, Bd. 2. Hg.: Estelle Du Bois-Reymond. Leipzig: 390–425.

Esfeld, Michael 2002: Einführung in die Naturphilosophie. Darmstadt.

– 2011: Einführung in die Naturphilosophie. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Darmstadt.

Feyerabend, Paul 2009: Naturphilosophie. Frankfurt/M.

Haeckel, Ernst [1877] 1924: Über die heutige Entwicklungslehre im Verhältnisse zur Gesamtwissenschaft. In: ders.: Gemeinverständliche Werke, Bd. 5. Hg.: H. Schmidt. Leipzig: 143–161.

Helmholtz, Hermann v. [1862] 1968: Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaft. In: ders.: Das Denken in der Naturwissenschaft. Darmstadt: 1–29.

Nagel, Thomas [2012] 2013: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Berlin.

Ostwald, Wilhelm 1902: Vorlesungen über Naturphilosophie. Leipzig.

– 1908: Grundriß der Naturphilosophie. Leipzig.

Plessner, Helmuth [1928] 2003: Die Stufen des Organischen und der Mensch: Einleitung in die philosophische Anthropologie. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4. Hg.: G. Dux et al. Darmstadt.

Popper, Karl R. [1935] 101994: Logik der Forschung. Tübingen.

Reichenbach, Hans [1931] 2000: Neue Wege der Naturphilosophie. In: Breil, R. (Hg.): Naturphilosophie. Freiburg: 173–180.

Schelling, Friedrich W.J. [1799] 1927: Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. In: Schellings Werke, 2. Bd. Hg.: M. Schröter. München: 269–326.

Schleiden, Matthias J. [1844] 1988: Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft. Weinheim.

|65|Schlick, Moritz [1949] 1968: Philosophy of Nature. New York.

Schlüter, Hermann 1985: Die Wissenschaften vom Leben zwischen Physik und Metaphysik. Weinheim.

Siegel, Carl 1913: Geschichte der deutschen Naturphilosophie. Leipzig.

Virchow, Rudolf 1893: Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter. Berlin.

[Zum Inhalt]

|66|I.7 Streit um die Deutungshoheit der Natur: Materialismus-, Darwinismus- und Ignorabimus-Streit

Myriam Gerhard

1. Streitfragen

Der historische Kampf um die Naturphilosophie (→ I.6) ist im Kern ein Streit um die Deutungshoheit der Natur, der sich an verschiedenen Fragestellungen entzündet. Vor allem die 1840er bis 1870er Jahre sind geprägt durch Streitfragen, die im Kern zwar akademisch sind, aber aufgrund ihrer weltanschaulichen Konsequenzen und der zunehmenden Popularisierung der Naturwissenschaften eine beispiellose Breitenwirkung entfaltet haben. Es sind Fragen, die mehr oder weniger explizit um die Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Naturwissenschaften und um den Anspruch auf eine Deutungshoheit von Natur und Welt kreisen und damit in gewissem Sinne auch zeitlos sind. Von herausragender Popularität erweisen sich die Auseinandersetzungen um den naturwissenschaftlichen Materialismus, um den Darwinismus und um das die Grenzen des Naturerkennens proklamierende „Ignorabimus“: „Wir werden es nicht wissen“. Diese drei Debatten sind, auch wenn sie heute wenig bekannt sind, keine Randerscheinungen des 19. Jhs. Vielmehr lassen sie sich durchaus als archetypisch begreifen, und viele Argumente um die Deutungshoheit der Natur, wie auch ihre weltanschaulichen Implikationen und Konsequenzen, finden ihre Fortsetzung im 20. und teilweise sogar im 21. Jh. Die folgende Darstellung fokussiert auf einige wenige, naturphilosophisch relevante Aspekte der drei Debatten. (Weiterführend zum Materialismus-, Darwinismus- und Ignorabimus-Streit s. Bayertz et al. 2007a/b/c sowie 2012a/b/c, die auch die im Folgenden genannten Grundlagentexte in Auszügen enthalten.)

2. Der Materialismus-Streit

Das Auseinandertreten von Naturwissenschaften und Philosophie, das v.a. der Philosophie Friedrich W.J. Schellings (1775–1854) und Georg W.F. Hegels (1770–1831) angelastet wird (→ I.6), gilt, neben dem generellen Erfolg der Naturwissenschaften, als Grund für die Entstehung des naturwissenschaftlich geprägten Materialismus des 19. Jhs. An ihm entzündet sich ein überaus virulenter und weitläufig, oftmals in Form von öffentlichen Briefen, aber auch auf Tagungen ausgetragener „Streit zwischen |67|verschiedenen Facultäten des Menschen“ (Feuerbach 1866: 121), der wegen der Schärfe der Polemik den Titel eines Kampfes zu Recht trägt.

Die Streitfrage ist nicht, ob ein auf den Methoden der Naturwissenschaften basierender Materialismus wissenschaftlich zu begründen und zu rechtfertigen ist, sondern ob der methodische Materialismus entweder restriktiv oder dogmatisch zu verstehen ist. Auf einen klar umrissenen Bereich der Naturwissenschaften beschränkt lässt er Raum für andere Erklärungsarten, seien sie religiöser, weltanschaulicher, ästhetischer oder anderer Art. Dogmatisch verstanden ist er konsequent auch auf Gegenstände anzuwenden, die traditionellerweise nicht dem Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften zugerechnet werden. Dazu zählen vornehmlich Gott und Seele, deren Existenz sich auf der methodischen Grundlage des naturwissenschaftlichen Materialismus nicht beweisen lässt. Fragwürdig ist jedoch, ob sich darüber hinaus ihre Nicht-Existenz naturwissenschaftlich beweisen lässt und die Seele nichts weiter als eine Fiktion, ein Wahngebilde ist, wie der Physiologe Carl Vogt (1817–1895) behauptet. Vogts Widerredner, allen voran Rudolph Wagner (1805–1864), halten den Versuch, die Annahme einer Seelensubstanz auf der Grundlage der Physiologie zu widerlegen, für eine Überschreitung vom Gebiet der Physiologie in das Gebiet der Weltanschauung. Vogt wird dementsprechend wahrgenommen als „Stifter einer neuen Weltanschauung“ (Frohschammer 1855: 1), die den methodischen Materialismus der Naturwissenschaften auf eine Ontologie ausweite und den naturwissenschaftlichen Materialismus zu einem Monismus erhebe.

 

Der Streit wird nicht zuletzt deshalb so heftig geführt, weil die Konsequenzen einer materialistischen Weltanschauung, die „so vollständig die Grundlagen unseres sittlichen und religiösen Lebens in Frage“ (Schleiden 1863: 5) stellt, gefürchtet werden. Vor dem Hintergrund der politischen Situation ist die Befürchtung der Untergrabung oder Unterwanderung der Gesellschaft durch eine auf den Grundlagen der Naturwissenschaften sich stützende materialistische Weltanschauung nicht unbegründet. Nach dem Scheitern der Märzrevolution 1848 ist eine offene, politische Konfrontation aussichtslos, so dass sich der Weg zum gesellschaftlichen Fortschritt über die Popularisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, wie etwa einer Lehre der Nahrungsmittel für das Volk (Moleschott 1850), anbietet. Die Popularisierung ist insofern erfolgreich, als sie eine Diskussion eröffnet, die nicht in den Räumen der Fachgelehrten verbleibt, sondern weite Teile der Gesellschaft erreicht. Es sind Aussagen wie „Ohne Phosphor kein Gedanke“ (ebd.: 115) oder „daß die Gedanken in demselben Verhältniß etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren“ (Vogt 1847: 206), die, zumeist aus dem Zusammenhang gerissen, für heftige Reaktionen sorgen. Auch wenn die populären Texte der naturwissenschaftlichen Materialisten weder stilistisch noch inhaltlich besonders beeindrucken, so weiß z.B. Vogt vorsichtiger zu argumentieren, als die populäre Rezeption nahelegt. Das lässt sich schon an seinem berühmt-berüchtigten Vergleich von Nieren- und Gehirnprodukten nachvollziehen, den Vogt in den Kontext des Eingeständnisses von „Unwissenheit“ (ebd.: 205) und ungelösten Rätseln stellt und nicht mit dem Anspruch grenzenlosen Naturerkennens verknüpft.

In der Diskussion der viel drängenderen Frage, „ob alle Gedanken auf diesen uropoetischen Wegen entstehen sollten“ (Lotze 1852: 43), wird geflissentlich überlesen, |68|dass Vogt nicht weiter gehen will, als Erfahrung und Versuch ihn führen, und darüber hinaus die eigene Unwissenheit eingestanden wissen will: „Was man deßhalb auch von den Beziehungen der Gehirnsubstanzen zu den Nervenverrichtungen sagen möge, es ist besser, hier unsere Unwissenheit zu gestehen und nicht weiter zu gehen, als die Erfahrung und der Versuch uns geführt haben. Noch viel weniger können wir von der Beziehung der Geistesthätigkeiten zu dem Gehirne sagen; wenn auch Gall’sche Phrenologie[12] und Carus’sche Cranioskopie[13] die Räthsel gelöst zu haben sich brüsten. Ein jeder Naturforscher wird wohl, denke ich, bei einigermaßen folgerechtem Denken auf die Ansicht kommen, daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelenthätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind; oder, um mich einigermaßen grob hier auszudrücken, daß die Gedanken in demselben Verhältniß etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren. Eine Seele anzunehmen, die sich des Gehirnes wie eines Instrumentes bedient, mit dem sie arbeiten kann, wie es ihr gefällt, ist ein reiner Unsinn; man müßte dann gezwungen seyn, auch eine besondere Seele für eine jede Funktion des Körpers anzunehmen und käme so vor lauter körperlosen Seelen, die über die einzelnen Theile regierten, zu keiner Anschauung des Gesammtlebens. Gestalt und Stoff bedingen im Körper überall die Funktion und jeder Theil, der eine eigenthümliche Zusammensetzung hat, muß auch nothwendig eine eigenthümliche Funktion haben“ (Vogt 1847: 205f.).

Der Materialismus-Streit ist kein Streit unter Fachgelehrten. Es ist ein Streit um Weltanschauungen, um die Deutungshoheit „unserer“ Natur. Eine heftig bestrittene Strategie der Schlichtung ist das von Wagner (1854: 20) als „doppelte Buchführung“ bezeichnete Parallelgehen von naturwissenschaftlich begründetem Wissen und dem Glauben an eine moralische Weltordnung, der allein ihn zur Annahme der Existenz der Seele nötigt. Diese doppelte Buchführung soll den Übergang von einem methodischen Materialismus auf eine streng monistisch aufgefasste materialistische Ontologie verhindern. Eine mögliche Einheit der Weltsicht wird damit konterkariert, so dass es zum „Kampfe zwischen Glauben und Wissen“ kommt (Henle 1876: 23).

3. Der Darwinismus-Streit

1859 erscheint Charles Darwins (1809–1882) Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, das ein Jahr später in deutscher Übersetzung vorliegt und von den naturwissenschaftlichen Materialisten überaus positiv aufgenommen wird. Es vergeht keine Woche, wie Darwin beinahe amüsiert bemerkt, „without my hearing of some naturalist in Germany who supports my views, & often puts an exaggerated value on my works“ (Darwin [1870] 2010: 141). Nicht die übertriebene Wertschätzung der Theorie Darwins, sondern ihre weltanschauliche Vereinnahmung provoziert den Widerspruch erklärter |69|Anti-Darwinisten und trägt die Auseinandersetzung um Darwins Werk aus dem Kreis der Naturforscher hinaus. Aber auch als naturwissenschaftliche Theorie, frei von weltanschaulichen Implikationen, steht Darwins Werk zunächst mehrheitlich in der Kritik.

In der zweiten Auflage von On the Origin of Species, die der deutschen Übersetzung durch Heinrich G. Bronn zugrunde liegt, geht Darwin darauf ein und sucht in einer knappen Zusammenfassung seine Überlegungen zu untermauern: „Ich läugne nicht, dass man viele und ernste Einwände gegen die Theorie der Abstammung mit fortwährender Abänderung durch Natürliche Zuchtwahl vorbringen kann. Ich habe versucht, sie in ihrer ganzen Stärke zu entwickeln. Nichts kann im ersten Augenblick weniger glaubhaft scheinen, als dass die zusammengesetztesten Organe und Instinkte ihre Vollkommenheit erlangt haben sollten nicht durch höhere und doch der menschlichen Vernunft analoge Kräfte, sondern durch die blosse Zusammensparung zahlloser kleiner aber jedem individuellen Besitzer vortheilhafter Abänderungen. Diese Schwierigkeit, wie unübersteiglich gross sie auch unsrer Einbildungs-Kraft erscheinen mag, kann gleichwohl nicht für wesentlich gelten, wenn wir folgende Vordersätze zulassen: dass Abstufungen in der Vollkommenheit eines Organes oder Instinktes, welches Gegenstand unsrer Betrachtung ist, entweder jetzt bestehen oder bestanden haben, die alle in ihrer Weise gut waren; – dass alle Organe und Instinkte in, wenn auch noch so geringem Grade, veränderlich sind; – und endlich, dass ein Kampf ums Daseyn bestehe, welcher zur Erhaltung einer jeden für den Besitzer nützlichen Abweichung von den bisherigen Bildungen oder Instinkten führt. Die Wahrheit dieser Sätze kann nach meiner Meinung nicht bestritten werden“ (Darwin 1860: 492f.).

Darwin lässt an die Stelle einer theologischen Schöpfungsgeschichte eine natürliche Schöpfungstheorie treten, die das Rätsel der Entstehung neuer Arten, nicht aber das der Entstehung des Lebens überhaupt, naturwissenschaftlich zu lösen beansprucht. Wird Darwins Theorie anfangs v.a. in England „als eine vorübergehende naturphilosophische Träumerei verspottet“ (Haeckel [1868] 1878: 4), so wird ‚Entwicklung‘ bald zum „Zauberwort“ (Haeckel [1868] 1873: VI), das zur Lösung aller noch ausstehenden Rätsel herangezogen wird. Es ist demnach weniger der Geltungsanspruch, als naturwissenschaftliche Theorie ernstgenommen zu werden, als die „Prätension, das Räthsel alles Daseins gelöst zu haben“ (Zittel 1871: 147), und die damit einhergehenden weltanschaulichen Implikationen, die die Theorie Darwins zum populärsten Streitthema der Zeit werden lässt.

Die weltanschauliche Wendung eines biologischen Erklärungsversuchs war nicht zuletzt deshalb so überaus erfolgreich, weil einerseits der Begriff der Entwicklung nicht so neu war, wie es durch die Darwinisten kolportiert wurde, und andererseits der Begriff der Entwicklung keine einheitliche Verwendung fand. Analog der Darwin’schen Theorie, die nicht als ein Singuläres, sondern als ein Konglomerat verschiedener Theorien zu begreifen ist, ist auch der Begriff der Entwicklung selbst als eine Gemengelage unterschiedlichster Begriffe und ihrer Konnotationen aufzufassen. Das, was gemeinhin unter Darwins Evolutionstheorie verstanden wird, ist keineswegs ein einheitliches, in sich abgeschlossenes Theoriengefüge, sondern eine Mehrzahl mehr oder weniger aufeinander verweisender, selbständiger Theorien. (Vgl. Mayr [1982] 2003: 504–510.) Dazu gehören (1) die Evolutionstheorie, der gemäß die Lebensformen nicht statisch, sondern als in einem steten, kontinuierlichen und graduellen Entwicklungsprozess |70|begriffen zu verstehen sind, (2) die Deszendenztheorie, der gemäß alle Arten auf einige wenige Urformen als ihren gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden können, und (3) die Selektionstheorie, der gemäß der Anpassungsdruck einer spezifischen Umgebung zur natürlichen Selektion der am besten angepassten Exemplare einer Art führt. Evolution versteht Darwin dementsprechend als eine adaptive Entwicklung und nicht als eine einem bestimmten Naturgesetz folgende Entwicklung. Die Entwicklungstheorie als solche zeigt sich indifferent gegenüber mechanischen, organischen, materialistischen, pantheistischen oder theistischen Weltanschauungen. Anders sieht es bei der Deszendenztheorie sowie der natürlichen Züchtung, der Selektion, aus. Ihre Anwendung auf den „ganzen“ Menschen nimmt ihm seine Sonderstellung in der und zur Natur und lässt nicht nur den Menschen, sondern auch alle seine Kulturleistungen als Produkt eines natürlichen Prozesses erscheinen. Das Überleben eines einzelnen Menschen, einer Gesellschaft, sowie ihr Glaube und ihre Moral werden in der konsequenten Anwendung der Darwin’schen Theorien auf den Menschen zum Resultat eines natürlichen Prozesses der Selektion. Darwin hat die natürliche Züchtung eingeführt, um die Entstehung neuer Arten aus zuvor bestehenden analog zur künstlichen Züchtung, also die durch die selektierende Hand des menschlichen Züchters hervorgebrachte Variation, zu erklären. Das Produkt der natürlichen Züchtung ist die an ihre Umgebung am besten angepasste Art. Um die Interpretation und Anwendung dieses Erklärungsprinzips entzündet sich der Darwinismus-Streit.

Als Darwinisten im eigentlichen Sinn werden in diesem Streit die Anhänger der Selektionstheorie betrachtet. Auf ihrer Seite stehen naturwissenschaftliche Materialisten, die die natürliche Züchtung als notwendiges und „als allein ausreichendes Erklärungsprincip“ (Hartmann 1875: 4) der Entwicklung behaupten. Die Zweckmäßigkeit der Natur und ihrer Produkte ist für sie nichts anderes als das Resultat eines mechanischen Prozesses. Auf der anderen Seite stehen Anti-Darwinisten, in der Mehrzahl Theologen und Philosophen, die der natürlichen Züchtung allenfalls den Status einer rein naturwissenschaftlichen Hypothese zugestehen und sie als einen „nebensächliche[n] technische[n] Behelf des inneren Entwickelungsprocesses“ (ebd.: 5) auffassen. Der Darwinismus-Streit ist v.a. ein Streit um die Naturalisierung des Weltbildes, um die Stellung des Menschen zur und in der Natur. Auch wenn angesichts der aktuellen Naturalismus-Diskussion die Verwendung des Naturalisierungsbegriffs an dieser Stelle diachron erscheinen mag, so legen differenzierte Analysen eine von empiristischen Bestrebungen wohl zu unterscheidende Naturalisierungstendenz im 19. Jh. nahe (vgl. Heidelberger 2015).