Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 2

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Mit der zweiten Eingabe der JHH an die Regierung wurde die Unzulässigkeit der Steuerhöhe dargelegt. Die JHH benutze Chausseen und die Eisenbahn, keine Gemeindewege, so dass sie keine hohen Wegebaulasten verursache. Armen- und Schullasten blieben in der Arbeitergemeinde gering. Das bürgerliche Vereinswesen entfalte umfassende Wohltätigkeit, Arbeitslosigkeit trete kaum auf und es würden die höchsten Industriearbeiterlöhne in Preußen gezahlt. Die Unternehmen seien überdurchschnittlich „wohltätig“, denn Rhenania und JHH betrieben Unterstützungskassen für Notlagen bei Krankheit, Invalidität und im Alter. Die JHH gewähre zusätzlich Zuschüsse zu Arzt-, Kur- und Arzneikosten.

Eine über fiskalische Aspekte hinausgehende kommunale Komponente enthielt die Kritik an der restriktiven Praxis der Bürgermeisterei Borbeck bei der Genehmigung von Arbeitersiedlungen.20 Durch Arbeitermangel der in dünn besiedelter Gegend schnell expandierenden Industrie21 wuchs sich das finanzpolitische Interesse der JHH zu einem wirtschaftspolitischen aus. Borbeck verstieß nämlich gleich mehrfach gegen die Interessen der JHH: Erstens erschienen die Steuern im Vergleich zu den von der Industrie verursachten Kommunallasten zu hoch; zweitens verstärkte sich diese Überhöhung in Relation zu den freiwilligen sozialpolitischen Kosten; drittens konterkarierte die Ablehnung des Baus von Arbeitersiedlungen Investitionen der betrieblichen Sozialpolitik zur Verringerung des Arbeitermangels.

Diese Konstellation bewirkte ein ökonomisches Interesse der JHH an der Gemeindegründung Oberhausens. Die JHH wünschte eine Kommunalpolitik, die unter dem Primat von Industrie- als Wirtschaftspolitik stand. Im zentralen Bereich der Finanzen musste eine Politik industriefreundlich erscheinen, die verteilungspolitisch eher kleingewerbliche Einkommen und den Immobilienbesitz als die Industrie belastete. Das erforderte die einseitige Interpretation, dass Industrie weniger als Verursacher der Urbanisierungskosten anzusehen sei denn als Einrichtung, die das Gemeinwohl durch Wachstum und Sozialleistungen steigere. Folglich konnte die JHH den Anspruch auf geringe Steuern mit ihrer Sozialpolitik legitimieren, während sie das gewerbetreibende und grundbesitzende Bürgertum zum Nutznießer der Urbanisierung durch Industrialisierung erklärte. Eine umfassende Industrieorientierung von Kommunalpolitik erschöpfte sich aus JHH-Perspektive nicht in der Lastenverteilung; die Einnahmeverwendung sollte denselben Kriterien unterliegen. Industriefreundlichkeit offenbarte sich für die JHH in der Praxis zur Genehmigung von Siedlungsbauten. Diese wiederum war Ausdruck der Domäne preußischer Staats- und Gemeindeverwaltung: der Wahrnehmung gesellschaftspolitisch abgewogener, jedoch mit klar hoheitlichem Anspruch ausgeübter Ordnungsfunktionen.


Abb. 2: Siedlung Herrenhäuser der Zeche Oberhausen, erbaut 1858

So waren die Ermöglichung von Investitionen in Industrie und Wohnungsbau – noch nicht kommunale Infrastrukturinvestitionen – und die Steuererhebung zentrale Instrumente der Kommune zur Förderung der Industrie. Diese Vorstellungen ließen sich nur mit Hilfe einer von der Industrie dominierten Gemeinde erreichen. Für die Oberhausener Industrie eröffnete sich durch Siedlungsverdichtung mit einer ersten zentralen Funktion und durch den Steuerkonflikt mit Borbeck eine gute Chance auf die Durchsetzung ihrer kommunalen Vorherrschaft. Sowohl die modernisierungs- und industrieorientierten preußischen Regierungsbehörden als auch die vorindustrielle Siedlungsleere rückten die Gründung einer neuen Gemeinde ohne Dominanz der Alteingesessenen, in Oberhausen waren dies die gemeinschaftlich an der Heide Berechtigten, in den Bereich des Möglichen.22

Die Reaktionen der rheinischen Regierungsbehörden auf Antrag und Bericht des Landrates Kessler brachten die Bevorzugung einer größeren Lösung zum Ausdruck, als nur Lirich und Lippern zur Gemeinde zu erheben.23 Der Oberpräsident stimmte dem Regierungspräsidenten am 10. September 1858 darin zu, eine selbständige Bürgermeisterei zu gründen und leitete mit seiner Verfügung vom 6. September die Gründung ein. Dabei sprach er sich für die Einbeziehung nahegelegener Teile von Dümpten und Sterkrade aus, womit das Maximalkonzept eines industriellen Siedlungsraumes vom Werk „Gutehoffnungshütte“ der JHH in Sterkrade bis zur Zeche Roland in Dümpten in die Planungsperspektive rückte.24

Am 2. Dezember 1858 wies der Oberpräsident an, die Gemeindegründung binnen vier Wochen zu vollziehen, andernfalls die Hinderungsgründe anzugeben. Diese Frist wie viele nachfolgende bis ins Jahr 1860 verstrichen wegen Auseinandersetzungen zwischen Landrat, Regierungspräsident und betroffenen Grundbesitzern über die Gebietsausdehnung der neuen Bürgermeisterei.25 Es folgte eine Phase intensiver Korrespondenz und Gespräche. Unstrittig war die Abgrenzung der Bürgermeisterei im Westen und Osten mit dem Gebietsstand Lirichs, Lipperns und einer kleineren Fläche aus Meiderich. Trotz der Einsprüche der Lipperner ▶ Alteingesessenen konnte kein Zweifel mehr bestehen, dass die Regierung die Gemeindegründung durchsetzen wollte. Doch die Nord- und Südgrenze blieben offen.26

Die Verzögerung der Gemeindegründung um gut zwei Jahre zeichnete sich seit dem Widerstand des Grafen Westerholt gegen die Zuweisung seines nördlich der Emscher gelegenen Gutes Oberhausen ab. Auf Anfrage des Bürgermeisters von Holten-Beeck wandte sich Westerholt am 9. März 1859 an den Regierungspräsidenten und forderte den Verbleib von „Haus Oberhausen“ in Holten, zu dessen Gemeindelasten es erheblich beitrage. Dagegen bestehe „keine Verbindung“ mit Oberhausen, dessen Siedlungscharakter als „ganz industrielle Gemeinde“ er hervorhob.27 Dem trat Landrat Kessler energisch entgegen. Wegen „entfernter Lage“ des Schlosses von Beeck sei die bisherige Gemeindezugehörigkeit „unnatürlich“. Zudem teile er die Erwartung hoher fiskalischer Belastungen in Oberhausen nicht. Im Gegenteil habe es der Beecker Bürgermeister Klinge im Interesse seiner Gemeinde(finanzen) unternommen, „unter den Eingesessenen zu agitieren.“28

Die Motive beider Kontrahenten waren finanz- und zugleich wirtschaftspolitischer Natur. Während Graf Westerholt zu Recht hohe Gemeindelasten in Folge einer schnell steigenden Arbeiterbevölkerung als Wertverlust seiner Netto-Pachteinnahmen fürchtete, ging es dem Landrat um einen finanzkräftigen Steuerzahler zur breiteren Verteilung jener Lasten. Dass Kessler dies dem Regierungspräsidenten nicht offenlegte, hatte seine Ursache wohl in den persönlichen Beziehungen des Grafen zum Oberpräsidenten, wodurch der Einspruch erhöhtes Gewicht erhielt. Angesichts dieser Konstellation verständigten sich Landrat und Regierungspräsident auf einen industriepolitischen Kompromiss, in dem sich Graf Westerholt durchsetzte, gleichwohl aber ein Gebietsstreifen der Gemeinde Holten-Beeck am nördlichen Ufer der Emscher, wo sich ein Teil des JHH-Walzwerkes Oberhausen befand, aus Buschhausen zu Oberhausen geschlagen wurde.29

Hatten der Borbecker Bürgermeister Hermann Péan und seine Gemeindeverordneten anscheinend ihren Widerstand gegen die Koalition aus JHH, Landrat und Regierung schon verloren geglaubt, so nahmen sie jetzt mit standesbewusstem Elan die Auseinandersetzung mit der Großindustrie auf. Pean und 16 Gemeindeverordnete – die breite Mehrheit der Heideberechtigten – wandten sich am 28. März 1859 direkt an den preußischen Innenminister und lehnten die Bildung der Bürgermeisterei Oberhausen ab. Die Abtrennung Lirichs und Lipperns von der Bürgermeisterei Borbeck sei „gegen den Willen der Eingesessenen“. Es handele sich bei der Bürgermeistereigründung um ein „Projekt, welches nur von einzelnen Industriellen ausgeht.“ Es dürfe nicht mit zweierlei Maß gemessen werden, je nach dem, ob der Adelige oder aber die kleinen Bauern die selben Argumente vorbrächten. Schließlich setze sich der neue Kreis Essen überwiegend aus katholischer Bevölkerung zusammen, der Restkreis Duisburg mit Oberhausen primär aus evangelischer. Dabei seien die Lirich-Lipperner Eingesessenen allesamt katholisch.30

Die Borbecker Kommunalpolitik und der Essener Landrat hielten ihre Ablehnung fortan aufrecht. Noch am 23. Juni 1860 teilte der Landrat die grundsätzliche Ablehnung des „Regulierungsplanes“ für Oberhausen durch die Borbecker Gemeindeversammlung mit. Real ging es aber seit der Jahresmitte 1860 nur noch um die Kreiszugehörigkeit Oberhausens, bei der sich der Duisburger Landrat Kessler dank seines Engagements, der Unterstützung der JHH und des regierungsseitig anerkannten Erfordernisses nach einer industriefreundlichen Kreisverwaltung für Oberhausen durchsetzte.31

Die Position der Lirich-Lipperner Eingesessenen, wie der Bürgermeisterei Borbeck, vermittelt das Bild eines aussichtslosen Widerstandes, dessen Motive in der Befürchtung von Steuererhöhungen, des Verlusts industrieller Steuerzahler und einer rapiden Schmälerung ihres kommunalen Einflusses bestanden. Anders als Graf Westerholt verfügten die Gegner der Gemeindegründung nicht über die Möglichkeit der Selbstausgrenzung, weil sich in Lippern durch die Nähe der Höfe zu den JHH-Betrieben keine Aufteilung Lirichs und Lipperns zwischen Oberhausen und Borbeck vornehmen ließ. Nur die Allianz mit der gesamten Borbecker Gemeindevertretung verschuf ihnen überhaupt einen administrativen Lobbyisten und damit Gehör. Vor allem die geringe Zahl der Liricher und Lipperner Eingesessenen war für die Verfechter der Gemeindegründung ein wichtiges Argument, denn dadurch würden sie in der Bürgermeisterei Oberhausen das Übergewicht der Industrie institutionalisieren können. Diese Perspektive galt im modernisierungswilligen Preußen auch für die Behörden der Provinz und die Berliner Regierung, die am 18. November 1861 durch königlichen Erlass die Gemeindegründung vollziehen ließ.32 Zuvor war im März 1859 der Konflikt zwischen Landrat und Eingesessenen um die Festlegung der Südgrenze beigelegt worden. Es wurde ein Kompromiss gefunden, der den rund einen Kilometer breiten Heiderand von Mülheim Land Oberhausen zuteilte, die Südverschiebung der Grenze um einen weiteren Kilometer aber verhinderte.33 Mit diesem Kompromiss wurde der zeitgenössische Siedlungskern südlich des Oberhausener Bahnhofs abgedeckt, aber weder war eine südliche Vorortbildung innerhalb der Gemeindegrenze möglich noch erzielte der Landrat die gewünschte geographische Mittellage des Bahnhofs im Gemeindegebiet zur Förderung von Zentralörtlichkeit, nämlich der Ausübung von Versorgungsfunktionen einer Ortsmitte für einen größeren Siedlungsraum.

 

Seine Motive legte Kessler offen dar. An erster Stelle stand für den Landrat die Einverleibung der JHH sowie der Industrie im Oberhausener Bahnhofsumfeld aus dem Kreis Essen. Hinzu kamen polizeiliche Gesichtspunkte der Kontrolle einer auf fast 5.000 Personen angewachsenen Arbeiterbevölkerung. Die öffentliche Ordnung korrespondierte mit disziplinarischen Interessen der Großindustrie, die ihre überwiegend agrarisch geprägte Belegschaft in den Arbeitsprozess des Großbetriebes zu integrieren trachtete, wozu es individuelle Widerstände zu brechen sowie eine kollektive Organisation der Gesamtbelegschaften zu verhindern galt. Defizite im Gesamtbereich der Infrastruktur – wie beim Straßen- und Wegebau und das Fehlen einer Gemeinde selbst, die eine ortsnahe und serviceorientierte Verwaltung für die weitere industrielle wie urbane Expansion bereitstellte – erfuhren die Akteure in Industrie, Kleingewerbe und Wohnungsbau in gleicher Weise als nachteilig.34

Sodann sei die Zielperspektive der JHH betrachtet. Da sie 1873 die Vereinigung aller ihrer Werke in der zu gründenden Bürgermeisterei Sterkrade forderte,35 wird ihre Leitung dieses Maximalziel bei Gründung der Bürgermeisterei Oberhausen wahrscheinlich schon 1858 verfolgt haben. Dafür spricht die Aufforderung des Ober- an den Regierungspräsidenten, Teile Sterkrades in die Gemeinde einzubeziehen.36 Landrat Kessler aber riet seinen Vorgesetzten von einer Überschreitung der Emscher bis auf Schloss und Walzwerk Oberhausen ab. Als Gründe führte er weniger den Charakter der Emscher als natürliche Grenze an als zu erwartende „endlose größere Schwierigkeiten“ mit den Betroffenen. Stattdessen formulierte er das Kalkül, in einem zweiten Schritt die Gemeinde Oberhausen zu vergrößern, wenn mit dem Fortschritt des Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesses die Steuerkraft Oberhausens anwüchse. „Vorläufig“ solle man sich auf die Bauernschaften Lirich und Lippern beschränken, denen man die Armenlasten auch des industriell besiedelten Nordens der Bürgermeisterei Mülheim-Land noch nicht zumuten könne.37

Landrat Kessler bezweckte damit Industrieförderung bei Rücksichtnahme auf die finanzielle Leistungsfähigkeit der Eingesessenen. Er betrachtete die Gemeindegründung als administrative Vorleistung für eigendynamisches industrielles und städtisches Wachstum. Doch auch die Eingesessenen könnten längerfristig profitieren, weil absehbare Grundwertsteigerungen notwendige Steuererhöhungen überzukompensieren versprachen. Die Industrialisierung war für Kessler kein verteilungspolitisches Null-Summen-Spiel, sondern eine Steigerung des allgemeinen Wohlstandes. Er erkannte bereits den dynamischen Zusammenhang von Industrialisierung und Urbanisierung, sich gegenseitig zu fördern und dadurch hohes quantitatives wie qualitatives Städtewachstum zu ermöglichen. In der Perspektive Kesslers begann bereits mit der Gemeindegründung ein von der industriellen Basis ökonomisch und demographisch getragener Aufstieg Oberhausens zur Stadt.38 Wegen der entgegen gesetzten Sicht der Eingesessenen, in der Industrialisierung einen vorübergehenden „Schwindel“39 zu erblicken, der eine hohe Armenlast hinterließe, fiel deren Widerstand so hartnäckig aus.

Es führten somit folgende Beweggründe und Entwicklungen zur Gründung der Bürgermeisterei Oberhausen als einer zukünftigen Industriestadt. Die Ausgangslage in Nähe von Bahnhof und Walzwerk Oberhausen für eine einheitliche und leistungsstarke Verwaltung war durch die dortige Gemeindegrenze ungünstig. Das löste Veränderungsbedarf aus: Zu der Zergliederung in die drei Bürgermeistereien Holten-Beeck, Borbeck und Mülheim-Land trat 1858 die bevorstehende Kreisteilung in Duisburg und Essen hinzu. Der Industrieförderer und Duisburger Landrat Kessler drohte die Lirich-Lipperner Industrie in Borbeck für seinen Landkreis Duisburg zu verlieren und wurde darüber zum Träger der Gemeindegründung auf Seiten des Staates. Auf Seiten der Industrie fiel dem Großunternehmen JHH diese Rolle zu. Ihm boten sich gleiche mehrere Vorteile: In einer von der Industrie dominierten Gemeinde bewirkten betriebliche Sozialausgaben unmittelbar niedrigere Soziallasten. Aufgrund ihrer Steuerkraft würde die Industrie im Gemeinderat wegen des ▶ Dreiklassenwahlrechtes über die Alteingesessenen dominieren – anders als im größeren und noch weit stärker agrarisch geprägten Borbeck. Die kommunale Macht ließ sich dazu nutzen, Grundbesitz und Kleinunternehmer stärker steuerlich zu be- und die Großunternehmen zu entlasten. Schließlich interpretierte die JHH das Bürgertum über die Wertsteigerungen des Bodens als die eigentlichen Nutznießer der rasanten, industriebedingten Siedlungsbildung.

In merkantilistischer preußischer Tradition aus dem 18. Jahrhundert förderten Regierung und Landrat die Industrie durch die Schaffung eines geeigneten gemeindlichen Umfeldes. Das basierte auf der fortschrittsorientierten Zuversicht, die Industrialisierung werde dauerhafte Erfolge erzielen und die Wirtschaft grundlegend verändern.

Die staatlichen Institutionen handelten im Bewusstsein, als Hüter des Gemeinwohls zugleich Vorkämpfer des Fortschritts zu sein, zu dem die Entwicklung einer Industriestadt als Folge der Siedlungs- und Gewerbeverdichtung folgerichtig dazu gehöre. Somit strebten Regierung, Landrat und Bürgermeister die Schaffung von Grundlagen der Stadtwerdung an, an deren Spitze die Heideteilung, der Straßenplan und grundlegende ▶ Infrastrukturen, allen voran Schulen und Kirchen standen.

Die Industrie am Ort, allen voran die JHH, strebte nach der Etablierung einer leistungsfähigen öffentlichen Verwaltung für das Umfeld des Oberhausener Bahnhofs. Diese Verwaltung sollte zugleich durch das Übergewicht der Industrie in den kommunalen Gremien gewerbefreundlich gelenkt werden.

Die Alteingesessenen, die Gemeinheitsberechtigten der Lirich-Lipperner Heide, in Borbeck, aber auch Graf Westerholt, verbanden einen Zukunftspessimismus in Bezug auf die Tragfähigkeit des industriellen Aufbruchs mit ihren persönlichen Interessen nach einer hohen Besteuerung der Forensen, also der Industrie. Dabei förderten sie die fortschreitende Besiedlung durch die immer zahlreichere Arbeiterbevölkerung, von der eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung befürchtet wurde, nur zögerlich. Gegen das Zukunfts- und Fortschrittsverständnis der leitenden Bürokratie und die ökonomische Macht der Industrie hatten die Vertreter der Agrargesellschaft schließlich keine Chance, Oberhausen zu verhindern.

Die Gründung der Bürgermeisterei Oberhausen stellte den Vollzug staatlicher Industriepolitik, aber auch von kommunaler Wirtschafts- und Stadtentwicklungspolitik des Landrates Kessler dar. Dieser bestellte den tatkräftigen, industrieorientierten Reserveleutnant Friedrich Schwartz zum Bürgermeister. Schwartz nahm seine Arbeit als Leiter der Gemeindeverwaltung am 1. Februar 1862 auf. Die Oberhausener Gemeindegründung präsentiert sich als politischer Prozess, in dem folgende Faktoren das wichtige Korrektiv zur ökonomisch-materiellen Macht der Industrie waren: die Konfliktregelungsmechanismen innerhalb der staatlichen Institutionen, intensive Verhandlungen sowie das Ausloten von Interessen und Kompromissmöglichkeiten im gesellschaftlichen Raum. Dass jenes Korrektiv bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht als ebenbürtiges Gegengewicht ausfiel, lag sowohl an der überlegenen Position des Großunternehmens JHH als auch an der Modernisierungsorientierung von Staat wie Landkreis, der übergeordneten kommunalen Instanz neben der Gemeinde.40

2. Grundlagen und Prozesse der Stadtentwicklung – Wirtschaft und Raumbildung41

Zur Oberhausener Stadtgeschichte in allen ihren wesentlichen Aspekten liegen mit der Habilitationsschrift Heinz Reifs „Die verspätete Stadt“ und mit der Promotionsschrift Magnus Dellwigs „Kommunale Wirtschaftspolitik in Oberhausen 1862 – 1938“ die Aufarbeitungen der grundlegenden Entwicklungen zur modernen Stadtgeschichte Oberhausens bis 1914 und auch darüber hinaus bis 1929/​1938 vor.42 Aus der Entstehung der Industriestadt Oberhausen bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs 1914 in einem sehr dynamischen und vielseitigen, komplexen Prozess folgt in diesem Beitrag die Strukturierung der Stadtgeschichte um zwei zentrale Entwicklungszusammenhänge.

Die eine herausragende Entwicklung bildet die Wirtschafts- und Raumstruktur. Dafür sind die folgenden drei Aspekte zu unterscheiden. Zuerst, der Entstehung von Kommunalpolitik vorausgehend, erfolgt die sektorale (Landwirtschaft, Produzierendes Gewerbe, Dienstleistungen) und die räumliche Beschäftigung mit der Ausbildung der Wirtschaftsstruktur. Dabei sind neben der übermächtigen Industrie die Eisenbahn und die Konzentration von Handel und Handwerk zu berücksichtigen. Den letztgenannten Dienstleistungen kommt die entscheidende Bedeutung für die Bildung eines Stadtzentrums und städtischer, urbaner Vielfalt und Lebensqualität zu. Anschließend wird die Gliederung des innerstädtischen Raumes nach unterschiedlichen Nutzungen betrachtet. Das nennen Planer und Stadthistoriker die „funktionale Differenzierung“ des Raumes. Ein wesentliches Ordnungsprinzip des Raumes der Stadt Oberhausen ist die Citybildung als Voraussetzung für die Stärkung und Auffächerung der Dienstleistungen (▶ Tertiärisierung genannt, weil die Dienstleistungen der dritte, der tertiäre Sektor der Wirtschaft sind). Eine zweite prägende Kraft der Raumnutzung stellte die Konzentration sozialer Gruppen in einzelnen Stadtteilen, die soziale Segregation, mit ihren Auswirkungen für den Immobilienmarkt und als weicher Standortfaktor mit ihrer Bedeutung für die Gewinnung neuer Mittelschichten dar. Als dritter Motor einer gegliederten Raumnutzung trat schließlich die kommunale Förderung gewerblich genutzter Areale in der Stadt hinzu. Das diente der Verringerung von Konfliktpotenzialen zwischen gewerblichen, Wohn- und Dienstleistungsnutzungen – zum Vorteil der besseren Entwicklung aller drei Felder städtischen Wachstums.

Dieses planvolle Handeln der Gemeinde, seit 1874 der Stadt Oberhausen gestaltete sich dann um 1900 zu einer Stadtentwicklungskonzeption aus. Anerkennung fand Oberhausen mit seiner Strategie zur Verbesserung städtischer Entwicklungsbedingungen, zur Erhöhung städtischer Lebensqualität und industriellen Wachstums, als 1929 die Zusammenlegung des Wirtschaftsraumes der Gutehoffnungshütte zur Stadt Oberhausen in ihren bis heute gültigen Grenzen erfolgte. Kern dieser Stadtentwicklungskonzeption sind die zwei Elemente: Herausbildung einer Strategie zur Erlangung mittelzentraler Qualität im rheinischen Ruhrgebiet zwischen den beiden Oberzentren Essen und Duisburg, sowie die Verwirklichung dieser Zielsetzung vornehmlich mit Hilfe der Verkehrs-, Citybildungs- und Eingemeindungspolitik.

 

Der zweite herausragende Vorgang für das Werden der Industriestadt Oberhausen besteht in der Entstehung der Stadtgesellschaft, die mit der Herausbildung einer lokalen Öffentlichkeit verbunden war. Diese Entwicklung wird hier beschrieben als die sozio-kommunikative Verfassung der Kommunalpolitik. Sozio-kommunikativ deshalb, weil die soziale Elite mit ihren ganz besonderen Beziehungsgeflechten, ihren Vereinen und Freizeitgestaltungen, wichtige Entscheidungen der Stadtentwicklung traf, sogar maßgeblich die Rahmenbedingungen für das Gestaltbare im Werden einer Industriestadt setzte. Es handelte sich in Oberhausen um ein auf Machtbeziehungen beruhendes industriestadttypisches Beziehungsgeflecht zwischen den politischen Akteuren der Grundbesitzer, der Bildungsbürger- und Unternehmerelite sowie der Verwaltung. Wiederum sind drei Aspekte der Stadtgeschichte für das Beziehungsgefüge der Kommune fundamental.

Basis der sozio-kommunikativen Bedingungen von Stadtwerdung und kommunaler Entscheidungsfindung in Oberhausen ist zum einen die soziale Schichtung der Gesamtbevölkerung und des Bürgertums, das sich in der Arbeiterstadt als kommunal handelnde Elite formierte. Zum anderen erweist sich das gesellschaftspolitische Selbstverständnis und die Orientierung jener Gruppen im sozioökonomischen, politischen und sozio-kulturellen Wandel als ausschlaggebend. Gesellschaftspolitik prägte in Oberhausen die Handlungen, mit denen auf tiefgreifende Erfordernisse zur Organisierung städtischen und auch betrieblichen Zusammenlebens reagiert wurde. Dies geschah in der jungen Industriestadt in einer Umwelt, in der es an nahezu allem fehlte, was modern als Infrastruktur, als Grundlage modernen städtischen Lebens bezeichnet wird: Von den Schulen über Straßen bis zu Gas, Wasser und Kanalisation. Gesellschaftspolitische Ziele und Vorstellungen erwiesen sich auch deshalb als besonders wichtig, weil zu den völlig neuartigen Lebenserfahrungen der Menschen funktional stark in diverse Abteilungen und Betriebe gegliederte „Großunternehmen“ zählten. Diese Großorganisationen bauten innere Ordnungen, Hierarchien ganz eigener Art auf. Damit verbanden sich soziale Konfliktpotenziale wie Erfordernisse zur Integration vielfältig gegliederter Belegschaften mit entsprechend unterschiedlichen Interessen.

Die zweite Rahmenbedingung von Stadtwerdung ist zugleich ihre Voraussetzung: die Machtverhältnisse in der Gemeindevertretung. Sie wurden bestimmt vom Zensuswahlrecht, das den Einfluss der Wähler an die persönliche Steuerleistung band – da es den Zahlern von jeweils einem Drittel der kommunalen Steuerkraft den jeweils selben Einfluss in der Stadtverordnetenversammlung gab – sowie der Wirtschafts- und Sozialstruktur. Das quantitative wie qualitative Gewicht der Unternehmensvertreter und ihr Verhältnis zur Verwaltungsspitze bestimmten das politische Handlungsfeld in der Industriestadt Oberhausen ebenso wie der frühe Statuswechsel von der Bürgermeisterei über das Stadtrecht 1874 zur Kreisfreiheit im Jahr 1901. Für die funktionale Gliederung des städtischen Raumes erlangte die Entfaltung der Leistungsverwaltung mit ihrer technischen Infrastruktur zentrale Bedeutung. Leistungsverwaltung war Ausdruck und Instrument der Erreichung von Urbanität als weichem Standortfaktor für bürgerliche Arbeitskräfte ebenso wie sie die Ausbildung des Wirtschaftsraumes der „GHH-Stadt“ Oberhausen in ihren Grenzen seit 1929 förderte.

Das Beziehungsgefüge der dominierenden bürgerlichen Gruppen, das Interaktionsnetz, stellt den dritten gewichtigen Aspekt der sozio-kommunikativen Verfassung von Kommunalpolitik in Oberhausen dar. Es war zugleich in seinem Wandel um 1900 schließlich die Voraussetzung dafür, eine konsensfähige Stadtentwicklungsstrategie herauszubilden. So stellt gerade das Interaktionsgefüge der kommunalen Akteure den entscheidenden Unterschied Oberhausens zu einem Industriedorf dar – nämlich das Potenzial zu Urbanisierungsanstrengungen, den Willen zur Stadtentwicklung.43