Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 2

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Die Gliederung des städtischen Raumes nach Nutzungen

Die 1862 gegründete Bürgermeisterei Oberhausen umfasste 1.300 Hektar Fläche, die zum überwiegenden Teil aus Heide und landwirtschaftlich genutzten Flächen bestanden. Dennoch hatte die Raumnutzung durch Industrie und Eisenbahnen bereits eine irreversible, unumkehrbare Struktur erhalten. Zwei Räume industrieller Verdichtung sowie drei Siedlungskerne waren seit dem Eisenbahnbau 1846 entstanden. Die Gemeinde zeichnete sich durch die Unverbundenheit der JHH-Werksanlagen an der Essener Chaussee im Nordosten (Industrielle Verdichtung 1), der dort gelegenen Wohnhäuser und der sich südlich daran anschließenden Werkskolonie „Herrenhäuser“ (Siedlungskern 1) einerseits mit dem Bahnhofsumfeld andererseits aus. Um den in südwestlicher Mittellage innerhalb der Bürgermeisterei angelegten Bahnhof gruppierten sich nahezu geschlossen Industrie- und Gleisanlagen (Industrielle Verdichtung 2). Nordöstlich des Bahnhofs und der Fabriken Vieille Montagne und Hasenclever/​Rhenania entstand an der Hauptstraße zwischen Bahnhof, Duisburger Chaussee und der bäuerlichen Siedlung Lirich (heute Buschhausener Straße) in den 1850er Jahren ein Siedlungskern aus Kleingewerbe und Wohnungen für Arbeiter der Zeche Concordia, der Eisenbahn und der zwei genannten Fabriken (Siedlungskern 2). Südlich des Bahnhofs und von diesem durch die etwa 400 Meter langen Anlagen der Styrumer Eisenindustrie (SEI) getrennt bildete sich seit 1858 ein zweiter Siedlungskern in Bahnhofsnähe aus (Siedlungskern 3). Dessen Expansion und die Ausgestaltung der verschiedensten Nutzungen erlangte in den ersten Jahren der Gemeinde eine besondere Dynamik. Begünstigt von der Marktplatzschenkung des auf Bodenwertsteigerungen spekulierenden Anliegers Stöckmann von 1859 und dem schnellen Wachstum der SEI wie der Niederlassung kleiner Industrieunternehmen, so 1861 der Gießerei Fitscher, siedelten sich an Marktplatz und -straße in den 1860er Jahren zahlreiche Einzelhändler und Handwerker an. Eine Notkirche wurde errichtet und Bürgermeister Schwartz mietete am Altmarkt Räume für die Gemeindeverwaltung. Damit entwickelte sich das Marktumfeld als der dritte Siedlungskern Oberhausens sehr schnell zum Ursprung der Innenstadt, das heißt: zum Ort differenziertester tertiär-handwerklicher Nutzung, also höchster Zentralität, und dichtester Bebauung in Oberhausen. Beide Prozesse stimulierten sich wechselseitig.70

Wie im gesamten Ruhrgebiet vollzog sich Städtebildung in Oberhausen als ▶ agglomeratives Wachstum, d. h. als ein Wachstum aus dem kommunal kaum gesteuerten Wildwuchs unverbundener Siedlungskerne in einer Streulage zwischen Industrie- und Verkehrsanlagen sowie bedeutenden Freiflächen. Die rasante Expansion der JHH von der Erbauung der Eisenhütte ab 1853 bis zur Gründerkrise 1873 relativierte die dominante Bedeutung des Zentrums im gemeindlichen Raum nachdrücklich. Mit der Zeche Oberhausen, der Hütte und zwei Walzwerken wuchsen die Wohngebiete der JHH-Arbeiterschaft im Oberhausener Nordosten schnell an. Neben einer Verdichtung der Bebauung an der Essener Straße setzte westlich der Siedlung Herrenhäuser privater Wohnungsbau und die Bildung von Einzelhandel und Handwerk ein. Hier etablierte sich parallel zum Marktviertel das Knappenviertel als weitgehend unabhängiges Unterzentrum, denn die geringe Kaufkraft der Arbeiterschaft erforderte kein stark ausdifferenziertes Warenangebot. Nur saisonal, meist zwei Mal im Jahr zu Beginn des Frühjahrs und des Herbstes, machten die Bewohner Anschaffungen – Kleidung und wenig Hausrat – im Geschäftszentrum.71

Ausgehend von den drei Siedlungskernen, wobei das nördliche Bahnhofsumfeld zunehmend an Bedeutung einbüßte, fand eine Integration, ein Zusammenwachsen des städtischen Raumes statt. Wenngleich noch 1938 Werks- und Genossenschaftswohnungsbauten für die GHH-Belegschaft große Baulücken im Westen des Knappenviertels (Bismarck- und Körnerstraße) schlossen,72 gelangte der Integrationsprozess des Raumes in den 1920er Jahren zu einem gewissen Abschluss. Dieser Vorgang vollzog sich als Schwerpunktbildung verschiedener Raumnutzungen, in deren Verlauf sich eine mittelzentrale City mit partiell oberzentralen Funktionen (z. B. für Möbel, Kleidung, aber auch Prostitution am Westrand der City), sozial segregierte Wohngebiete sowie eine ausgedehnte Industrie- und Gewerbezone im nördlichen Drittel der Stadt ausprägten. Das Zusammenwachsen der Stadt ging nicht gleichmäßig vor sich. Die größte Dynamik entfaltete das Geschäftszentrum; bis zur Jahrhundertwende war die nahegelegene südliche Stadtgrenze, die Grenzstraße, überschritten und 1910 konnten die zu Vororten gewandelten Siedlungen Alstaden und Nord-Styrum eingemeindet werden. Bedingt durch die Erbauung des Rathauses östlich des Bahnhofs 1873 dehnte sich der südliche Siedlungskern ebenfalls nach Norden aus, wo als Auftakt zu ▶ sozial segregierten Wohngebieten seit dem Ende der 1870er Jahre das Rathausviertel als Wohnort des gehobenen Bürgertums entstand.

Während der nördliche Siedlungskern (um die Buschhausener Straße) nur langsam in Richtung Lirich an Ausdehnung gewann, vollzog sich bis zum Ersten Weltkrieg eine umfassende wohnräumliche Erschließung des Oberhausener Ostens. Zum einen bildete sich im Norden als direkter Anschluss an die Werksanlagen der GHH das Brücktorviertel. Zum anderen entfaltete sich nach Süden, der stärksten Wachstumsrichtung des östlichen Siedlungskernes, eine aufgelockerte Bebauung in Nord-Dümpten (heute Schlad-Viertel), dem Oberhausen 1862 zugeteilten Wohngebiet von Bergleuten der 1857 abgeteuften Zeche Roland, die selbst jenseits der südöstlichen Stadtgrenze blieb. Diese ehemalige Köttersiedlung am Südrand der Heide wurde großflächig mit Kleinhäusern besetzt, da sich primär hier für die Arbeiterschaft von GHH und Zeche Roland die Möglichkeit eröffnete, Wohneigentum mit Gartenland zu erwerben. Insofern stellte Nord-Dümpten einen vierten, schwach ausgeprägten und weniger eigendynamischen Siedlungskern dar. Auf die bevorzugte Wahl Nord-Dümptens als Wohngebiet der Roland-Bergleute ist zurückzuführen, dass 1910 das nordwestliche Viertel der Gemeinde Dümpten mit der Schachtanlage Roland eingemeindet wurde. Ein ähnlich schwacher fünfter Siedlungskern, dessen Entwicklung vom nördlichen Bahnhofsumfeld und nach 1900 von der Nordwanderung der Zeche Concordia bestimmt wurde, bestand aus der alten Siedlung Lirich.73

Die Industrie- und Eisenbahnbarrieren zwischen südlichem und nördlichem Siedlungskern brachten es mit sich, dass ein Zusammenwachsen des städtischen Raumes in Kaiserreich und Weimarer Republik vornehmlich zwischen dem dreipoligen Zentrum aus Geschäfts-, Rathausviertelund Bahnhofsumfeld sowie dem östlichen Siedlungskern Knappenviertel-Dümpten stattfand. Durch die Schaffung zweier neuer Stadtviertel (Marienviertel, Moltkeviertel) auf fast völlig unbebautem Gelände wurde dieser Prozess seit den 1890er Jahren maßgeblich vom zentralen südlichen Siedlungskern getragen. Dieser Fortschritt bei der Stadtwerdung Oberhausens basierte auf dem sozialen und wirtschaftlichen Wandel der Prosperitätsperiode von 1895 bis 1914, da die überdurchschnittlich wachsenden Gruppen der Angestellten, Beamten und der qualifizierten Arbeiter der Industrie, allen voran der Gutehoffnungshütte, hauptsächlich die Bewohner der neuen Viertel stellten.

Südöstlich des Geschäftszentrums an der Grenze zu Styrum und Dümpten entstand das Moltkeviertel (heute Blücherviertel). Dadurch schloss sich die Bebauung zum Südwesten Oberhausen-Dümptens östlich der Mülheimer Straße. Nördlich des Rathausviertels gestaltete sich in zwei Phasen das Marienviertel zuerst westlich und später östlich der Mülheimerstraße aus. Im westlichen Marienviertel, das an das Rathausviertel mit den dort konzentrierten Kultureinrichtungen der Gesellschaftssäle und höheren Schulen anschloss, ließ sich zwischen 1885 und 1900 mittleres Bürgertum nieder. Dies und das stark anwachsende kleinere Bürgertum riefen dann seit der Jahrhundertwende und in den 1920er Jahren eine Siedlungsverdichtung sowie eine Ostausdehnung des Marienviertels um die Bismarckstraße hervor. Durch die Wachstumsgeschwindigkeit dieses Wohnquartiers, weniger infolge der Westausdehnung des Knappenviertels wie der Nordausdehnung Dümptens, gingen dann erst in der Zwischenkriegszeit die Siedlungen im Umfeld der Falkenstein- und Virchowstraße ineinander über.74

Als Ergänzung und Abgrenzung zu der Bildung von Wohnvierteln konzentrierte sich die Industrie nördlich der Köln-Mindener Eisenbahn und westlich des Bahnhofs nördlich der Duisburger Chaussee, später Straße genannt. Zusätzlich reichte sie in Lirich direkt nördlich des Bahnhofs mit der Zeche Concordia und den Fabriken Vieille Montagne und Rhenania bis an die Eisenbahn heran. Diese Entwicklung wurde durch das im Norden der Stadt vorhandene und gezielt geförderte Angebot an technischer Infrastruktur, wie Straßenbahn, Gleisanschlüsse, Gas und Strom, durch dort verbliebene Freiflächen sowie durch die Expansion schon ansässiger Betriebe stark begünstigt. Darüber hinaus förderte die Kommune die Verdichtung der gewerblichen Zone mit ihrer Flächenpolitik.75 Als Einzelentwicklungen sind die dynamische Expansion der Gutehoffnungshütte im Nordosten zwischen Köln-Mindener Eisenbahn und Emscher, die Nordwanderung der Bergwerksgesellschaft Concordia mit der Abteufung neuer Schächte unmittelbar südlich der Emscher (heute Gewerbegebiet am Eisenhammer) um 1905, die Wachstumsdynamik der Deutsche Babcock-Werke am nordwestlichen Stadtrand sowie die Stilllegung der Styrumer Eisenindustrie südlich des Bahnhofs von zentraler Bedeutung.

 

Abb. 8: Stadtplan 1872 mit Siedlungskernen. 1 –Herrenhäuser; 2 –Buschhausener Str.; 3 –Marktviertel; 4 –Industrieraum Essener Str.; 5 –Industrieraum Bahnhofsviertel

Von großer Bedeutung war auch der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Schon die sogenannte Ruhrorter Umgehungsbahn, die seit 1880 eine Trennung des Güterverkehrs vom Personenverkehr im Bahnhofsbereich herbeiführte, verlagerte Anschlussmöglichkeiten an die Bahn für Industriebetriebe nach Norden. Die Nordverschiebung gewerblicher Standortgunst setzte sich mit der Anlegung des Bahnhofs Oberhausen-West 1902/​03 fort. Dieser reine Güterbahnhof und sein Pendant an der östlichen Stadtgrenze in Borbeck-Frintrop erhöhten die Güterabfertigungskapazität stark, wie sie für das gestiegene Transportaufkommen von GHH und Concordia sowie das neue von Babcock und der Zeche Neumühl im benachbarten Hamborn erforderlich geworden war.76

Seit 1900 wurde jene Entwicklung der Raumstruktur Unternehmern wie Stadtverwaltung bewusst. Folge dessen war eine Nachverdichtung der nördlichen Industriezone mit Klein- und Mittelindustrie. Dieser Vorgang vollzog sich stetig über beide Weltkriege hinweg bis in die Gegenwart. Die Bildung des nördlichen Gewerbe- und Industriegürtels förderte die funktionale Differenzierung des städtischen Raumes, weil meist expandierende Oberhausener Unternehmen bei Vergrößerung der Betriebsgelände verlegt, jedoch weniger auswärtige Betriebe angesiedelt wurden.77 Dies kam vorrangig dem Marien- und Moltkeviertel zugute, wo wenig Gewerbe entstand. Die Innenstadt dagegen wies südlich der Marktstraße einen stabilen Besatz kleinerer Industrieunternehmen auf, womit sich dieser Bereich als Mischgebiet etablierte. Ähnliches gilt für Dümpten, das Knappenviertel und die 1910 eingemeindeten Vororte Unterstyrum und Alstaden.78

Trotz zwischenzeitlich anderslautender städtischer Planungen haben die Südeingemeindungen 1910, wodurch sich das Territorium der Stadt Oberhausen von 1.300 auf gut 2.000 Hektar und damit um rund 50 Prozent vergrößerte, die Raumnutzung nicht grundlegend verändert. Ein 1913 angedachter Gewerbehafen am Alstadener Ruhrufer wurde in den 1920er Jahren sowohl durch die Südverlegung des Schifffahrtsweges auf Mülheimer Stadtgebiet als auch durch Wohn- und Grünflächenplanungen der Stadt obsolet. Die Ansiedlung eines Walzwerkes von Thyssen im Grenzbereich Alstaden/​Unterstyrum am Rechenacker, 1920 konkret angestrebt, gab das Unternehmen nach der Inflation 1925 wegen geringer Wachstumserwartungen auf. Schließlich scheiterte seit 1928 die Planung eines Kleingewerbegebietes an der Zeche Roland im südlichen Dümpten an der Weltwirtschaftskrise.

So wurden die im Süden hinzugewonnenen Gemeindeteile im beginnenden 20. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit vor allem zu Expansionsflächen für den Wohnungsbau. Damit setzte sich ihr in den 1890er Jahren eingeleiteter Vorortstatus fort. Die Nordeingemeindung aus Buschhausen 1909 sowie die Osteingemeindung aus Borbeck 1915 blieben nicht nur hinter den von der Kommunalpolitik angemeldeten Ansprüchen zurück; vielmehr hatten sie im je realisierten Umfang nur noch die Funktion der Arrondierung der nördlichen Oberhausener Gewerbezone. Die wichtigste Konsequenz aus der gescheiterten Eingemeindung ganz Buschhausens auch nördlich des neuen Rhein-Herne-Kanals bestand in der Verhinderung eines neuen Oberhausener Gewerbegebietes mit Kanalhafen. Die das Flächenwachstum der GHH nachvollziehende Osteingemeindung von 1915 brachte zwei Wohnenklaven nördlich der Industriezone mit sich, welche als Werkssiedlungen „Neu-Oberhausen“ und „Dellwig“ der Gutehoffnungshütte ansatzweise mit sozialer Infrastruktur des Unternehmens ausgestattet waren.79

Neben dem Wohnen und dem sekundären, produzierenden Sektor verdienen zwei weitere Raumnutzungen Beachtung: die Citybildung und die Grünflächen. Mit dem bei Aufteilung der Lirich-Lipperner Gemeinheit 1865 über das gesamte Gemeindegebiet gezogenen Straßen- und Wegenetz war die Grundlage für eine flächendeckende lockere Bebauung geschaffen worden. Die Gemeinde aber hatte sich kaum Landreserven über ihre direkt absehbaren Gebäudebedarfe hinaus sichern können, da der finanzielle Handlungsrahmen eng war. Durch das geringe Gemeindevermögen und einen unbedeutenden kommunalen Grundbesitz blieb Grünflächenpolitik im 19. Jahrhundert lange vages Fernziel. Erst 1904 kaufte die Stadt am westlichen Rathaushang den Garten des verstorbenen Industriellen Grillo als kleinen öffentlichen Park. Im Rathausviertel kam der „Grillopark“ vorrangig dem gehobenen Oberhausener Bürgertum zugute und hob dort die Wohnqualität.

Vermittelt über den Bürgerschützenverein, dessen Schießstand im Wäldchen des Grafen Westerholt am Schloss Oberhausen lag, nutzte die Stadt 1897 die Gelegenheit, eine ausgedehnte Grünfläche zu erwerben, die dann zum 28 Hektar großen Volkspark „Kaisergarten“ ausgestaltet wurde. Obgleich durch die Köln-Mindener Eisenbahn und den Schlackenberg der Gutehoffnungshütte (heute Gewerbepark Am Kaisergarten) von der Wohnbebauung getrennt, nahm die Bevölkerung angesichts des Mangels an Erholungsgebieten in der Stadt diesen Park sehr gut an. Die kommunal mächtigen Gruppen des Oberhausener Wirtschafts- und Bildungsbürgertums begriffen den Volkspark neben seinem Wert für die Erholung der körperlich schwer arbeitenden Arbeiterschaft zugleich als Mittel zur Eingliederung der Arbeiter in den Obrigkeitsstaat und die Klassengesellschaft des deutschen Kaiserreiches. Im Kaisergarten wurden zahlreiche Volksfeste veranstaltet, deren bürgerliche Formen von Ausgelassenheit und Geselligkeit eine „sittliche“ Wirkung auf die Arbeiterbevölkerung ausüben sollten. Dem diente eine Polizeiordnung, die das Betreten der Rasenfläche nicht gestattete. Dennoch war es erlaubt, im Kaisergarten zu reiten, was ein deutliches Privileg der bürgerlichen Gesellschaft darstellte. Dem Kaisergarten kamen überdies ▶ sozial segregative Aspekte zu. Die langen Arbeitszeiten ermöglichten der Arbeiterschaft lediglich an Wochenenden und Festtagen einen Besuch, während das gehobene Bürgertum mit Spielräumen bei der Gestaltung der Tagesarbeitszeit wie der Wahl der Verkehrsmittel – von der Kutsche bis zur nicht ganz preiswerten Straßenbahn – den Kaisergarten auch in der Woche aufsuchen konnte. Anschließend legte die GHH zwischen 1911 und 1923 nördlich ihres Walzwerkes Oberhausen und direkt am Kaisergarten für die mittleren und höheren Manager die Beamtensiedlung Grafenbusch an.80

Schließlich nahm die Stadt Oberhausen zwischen 1920 und 1923, auf Planungen seit 1913 zurückgehend, die Anlage des „Ruhrparks“ im Süden Alstadens vor. In einem gewandelten politischen Klima – die Mehrheitsverhältnisse hatten sich inzwischen zu Zentrum und Sozialdemokratie qualitativ verschoben – beinhaltete die Ruhrparkgestaltung keine sozialdisziplinierenden Ansätze mehr. Wenngleich mit 14 Hektar nur halb so groß wie der Kaisergarten wurde damit für die südlich des Zentrums gelegenen Wohnviertel ein attraktives Erholungsgebiet geschaffen, zumal der Ruhrpark unmittelbar an die Ruhraue und diese an den Speldorf-Duisburger Wald angrenzte.81


Abb. 9: Erster Stadtplan Alt-Oberhausens aus dem Jahr 1859 (nicht genordet)

Ein Zusammenwachsen der Besiedlung, jedoch mit getrennten Nutzungsschwerpunkten, von Planern und Stadtsoziologen funktionale Differenzierung genannt, kennzeichnete die Oberhausener Citybildung. Die Verdrängung der Industrie aus dem östlichen und südlichen Bahnhofsvorfeld schuf die verbindenden Räume zwischen den drei Polen der Oberhausener City. Aufgrund der Concordiasee-Katastrophe, als zwischen 1870 und 1872 durch Bergsenkungen nordöstlich des Bahnhofs auf einer Fläche von bis zu sieben Hektar und zwei bis drei Meter tief Grundwasser an die Erdoberfläche trat, verlegte der Zinkhüttenfabrikant Grillo seine Betriebe ins Gebiet südlich des Rathauses. Dadurch ergab sich die später realisierte Möglichkeit, sowohl eine bauliche Verbindung vom Rathaus zum Bahnhof zu schaffen als auch das Rathausviertel mit einem Grünstreifen an die Bahnhofsvorplatzbebauung heranzuführen. Im Süden des Bahnhofs stellte die Liquidation der Styrumer Eisenindustrie 1903 sowie eines an diese angrenzenden mittelständischen Walzwerkes 1906 einen städtebaulichen Glücksfall dar. So konnte ein 350 mal 200 Meter umfassender Raum zwischen Geschäftsviertel und Bahnanlagen für tertiäre Nutzungen und für Wohnen erschlossen werden. Mit Hilfe der gewonnenen Gestaltungsspielräume zwischen Amtsgericht und Helmholtzstraße gelang Oberhausen dann in den 1920er Jahren eine großstädtische Citybildung.82


Abb. 10: Styrumer Eisen-Industrie 1889 (heute: Friedensplatz)


Abb. 11: Oberhausener Glasfabrik 1898, Duisburgerstaße

Die Geburtsstunde der Gemeindeverwaltung

Der Abbau administrativer und infrastruktureller Defizite des Oberhausener Raumes erforderte die Einrichtung einer arbeitsfähigen Gemeindeverwaltung. Die komplette Infrastruktur musste, von Ansätzen der Industrie abgesehen, geschaffen oder ihre Entwicklung ermöglicht werden. Orientierung für eine geordnete Gemeindeentwicklung und Wirtschaftstätigkeit fanden die Handlungsträger in den Produktionsfaktoren als harte Standortfaktoren: Boden, Kapital und Arbeit.

Als „Premierleutnant“ Kreissekretär Friedrich Schwartz am 1. Februar 1862 seinen Dienst als Bürgermeister von Oberhausen aufnahm, galt es, eine Gemeinde erst einmal zu schaffen. Das geschah mit der Wahl der Gemeindeverordneten und dem Bezug gemieteter Amtsräume am Marktplatz. Die Themen der ersten Gemeinderatssitzung vom 23. April 1862 spiegeln die dringendsten Gemeindeaufgaben wieder. Nach dem Antrag zur Einführung kommunaler Steuern beschäftigten sich die Gemeindeverordneten mit dem Bau eines Arresthauses, das der Bürgermeister verlangte. Das Erfordernis nach effektiver Ausübung gemeindlicher Polizeifunktionen erkannte die Versammlung an und stellte 700 Taler bereit. Ein weitergehendes Vorhaben, ein Gemeindehaus mit zwei Wohnungen für Bürgermeister und Polizeidiener zu errichten, „scheiterte am Widerspruch des Gemeinderates Wilhelm Lueg, der auf die Belastung der jungen Gemeinde hinwies.“83 Schlaglichtartig manifestierten sich Macht und Gründe der JHH für die Bildung Oberhausens. So effizient – engagiert und billig – wie möglich sollte die neue Gemeindeverwaltung arbeiten. Da man den Großteil der Abgabenlast trug, erhob Lueg für die JHH Anspruch auf eine Gestaltung der Richtlinien von Kommunalpolitik, die der Maxime „Gewährleistung der öffentlichen Ordnung“ folgten. Hoheits- statt Leistungsverwaltung war gewünscht und wurde gefordert.

Der Bürgermeister stand unter Druck, sich mittels Leistung ein Stück weit von der Omnipotenz der Schwerindustrie zu befreien, sofern er mit gestalten wollte. Daraus resultierte ein Dilemma. Anerkennung konnte Schwartz nur mit einer überzeugenden Verwaltungsarbeit erzielen, die zu großen Teilen in Dienstleistungen für die Wirtschaft bestand. In seinem Ehrgeiz als Kommunalbeamter aber strebte er an, den Gemeindeverordneten ein Minimum an Politik zur Gemeindeentwicklung abzutrotzen, was unumgänglich Geld kostete und so wirtschaftsbürgerlichen Interessen widersprach. Schwartz begann, den Widerspruch aufzulösen, indem er im engen Austausch mit den Gemeindeverordneten eine leistungsstarke Verwaltung leitete. Im Gegenzug setzte er sich mit viel Überzeugungskraft, langem Atem und vielfach sanftem Druck für städtische Standards ein. Der Bürgermeister argumentierte mit den Notwendigkeiten einer guten Entwicklung von Gemeinde und Wirtschaft. Er bezog sich stets auf eine sozial stabile Gemeinde als Voraussetzung industriellen und demographischen Wachstums, aber ebenso erinnerte und ermahnte er das Bürgertum an dessen eigene urbane Bedürfnisse, wie etwa höhere Schulen.

 

Unumgänglich war der Wege- und Straßenbau, ohne den weder Grundstücke zum Gewerbe- noch zum Wohnungsbau erschlossen werden konnten. Überdies erforderte der schnell ansteigende Fuhrwerksverkehr vor allem zu mittleren Industrieunternehmen und Märkten geregelte Straßenverhältnisse. Da es fast keine kommunalen Wege in Oberhausen gab, verknüpfte sich die Problematik des Wegebaus mit der 1843 eingeleiteten, aber noch ausstehenden Teilung der Lirich-Lipperner ▶ Gemeinheit, deren Feldwege den einzigen Wegebestand der Gemeinde ausmachten. Diese beiden Aufgabenstellungen waren für die Bürgermeisterei 1862 die größte Herausforderung.

Gleichzeitig sollten Voraussetzungen für städtisches und industrielles Wachstum geschaffen werden, wozu ein städtebaulich geordnetes Fortschreiten der Bebauung ebenso erforderlich war wie die Möglichkeit zu umfassendem Arbeiterwohnungsbau durch die Werke, vor allem aber durch private Investoren. So stellte die kommunalpolitische Umsetzung von Gemeinheitsteilung und Wegebau im gesamten Gebiet der Bürgermeisterei eine Verbindung der Ziele dar, eine Stadt zu werden, Arbeiter unterzubringen und darüber im Wohnungsbau rentable Investitionen zu ermöglichen.84

Die Gemeinde Oberhausen fand bei ihrer Gründung eine nur rudimentäre Raumerschließung vor. Von Bedeutung waren die Gemeinheitsteilungen der Lipperheide in Alstaden, Styrum und Dümpten sowie der Verkauf eines größeren Heideareals um den Bahnhof durch die Liricher Gemeinheitsberechtigten Anfang der 1850er Jahre. Hinzu kam der Bau weniger Straßen durch Industrieunternehmen und die Köln-Mindener Eisenbahn. Die Ausgangslage für die Stadtbildung lässt sich somit als ungleichmäßige Verteilung von Startchancen bestimmen. Nordwestlich des Bahnhofs zwischen Concordia- und Friedrichstraße (Buschhausener Straße) lag durch die Unternehmen Concordia, Vieille Montagne, Hasenclever und Eisenbahn die beste Straßenerschließung vor. Zugleich beeinträchtigte die Industriedichte dort aber die Stadtplanungsmöglichkeiten. Südlich des Bahnhofs war die Heide in klein parzellierten Privatbesitz überführt worden; dessen Erschließung vollzog sich über schmale Feldwege, die jede Parzelle umschlossen. Die JHH hatte um die Essener Chaussee und im Südosten Lipperns mit der Siedlung „Herrenhäuser“ einige Straßen angelegt. Die großräumigen Heideflächen in markgenossenschaftlichem Gemeinheitseigentum zwischen Bahnhof und JHH südlich der Köln-Mindener Eisenbahn wiesen kaum Wegeerschließung und einen zeitlichen Rückstand für die Stadtentwicklung auf.85

Bürgermeister Schwartz ging kurz nach der Gemeindegründung die verzahnten Problemkreise Gemeinheitsteilung und Straßenbau an. 1863 beauftragten er und Landrat Kessler den Geometer Bestgen mit der Aufstellung eines Straßenplans. Bestgen legte 1864 für den weiteren Innenstadtbereich zwischen Duisburger und Mülheimer Chaussee den Entwurf eines rechteckigen Rasters vor, das in den ehemaligen Gebietsteilen Alstadens und Styrums sehr engmaschig ausfiel. Das gestattete einen reibungslosen Fortschritt der eingeleiteten Bebauung und wertete ausnahmslos alle Einzelflächen auf, da diese als Straßenblocks zugleich Baublocks mit der Möglichkeit zur Blockrandbebauung wurden. Den beiden vorrangigen Zielen, dem Arbeiterwohnungsbau sowie der Gewährleistung rentabler Bodenverwertungsmöglichkeiten, hatte die Gemeindepolitik damit Rechnung getragen. Jedoch ließen sich Geometer und Bürgermeister städtebaulich auf einen faulen Kompromiss ein, indem sie insbesondere im Umfeld des entstehenden Geschäftsviertels am Altmarkt Baublöcke mit so geringer Tiefe schufen, dass bei Zweigeschossigkeit oft nur eine der Längsseiten bebaut werden konnte.86 Das bedeutete eine Zurückstellung der Stadtentwicklung hinter materielle Interessen der Grundbesitzer. Die ökonomische Verschwendung baureifen Bodens durch all zu viele, engmaschige Straßen fiel nämlich wegen der gewerblichen Nutzung rückwärtiger Grundstücksteile als Flachbauten oder Fuhrwerkszufahrten vergleichsweise gering aus.87 Jedoch ergab sich für die Schaffung eines urbanen Geschäftsviertels mit großzügig bemessenen Baublocks ein gravierender städtebaulicher Nachteil. Ursächlich für diese Weichenstellung im Verstädterungsprozess waren die starke Position der Grundbesitzer und die Strategie des Bürgermeisters zur Konfliktvermeidung.


Abb. 12: Alternativen zur Herausbildung eines Stadtkerns (nach Seipp)

Schwartz steuerte die Integration der alten Grundbesitzerschicht in die neue Gemeinde an. Dazu wählte er als wichtigste Instrumente die Versöhnung der vormaligen Agrarier mit der Stadtwerdung über hohe Bodenwertsteigerungen sowie die Formung eines Oberhausen-Bewusstseins. Weil Schwartz dafür die Ortschaftsbezeichnungen Lirich und Lippern aufhob und dies auf die Ablehnung vieler Eingesessener stieß, musste er Zugeständnisse machen. Dabei erscheint die Straßenplanung als vom Bürgermeister bereitwillig eingegangenes Kompensationsgeschäft.88 Obwohl die Grundbesitzer zu Profiteuren der Stadtentwicklung wurden, leisteten sie wegen ihrer Traditionsverbundenheit in einem schmerzhaften Lernprozess oft Widerstand gegen Infrastrukturpolitik.89

Der Straßenplan des Geometers wich im Bereich der alten bäuerlichen Siedlungen Lirich und Lippern sowie im nördlichen Dümpten, vor allem jenseits von Mülheimer- und Grenzstraße, vom rechteckigen Straßenmuster ab. Das resultierte aus der Durchsetzungsstärke der Grundbesitzer, aber gleichfalls aus der Zielperspektive des Bürgermeisters. Diese beinhaltete noch 1867 – in Orientierung am Modell der alten Bürgerstadt – eine Unterscheidung zwischen Stadt und Feldmark, in der auch bäuerliche Raumnutzungen akzeptiert wurden. Demnach beschränkte sich die Urbanisierungserwartung der Kommune noch auf ein Drittel des Gemeindegebietes (zwischen Mülheimer Straße, Duisburger Straße und Grenzstraße), so dass die Vereinbarkeit von Industrie, Stadt und Landwirtschaft vorübergehend möglich schien. Doch schon 1869 teilte Bestgen das gesamte Gemeindegebiet jenseits der Chausseen in ein zwar grobmaschiges, aber ebenfalls rechteckiges Straßennetz ein, womit die gesamte Bürgermeisterei für städtische Bodennutzungen erschlossen wurde.90 Dies ermöglichte ungehinderten Wohnungsbau. Hier trafen sich die Interessen der JHH mit denen der Lipperner Gemeinheitsberechtigten, die über Immobilienbesitz östlich der Mülheimer Chaussee auch außerhalb der Innenstadt an der Stadtwerdung partizipieren wollten.

Nach dem Teilungsbeschluss von 1865 wurde die Privatisierung der vormals gemeinschaftlich genutzten Heidefläche in zwei Teilungs- und Versteigerungsverfahren 1865 und 1867/​69 vollzogen.91 Die Lage der Heidestreifen, die der Einzelne erhielt, bestimmte wie bei Gemeinheitsteilungen üblich das Los. Dieses Verfahren verstetigte das Gewicht der Eingesessenen als Grundbesitzer, wobei neben den Liricher und Lipperner Ansässigen einige Eigentümer der früher geteilten Heidestreifen Alstadens, Styrums und Dümptens große Flächen erwarben. Diesen kam der Entwicklungsvorsprung der südlichen Gemeindeteile in Bahnhofsnähe über schon realisierte Wertsteigerungen des Bodens zugute.

Industrie und Eisenbahn hatten beim Einsetzen der Industrialisierung leicht Flächen aus markengenossenschaftlichem Besitz abkaufen können, da sie für den scheinbar wertlosen Heidegrund hohe Preise zahlten. Im Rahmen der Versteigerungen engagierten sich die Großunternehmen ebenfalls stark. Die JHH begründete ihren umfassenden Bodenbesitz im Nordosten der Stadt, Concordia erwarb Reserveflächen nördlich ihrer Betriebsgelände. Allerdings übte die Industrie auffällige Zurückhaltung beim Erwerb innenstadtnaher Bauareale. Auf diese Weise gestaltete die Industrie die Integration der agrarischen Grundbesitzer in die städtische Gesellschaft aktiv mit. Im Sinne einer Arbeitsteilung von Aufgaben wie Profiten überließ die industrielle Elite der agrarischen Oberschicht die City und den mehrgeschossigen Mietwohnungsbau. Dabei vermitteln die Ratsprotokolle den Eindruck einer bewussten Entscheidung seitens des Industriebürgertums.92 Das begünstigte längerfristig die Verschmelzung der ökonomischen Interessen von Industrie und Grundbesitz in einem komplementären Stadtentwicklungsentwurf, da somit beide Gruppen ökonomische Interessen an der Stadtentwicklung entfalteten.

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