Peterchens Mondfahrt - Peter Sloterdijk, die Religion und die Theologie

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Sari: Fragen der Zeit #12
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Achilles

Die Moderne ging aufs Ganze, und das Ganze war ihr Projekt140: die Geschichte bzw. der Fortschritt der Menschheit, das Reich der Freiheit, die klassenlose Gesellschaft etc. Die Moderne warf sich nach vorn und unterstellte die Zukunft der Projektform: Zukunft als planvolles Vorhaben der zielgerichtet, zweckvoll handelnden Menschheit.

„Beflügelt von einem geschichtemachenden Gemisch aus Optimismus und Aggressivität, hat sie die Herstellung einer Welt in Aussicht gestellt, in der es kommt, wie man denkt, weil man kann, was man will, und den Willen hat, zu lernen, was man noch nicht kann. Es ist der Wille zur Macht des Selberkönnens, der in moderner Zeit den Weltlauflaufen macht.“141

Nach der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts müssen wir gestehen: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt; wir handeln, also geschieht es. Lineare Erzeugungsphantasien scheitern an komplexen Systemen.142 Und sie forderten Opfer, jene Wissenschafts-, Technik- und Sozialutopien der Moderne, die die Menschheit zum handelnden Subjekt hatten und dem Menschen die Macht über sein Dasein und der Menschheit eine Perspektive geben wollten. Im Angesicht der Trümmer der Geschichte enthüllte sich diese Perspektive bestenfalls als optische Täuschung, als „quasi-pathologische“ Sehstörung143: Selbsternannte Heilssubjekte traten im Namen der Menschheit, im Namen des Allgemeinwohls auf – und erhoben, bewusst oder unbewusst, doch bloß ihre eigene partikulare Perspektive zum Absoluten. Übersehen wurden dabei die Opfer, schlimmstenfalls wurden sie bewusst in Kauf genommen. Im Allgemeinen ist seither Misstrauen geboten. Argwöhnisch beäugt wird jede Philosophie und jede politische Vision, die aufs Ganze geht. Dahinter „vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma der Umfassung der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen. Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen“144, „Vive la différence“ – mit diesen Wahlsprüchen wird nun „das Singuläre, Differente und Plurale gegen den potenziell totalitären Zugriff des Universalen, Identischen und Singularen“145 verteidigt. Das Postulat radikaler Pluralität „als zuinnerst positiver Vision“ wird allen unbedingten Geltungsansprüchen als der „illegitimen Erhebung eines in Wahrheit Partikularen zum vermeintlich Absoluten“ entgegengesetzt.146 „Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural“147 – um der Menschheit, um der Menschlichkeit willen, aus einem zutiefst ethischen Impetus heraus, der freilich selbst noch von den Idealen der Moderne zehrt. Dieses Postulat radikaler Pluralität ist klar zu unterscheiden vom Pluralismus einer „geläufigen und gefälligen Oberflächen-Buntheit“148. Und doch – wider Willen – in seiner Dynamik und in seinen Konsequenzen unterschätzt. „Unsere Gegenwart ist […] ein spätmoderner Kampfplatz stahlharter Vielheiten im Sinne Max Webers […] : ‚[Die] verschiedenen Wertordnungen der Welt [stehen] in unlöslichem Kampf untereinander […]. Die alten […] Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern […] und beginnen […] wieder ihren ewigen Kampf.‘“149 Zugleich stehen wir in dieser Welt partikularer Interessen und umkämpfter Ressourcen vor globalen Problemen. Globale Probleme aber erfordern globale Lösungen. Regionale bzw. lokale Lösungsansätze erweisen sich immer wieder als unzureichend. Doch, historisch wie philosophisch gebildet, verweigern wir uns aus Erfahrung umfassenden Konzepten. Nach der Selbstbesinnung der Moderne kreuzen sich misstrauische Epoché, zynisches Weiter-so und kynische Entsagung, die die ‚Projekte‘ verwarf150– und stoßen uns in einen Abgrund ohnmächtiger Lähmung bei allem, was individuell-pragmatische Lebensziele oder die Zwecke konkurrierender Rackets151 übersteigt: Vernunft verkleinert „aufs Format der Privatvernunft im Dienst an Individual-, Gruppen- und Systemegoismen.“152 Auch Peter Sloterdijk hat in seinem Essay Zorn und Zeit diese Gemengelage im Blick:

„Inzwischen haben die ‚Vielheiten‘, die Ausdifferenzierungen, die Singularitäten so viel Zulauf, daß bei ihren Trägern sogar das Bewußtsein der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer einzigen ‚Menschheit‘ in Vergessenheit geraten könnte. […] Sogar die negative Utopie, die Erwartung einer weltweiten Naturkatastrophe ist außerstande, einen übergreifenden Horizont verbindlicher Aufbrüche zu stiften. Der Geist der Desolidarisierung, privat, lokal, national, multinational, imperial, reicht so tief, daß jede Einheit auf ihre Weise die eigene Verschonung für gewiß halten möchte, sollten auch die übrigen vom Mahlstrom verschlungen werden. Wie gefahrenträchtig die multi-egoistische Lage ist, werden die kommenden Jahrzehnte zeigen. Gehörte es zu den Lektionen des 20. Jahrhunderts, daß Universalismus von oben scheitert, könnte es zum Stigma des 21. Jahrhunderts werden, die rechtzeitige Ausbildung des Sinns für gemeinsame Situationen von unten nicht rechtzeitig zu schaffen.“153

Die Chancen stehen schlecht. Die geschilderte Gemengelage blockiert bereits im Ansatz theoretisch jeden Aufbruch, der praktisch ohnehin stets schwierig war. Nach dem Verlust des transzendenten Heils erweist sich das erhoffte immanente als nicht organisierbar und der Versuch, in einem emphatischen Handlungssinn Geschichte zu machen, als Illusion. Adressaten- und ziellos, theorie- und politiklos bleiben jene zurück, die das Schlechte sehen, aber einem vorgeblich Besseren nicht mehr folgen, geschweige denn eines erkennen können. Perspektivlos bleiben auch jene Erniedrigten und Beleidigten, denen einst die großen Erzählungen durchaus Hoffnung boten. Insofern ließe sich mit Sloterdijks „imaginärem Dialog mit Francis Fukuyamas Buch The End of History and the Last Man154 konstatieren:

„Wir sind in eine Ära ohne Zornsammelstellen mit Weltperspektive eingetreten. Weder im Himmel noch auf der Erde weiß man mit der ‚gerechten Wut des Volkes‘ noch etwas Rechtes anzufangen. […] Die vagabundierenden Dissidenzquanten scheinen nicht mehr zu wissen, ob sie noch eine Aufgabe haben. […] Die Empörung hat keine Weltidee mehr vorzuweisen.“155

„Am Anfang war das Wort ‚Zorn‘“156 – und die Tat, die Tat des Einzelnen, des Heros. Am Anfang der europäischen Literaturgeschichte war Achill. Ist er auch ein Modell nach dem „Ende der Geschichte“?

„Für die Alten war der Heroismus keine feinsinnige Attitüde, sondern die vitalste aller möglichen Stellungnahmen zu den Tatsachen des Lebens. In ihren Augen hätte eine Welt ohne Heldenerscheinungen das Nichts bedeutet […]. Der Heros […] liefert den Beweis, daß auch von menschlicher Seite her Taten und Werke möglich sind, sofern göttliche Begünstigungen sie zulassen – und allein als Tatentäter und Werkvollbringer werden die frühen Heroen gefeiert. Ihre Taten zeugen für das Wertvollste, was die Sterblichen, damals wie später, erfahren können: daß eine Lichtung aus Nicht-Ohnmacht und Nicht-Gleichgültigkeit in das Dickicht der naturwüchsigen Begebungen geschlagen worden ist. In Berichten von Taten leuchtet die erste gute Nachricht auf: Unter der Sonne ereignet sich mehr als das Gleichgültige und Immergleiche.“157

Achill ist kein Freund der Mittellagen und sicher kein ‚Schirmherr des Gewöhnlichen‘. Er „bewegt sich in einer von einem glücklichen Bellizismus ohne Grenzen erfüllten Welt“158, er „fährt in die Welt wie die Kugel in die Schlacht“159, „damit die Welt durch Neues und Rühmenswertes erweitert werde.“160 Achill steht für die Einheit von Wille und Tat, von Sinn und Zweck, menschlichem Antrieb und höheren Kräften, „die Konvergenz von Explosion und Wahrheit“161, für „die totale Expressivität“162, die „Identität des Menschen mit seinen treibenden Kräften“163, das „Einswerden mit dem puren Antrieb“164, „die Utopie des motivierten Lebens“165 in einer erfüllten Gegenwart166. Was für uns heutige, für die Alltagsmenschen unerreichbar ist, schickt sich ihm zu: Evidenz.167 Hier ist kein Platz für Zweifel, Zögern, Zagen: „Man versteht sofort, warum in solchen Augenblicken von zweiten Stimmen wenig zu hören ist.“168 Achill ist das Sehnsuchtsbild für alle, die der Sinnlosigkeit des Daseins, der angekränkelten Reflexivität, der Aufgabe der Begründung, der Diskussion eigener Grundsätze und fundamentaler Prinzipien entfliehen mögen, die „spüren, dass Diskussion nicht an sich gut ist, sondern allenfalls ein Zweitbestes. Wer sie nötig hat, dem fehlt das Beste: die sich von selbst verstehende Gewissheit, das wortlose Einverständnis. Und wer sehnte sich nicht danach?“169

Vielleicht, ja wahrscheinlich sehnten sich danach auch jene 19 Männer, die am 11. September 2001, bewaffnet mit Teppichmessern, eine Weltmacht herausforderten und in einen Zugzwang setzten, der die politische Weltlage bis heute bestimmt.170 Mehr noch, mit einer Formulierung Christoph Türckes: Sie suggerierten, dies Ersehnte zu haben.171 Kein Zweifel: Das Tun jener Männer war geschichtsmächtig. Aber haben sie wahrhaftig Taten vollbracht und Geschichte gemacht? Oder handelt es sich in einem fundamentalen Sinne um Untaten?

Im 21. Jahrhundert wüten die Menschen gegen die selbstverschuldete Ohnmacht, verschärft sich die aufgezeigte Dialektik von Selbstermächtigung und Ohnmacht. Wer wütet, verdrängt, was Kritik und Denken ihm angetan haben.172 Unterdrückt wird, was sich eigentlich nicht mehr unterdrücken lässt: Zweifel, die Zersplitterung unseres Daseins, das Dröhnen zweiter, dritter, vierter Stimmen, Reflexivität und Ambiguität. Eben deshalb mag der Terror sein Tun nicht überleben. Er fürchtet sich vor der Stille nach dem Knall. In ihrem Äther schwirren die Stimmen, die die Explosion übertönte. Das Martyrium als Selbstmordattentat ersetzt den Sinn, der in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts verloren ging. Es zeugt vom Willen zum Untergang. Selbstmächtigkeit wird beschworen in ihrer letzten Preisgabe. Die Beschwörung der Evidenz und des machtvollen Agierens trägt aktiv nihilistische Untertöne – nicht nur beim nihilistischen Terror, der sich in das Gewand des Glaubens hüllt. Sie fanden sich in George W. Bushs apokalyptischer Endzeitrhetorik ebenso, wie sie aktuelle postdemokratische Prozesse prägen. Das Tun wird zum Selbstzweck und seine Macht beschworen, wo das Handeln zu einem Zweck unmöglich wurde.173 Nicht die Geschichte ist am Ende, aber offenbar die Hoffnung der Moderne, sie planvoll, gezielt gestalten zu können. Während seit der Neuzeit der Glaube verdampft, einen transzendenten Sinn aus der Geschichte herauslesen zu können, scheitert auch der Versuch der Moderne, einen Sinn in sie hineinzulegen. Das

 

„Auftauchen des Terrorismus […] darf gerade nicht als Indiz für eine ‚Rückkehr‘ der Geschichte verstanden werden. […] Insbesondere der sogenannte globale Terrorismus ist ein durch und durch posthistorisches Phänomen. Seine Zeit bricht an, wenn sich der Zorn der Ausgeschlossenen mit der Infotainmentindustrie der Eingeschlossenen zu einem Gewalttheatersystem für letzte Menschen verbindet. Diesem Terrortrieb einen geschichtlichen Sinn andichten zu wollen wäre ein makabrer Mißbrauch erschöpfter Sprachreserven.“174

Achill gibt es für uns nur noch, wie ihn Wolfang Petersens Film Troja erahnen lässt: als todessüchtigen Nihilisten175, dessen Tun in eins fällt mit seinem Untergang und dessen letzte Sehnsucht es ist, dass sein Name eine Zeit lang überdauert176. Mit Petersens Agamemnon: „The man wants to die.“

Sisyphos

„Eine Welt, die man – selbst mit schlechten Gründen – erklären kann, ist eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd. Aus diesem Exil gibt es keine Rückkehr, da es der Erinnerungen an eine verlorene Heimat oder der Hoffnung auf ein gelobtes Land beraubt ist. Diese Entzweiung zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Handelnden und seinem Rahmen, genau das ist das Gefühl der Absurdität.“177

Die metaphysische Revolte hat die Anker gelichtet, die Trossen zur alten Welt des Sinns gelöst. Sie mochte den Himmel entleeren, ja, jeden Gedanken an eine ‚Hinterwelt‘ untersagen, um die Bedingungen des Lebens in die eigene Hand zu bekommen178, wollte sich der Abhängigkeit entwinden, um „aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit [zu machen]“179. „Wo Gott tot ist, bleiben die Menschen übrig, d. h. die Geschichte, die es zu verstehen und zu machen gilt.“180 Auf sich allein ge stellt, galt es, sie mit allen Mitteln zu machen.181 „Mordtaten ohne Zahl“182 waren die Folge der historisch-gesellschaftlichen Exekutionen der metaphysischen Revolte. Von ihr werden wir „fortan nur den moralischen Nihilismus und den Willen zur Macht zurückbehalten.“183 Wir haben uns unser Schicksal bereitet.184 Es erwuchs aus unseren Handlungen – und ist uns doch transzendent. Wir leben in einem Zustand aufgeklärter Unaufklärbarkeit, im Wissen transparenter Opakheit, in der Entzweiung von Sinn und Zweck, Wissen und Tun, Tun und Ergehen, von dem, was wir tun, und dem, was geschieht.

„Das Reich der Gnade ist besiegt, aber dasjenige der Gerechtigkeit fällt auch zusammen. Europa stirbt an dieser Enttäuschung.“185 Und es glaubt „nicht mehr an das, was ist, an die Welt und den lebendigen Menschen; das Geheimnis Europas ist, daß es das Leben nicht mehr liebt.“186 Und „die Opfer sind in die schlimmste aller Mißgunst gefallen: sie langweilen.“187

Wir sind des Lichts, aber auch der Illusionen beraubt. Wir sind im Exil, uns bleibt nur das Meer. Was bleibt? Kynische Entsagung? Zynisches Weiter-so? Dionysische Betäubung? Der Zornrausch des Achill? – „Das ist der äußerste Nihilismus: der blinde, wütende Mord wird eine Oase“188. Vielleicht gibt es fürwahr „nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord“189 – nicht nur als Achills wütender Wille zum Untergang, nicht nur als Sturz ins Schwert mit philosophischer Geste. Nein, mit philosophischer Geste stürzte sich Cato in sein Schwert, wir bleiben einfach an Bord190, machen weiter wie bisher und gestehen, dass wir mit dem Leben nicht fertig werden, und verstehen, dass wir es nicht verstehen.191 Wir weben das Segeltuch, wir haben vergebens gehofft und geharrt, wir rudern die Ruder, wir wälzen den Stein, wir weben, wir leben. Können wir uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen? Albert Camus steht ein für eine von überspannten Erwartungen befreite, höchst achtbare nüchterne Ethik; sein Held Sisyphos für eine Haltung, die ihre Größe dadurch gewinnt, dass sie sich nicht um die Hoffnung sorgt, sondern darum, „jede Ausflucht zu vermeiden.“192 Dionysische Betäubung, den Rausch des Achill durchschaute er als unlautere Verdrängungen, als Dasein ohne Folgerichtigkeit. Sisyphos „kennt das ganze Ausmaß seiner elenden conditio“193, er weiß um die „Sehnsucht nach Einheit“, das „Verlangen nach Absolutem“ als der „wesentliche[n] Triebkraft des menschlichen Daseins“194, die „unsagbare Marter […], bei der sein ganzes Sein sich abmüht, ohne etwas zu vollenden.“195 Doch er hält sich an das, was ist. Er hasst den Tod, verachtet die Götter196; sein leidenschaftlicher Lebenswille verbündet sich, der Ewigkeit beraubt, mit der Zeit und spricht: ich „will weder Sehnsucht noch Bitternis auf meine Rechnung setzen lassen, ich will nur klarsehen.“197 Wenn es einmal erlaubt ist, Camus’ Mensch in der Revolte und den Mythos von Sisyphos kommentarlos zusammenzuziehen: Sisyphos verweigert sich der „unmenschlichen Maßlosigkeit“198, weigert sich, „um Mensch zu sein, […] Gott zu sein.“199 Er entscheidet sich „für Ithaka, die treue Erde, das kühne und nüchterne Denken, die klare Tat, die Großzügigkeit des wissenden Menschen“200 – wohlwissend: „Leiden und Ungerechtigkeit werden bleiben und, wie begrenzt auch immer, nie aufhören, der Skandal zu sein.“201 Er ist sich bewusst: „Das Absurde klärt mich über diesen Punkt auf: es gibt kein Morgen. Das ist von nun an der Grund meiner tiefen Freiheit.“202 Nach Petersens Achill (im Gespräch mit Briseis) hätte er den Neid der Götter.

„Die Klarsichtigkeit, die Ursache seiner Qual sein sollte, vollendet zugleich seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann. […] Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. […] Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf.“203

72 Jahre danach fragt der Mensch beim Betrachten der „Reihe unzusammenhängender Handlungen, die sein Schicksal werden, als von ihm geschaffen, […] überzeugt vom ganz und gar menschlichen Ursprung alles Menschlichen,“204 ob wir uns Sisyphos noch als glücklichen Menschen vorstellen können. Auch Sisyphos kann der Verstrickung in die Schuldgeschichte der Menschheit nicht entgehen. Kann er dem Zynismus entgehen? Wo immer Menschen den Stein wälzen, wenn auch noch so redlich, werden mitunter andere überrollt.205 Im Angesicht unserer Mordtaten ohne Zahl, im Angesicht dieser Nacht, die kein Ende hat206, fragt sich, an wie viel Zynismus Sisyphos’ glückliches Bewusstsein krankt.

„Der Gedanke, dass man sich Sisyphos nicht mehr als Opfer, sondern als glücklichen Menschen vorzustellen habe, hat nach den Erfahrungen mit Diktatur, Verachtung und Verbrechen seine suggestive Überredungskunst weitgehend eingebüßt. Revolte, die nur darin bestünde, dass einer mit sich selbst ins Reine kommt, weil er dem Unvermeidlichen plötzlich die Einwilligung und damit persönliche Erlösung abgewinnt, könnte sich – nach allem Geschehenen – dem Vorwurf des Fatalismus, ja der ‚Kollaboration‘ kaum noch entziehen.“207

Durchaus in einem fundamentalen Sinn: Kollaboriert nicht auch Sisyphos längst mit dem Tod?

Turnvater Peter

„Wir sagen nicht mehr, die Welt ist alles, was von Gott so eingerichtet ist, wie es ist – nehmen wir es hin; wir sagen auch nicht, die Welt ist ein Kosmos, ein Ordnungsjuwel – fügen wir uns an der richtigen Stelle ein. Statt dessen meinen wir, die Welt ist alles, was der Fall ist. Nein, auch das ist noch zu scholastisch ausgedrückt, denn in Wahrheit leben wir, als wollten wir uns zu dem Satz bekennen: Die Welt ist alles, womit wir bis zum Zerbrechen experimentieren.“208

Nietzsche hatte sie prophezeit, die „Menschen der Experimente“, die „härter sein [werden …], als humane Menschen wünschen mögen,“209 und schließlich erkennen: „Wir dürfen mit uns selber experimentiren! Ja die Menschheit darf es mit sich!“210 Im Experiment ist Heil, im Experiment ist Leben, im Experiment ist – keine Wahrheit. Gott ist tot, metaphysischen Hintergedanken die Legitimität entzogen: In einer solchen Welt ist ‚Wahrheit‘ kein sinnvoller Ausdruck mehr. An seine Stelle treten andere, ‚Viabilität‘ zum Beispiel. Durchs Experiment, über trial and error müssen gangbare Wege gesucht werden, die das Überleben sichern – ohne Rücksicht. „Die grössten Opfer sind der Erkenntniss noch nicht gebracht worden“211, schreibt Nietzsche. Seit dem 20. Jahrhundert sind wir auf dem Weg.

„Schon die frühen Christen begannen, ihr ganzes Leben in ein Experiment umzuwandeln, um sich dem Gottmenschen anzugleichen: nos autem in experimentis volvimur schreibt Augustinus in seinen Bekenntnissen [conf. 4, 10] – nur Gott bleibt sich immer gleich, wir aber werden gewälzt von Versuch zu Versuch. Die Neuzeitmenschen fügten dem asketischen Experimentalismus der Alten den technischen und artistischen, schließlich den politischen hinzu. […] Essay und Experiment sind nicht bloß literarische und wissenschaftliche Verfahren, sie prägen den Daseinsstil der Moderne im ganzen – nach 1789 auch den der großen Politik und der nationalen und globalen Ökonomie. Experimentator ist, wer es auf jedes Ergebnis ankommen läßt, überzeugt, wie er ist, daß das Neue immer Recht hat.“212

Millionen Menschen wurden in den Gesellschaftsexperimenten des 20. Jahrhunderts Opfer dieser Überzeugung. Wer dessen gewahr wird und sich die Nähe zwischen experimentum und exercitium in Peter Sloterdijks Du mußt dein Leben ändern vergegenwärtigt, der dürfte sich wundern, mit welchen affirmativen Obertönen Sloterdijk seinen jüngsten Helden präsentiert und aus der Not eine Tugend zu machen scheint. „Der Held der folgenden Geschichte, der homo immunologicus, […] ist der mit sich selbst ringende, der um seine Form besorgte Mensch – wir werden ihn als den ethischen Menschen näher charakterisieren oder besser: als den homo repetitivus, den homo artista, den Menschen im Training.“213 Sloterdijk sucht, unter immunologischer Leitperspektive214, „das gesamte menschliche Feld im Licht der Allgemeinen Asketologie zu re-examinieren. Deren Gegenstand, das implizite und explizite Übungsverhalten der Menschen, bildet den Kern sämtlicher historisch manifesten Anthropotechniken“215. In der Tradition der „Meister des Zweifels“216 will Sloterdijk, mit eigener Akzentsetzung, durch ‚Explizitmachung des Impliziten‘217 die „religiösen, spirituellen und ethischen Tatsachen in die Sprache und Optik der allgemeinen Übungstheorie“218 übersetzen und „den Menschen als das Lebewesen […] enthüllen, das aus der Wiederholung entsteht.“219 Religion, Ethik etc., all das existiert nicht, nur vordergründig. „Womit wir es tatsächlich zu tun haben, […] sind mehr oder weniger mißinterpretierte Übungssysteme und Regelwerke zur Selbstformung im inneren wie äußeren Verhalten. Unter dem Obdach solcher Formen arbeiten die Praktizierenden an der Verbesserung ihres globalen Immunstatus“220.

 

In seinem Buch Du mußt dein Leben ändern bietet Sloterdijk ein faszinierendes Kaleidoskop dieser Exerzitien, auch und gerade im Blick auf die Moderne und ihre Schattenseiten. Er sieht schon seit Langem, dass „die Moderne […] längst den Raum der Selbsterhaltungsvernunft verlassen [hat]“221, in ihrer „Selbsterhaltung zum Tode“222, im Interesse der Selbststeigerung des Menschen. Er spürt, dass die europäische Aufklärung mehr ‚hat‘ als nur eine Formkrise: Von Beginn an war sie „[e]in Experiment auf der schiefen Ebene“223. Sloterdijk zeigt die „Umwandlung Europas in ein Trainingslager für menschliche Steigerungen an einer Vielzahl von Fronten“224 und weiß um die realen Fronten dieser Selbststeigerung, in deren Gräben die Menschen, die dem „intensive[n] Appell zur Erhöhung des Lebens“225 folgten, im Dreck krepierten – kaum unterscheidbar vom Schlamm, der sie umgab. Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren, gerade dort, wo du dich in die Höhe streckst? In seinem Buch umkreist Sloterdijk durchaus affirmativ den titelgebenden Imperativ: Du mußt dein Leben ändern. War es aber nicht auch und gerade jener Imperativ, der nach dem Tode Gottes „eine bedingungslose Überforderung aufrichtet[e]“226 und jene gar nicht „salutogene[n] Energien“227 freisetzte, die zur Katastrophe führten?228 Sein eigenes Heil, den Sinn seines Daseins selbst verbürgen zu müssen, das hat den Menschen wahrhaftig überfordert!

Mitunter entsteht der Eindruck, dass Sloterdijk sich vom ‚Zauber dieser Kämpfe‘229 anstecken ließ; es erhebt sich zwingend die normative Frage230 nach den Kriterien: Wie lassen sich „mehr oder weniger ausbreitungsfähige, mehr oder weniger ausbreitungswürdige Übungssysteme“231 unterscheiden? Ja, was ist ein ‚ausbreitungswürdiges Übungssystem‘? Kann mit Camus der Ruf zum Maßhalten und das von Sloterdijk seit einiger Zeit im Gefolge von Bazon Brock u. a. vertretene, aber wenig ausgeführte Konzept der ‚Zivilisierung‘ hier möglichen Auswüchsen wehren? Harten Nachfragen standhalten? Wie weit trägt seine Forderung nach einer „Makro-Struktur globaler Immunisierungen“232, d. h. nach Ausbildung einer „Ko-Immunitätsstruktur unter respektvoller Einbeziehung der Einzelkulturen, der Partikularinteressen und der lokalen Solidaritäten“233, um „in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen“234? Angesichts all des oben Gesagten? Unter dem Eindruck, dass Teile von Sloterdijks Denken gefährliche Eigendynamiken entfalten können?235

Zwei Dinge gilt es meiner Ansicht nach mit Sloterdijk festzuhalten. Erstens: „Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt ist die diffus allgegenwärtig wachsende Einsicht, daß es so nicht weitergehen kann.“236 – „Die Klinge der Unterscheidung ist die Apokalypse“237.

Zweitens: „Hat man begriffen, wie jede ausgeführte Geste vom zweiten Mal an ihren Akteur formt und fortbestimmt, so weiß man auch, warum es keine bedeutungslose Bewegung gibt. Die Wiederholung hat in der anthropologischen Aufklärung ihre Unschuld verloren: Auf ihr ruht, wie man explicite begreift, der Bestand der Welt.“238 Sisyphos ist die personifizierte Wiederholung. Was er repetiert, was er wieder und wieder wälzt, bleibt nicht ohne Folgen: „Ein Gesicht, das sich so nahe“ – immer und immer wieder – „dem Stein abmüht, ist selbst bereits Stein!“239 Damit ist „die Frage neu aufzunehmen, wie das Wiederholungswürdige vom Nicht-Wiederholungswürdigen zu unterscheiden sei.“240 Wie lässt sich „die schlechte Wiederholung gegen die gute tauschen“241? Erlaubt Sloterdijks asketologischer Ansatz und dessen Held, der homo immunologicus et repetitivus et artista, eine tiefere Einsicht und Kritik der Moderne? Oder bietet er eine Fortsetzung der Legitimation neuzeitlicher Selbstermächtigung mit anderen Mitteln? Öffnet Sloterdijks Ansatz Auswege aus den Aporien der Moderne? Oder wird hier der Bock zum Gärtner gemacht? Der Wiederholungstäter gerecht gesprochen? Wie viel Zynismus steckt in diesem realistischen Optimismus der Verzweiflung? Wie viel affirmative Infamie der Macht und der Ermächtigung des im Letzten Machtlosen?

‚Wie fortsetzen?‘ ist die Frage der alternden Moderne. Après nous le déluge? Nach uns die Sintflut?242 Oder ließe sich in einem normativ-emphatischeren Sinn wenigstens noch Einigkeit darüber erzielen: So soll es nicht weitergehen? Aber was wäre dazu nötig? Die bedingungslose Überforderung durch den absoluten Imperativ: „Du mußt dein Leben ändern“? Die Verpflichtung auf das Unmögliche?243 Oder ein paar gnadentheologische Dehn- und Gelassenheitsübungen244 in der Ausrichtung auf das Unbedingte, den Unbedingten? Doch allzu leicht darf, ja, kann es sich auch die Theologie nicht machen. Sie behält vor dem Hintergrund des Gesagten Büchners Danton im Ohr:

„Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muss ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt. Es muss, das war dies Muss. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muss gefallen? Wer hat das Muss gesprochen, wer? Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht wie im Märchen.“245

Wer hat das Muss gesprochen, dieses Muss, das den Menschen befahl, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, das ihnen zum Schicksal wurde, wer? „Wer darf es sagen?“ – „Wer kann es hören?“ – „Wer wird es tun?“246 – Wer kann es ertragen?