Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft

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Herausforderungen an die praktische Theologie

Schaut man aus der Vogelperspektive auf den aktuellen Stand der Neurowissenschaften, stellt man fest: Obwohl noch große Lücken in unserem Wissen über das Gehirn klaffen, obwohl die eigentliche Funktionsweise des Gehirns noch lange nicht als entschlüsselt gelten kann, so schickt sich die Hirnforschung doch an, entscheidend am Selbstverständnis des Menschen zu kratzen. Auch wenn insbesondere die Art und Weise der Codierung und Repräsentation von Information im Gehirn noch ganz unklar ist, so scheint doch das, was den Menschen ausmacht, grundsätzlich mit neurowissenschaftlichen Methoden erforschbar zu sein. Auf der Agenda der Hirnforschung stehen Themen wie Bewusstsein und Selbstbewusstsein, freier Wille und moralische Verantwortung; dies waren früher Sachverhalte, die im Zuständigkeitsbereich von Philosophie und Theologie lokalisiert waren. Diese Phänomene sicherten bisher die Einzigartigkeit des Menschen und blieben für eine naturwissenschaftliche Erklärung tabu. Mittlerweile jedoch wird sowohl aus dem Lager der Hirnforschung als auch aus naturalistischen Richtungen der Philosophie des Geistes versucht, diese spezifisch menschlichen Charakteristika als natürlich erklärbare Phänomene zu betrachten und ihnen jegliche Sonderstellung absprechen – bis hin zu der Leugnung etwa des freien Willens zugunsten einer durchgängigen Determiniertheit aller unserer kognitiven Willensakte.

Auf jeden Fall stehen immer explizit oder implizit grundsätzliche anthropologische Fragestellungen auf der Tagesordnung. Es ist völlig klar: Die Theologie als ganze ist hier herausgefordert, sich in die Debatten darum, wie wir uns als Menschen verstehen sollen, einzumischen; die Prämissen unserer christlichen Auffassung vom Menschen stehen zur Diskussion. (Damit sind selbstverständlich auch Religionspädagoginnen und -pädagogen aufgefordert, sich erstens über relevantes neurowissenschaftliches Grundwissen kundig zu machen und zweitens über dessen anthropologische Implikationen zu reflektieren; an den verschiedenen Lernorten, an denen sie tätig sind, werden sie diesen Thematiken nicht (mehr) guten Gewissens ausweichen können.)

An dieser Stelle könnte man nun einwerfen, dass diese Diskussion doch eigentlich keine ist, die die praktische Theologie wirklich interessieren muss. Schließlich geht es hier um anthropologische Grundfragen, und die werden in der systematischen Theologie besprochen und nicht in der praktischen. Denn in der praktischen Theologie geht es doch um die Praxis und nicht um philosophische Hintergrundfragen. Aber: Die praktische Theologie kann sich der Reflexion um das Menschenbild nicht enthalten – denn mein Menschenbild prägt immer auch meine Überlegungen, wie Praxis zu gestalten ist. Abgesehen davon lassen sich viele weitere Fragen im Kontext der Hirnforschung anführen, die ganz direkt praktische Konsequenzen implizieren. Wie etwa soll mit den Möglichkeiten umgegangen werden, die moderne Neurotechniken bieten? Sollte z.B. das brain doping oder das brain enhancement erlaubt sein, also der Einsatz von psychisch wirksamen Medikamenten nicht zur Therapie von Krankheiten, sondern zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Gehirns? Dürfen mittels bildgebender Verfahren meine Gedanken gelesen werden (das so genannte brain reading), wenn diese Verfahren z.B. vor Gericht als eine Art Lügendetektor eingesetzt würden? Soll an der Schaffung von künstlicher Intelligenz und von künstlichem Bewusstsein weitergearbeitet werden?

Auch von diesen Fragen könnte sich der praktische Theologe, überhaupt jeder Theologe und jede Theologin unbeeindruckt zeigen und seine Zuständigkeit ablehnen. Ich behaupte nicht, dass er oder sie das tun sollten, aber er/sie könnte es mit Verweis darauf, dass es doch in der Theologie in ihrem Kern um etwas ganz anderes gehe als der Hirnforschung. Denn worum geht es der Theologie? Kurz gesagt, ist sie die Wissenschaft von Gott. Die Hirnforschung hat aber doch einen ganz anderen Gegenstand: Sie befasst sich mit der Erforschung von Hirnprozessen. Also ist – per definitionem – Gott nicht Gegenstand der Hirnforschung. Was also sollten sich die beiden Wissenschaften wirklich zu sagen haben? Vielleicht können sie sich gar nichts sagen, weil es ihnen jeweils um völlig Unterschiedliches geht?

So einfach ist es natürlich nicht, und dies liegt bereits daran, dass die Gegenstandsbestimmung der Theologie, so wie ich sie eben vorgenommen habe, nicht ganz richtig ist. Gott ist, genau genommen, nicht Gegenstand der Theologie; denn Gott ist überhaupt kein Gegenstand. Gott ist der Schöpfer aller Gegenstände; der, ohne den nichts ist – aber er ist selbst kein Teil der Schöpfung. Gegenstand der Theologie ist vielmehr der Glaube an Gott, den Menschen glauben, oder der Begriff von Gott, den sich Menschen machen. Insofern ist Gott indirekt Gegenstand der Theologie, während der Glaube ihr direkter Gegenstand ist.

Wenn also Glaube oder, allgemeiner und auch unschärfer gesprochen, Religion Gegenstand der Theologie ist, kommt dann nicht eine gemeinsame Plattform von Theologie und Hirnforschung in den Blick? Auch hier ist die Antwort erst einmal negativ, denn es bleibt dabei, dass die Hirnforschung Prozesse untersucht, die im Gehirn ablaufen. Religion ist aber kein Hirnprozess. Trotzdem – wir kommen der Sache schon näher: Auch wenn die Hirnforschung weder Gott noch Religion noch Glauben direkt untersucht, so untersucht sie doch diejenigen Hirnprozesse von Versuchspersonen, die mit den genannten „Größen“ in irgendeiner Weise verbunden sind bzw. irgendwie mit ihnen interagieren. Es geht also um die neuronalen oder genauer: zerebralen Korrelate der religiösen Erfahrungen der untersuchten Subjekte. Durch diese Forschungen wird die Theologie, näherhin die praktische Theologie darauf geworfen, das Subjekt religiöser Erfahrungen näher und vielleicht mehr als bisher in den Blick zu nehmen. Und wenn es sinnvoll sein sollte, die Subjektorientierung als ein charakterisierendes Merkmal der Praktischen Theologie zu bestimmen, dann liegt sofort auf der Hand, dass insbesondere die praktische Theologie sich von den Befunden der Neurowissenschaften nicht unbeeindruckt wird zeigen können.

Abgekürzt könnte man sagen: Hirnforschung untersucht zwar nicht Gott und auch nicht Religion, wohl aber Religiosität als die subjektive Seite von Religion – und zwar insofern sie die neuronalen Korrelate von Religiosität erforscht, also diejenigen Hirnprozesse, die mit religiösem Erleben und Verhalten einhergehen. Damit kann sie beitragen zu einem aktuellen Forschungsfeld innerhalb der Religionspädagogik, nämlich zur Anschärfung einer Theorie der Religiosität, einer Größe, die bislang wenig theoretisches Interesse auf sich gezogen hat, deren Klärungsbedürftigkeit aber deutlich zutage tritt. (vgl. Angel 2006; 2008) Und es ist auch nicht überflüssig zu erwähnen, dass die hier vertretene Perspektive sich deckt mit der eingangs genannten Leitidee der (kognitiven) Neurowissenschaften: Wenn bestimmte Hirnzustände notwendige Voraussetzung für alle mentalen Phänomene sind, dann geht auch religiöses Erleben mit bestimmten Hirnprozessen einher – alles andere wäre auch reichlich merkwürdig.

Welche Momente der neurowissenschaftlichen Forschung sind nun speziell für die praktische Theologie von Bedeutung? Man übersieht schnell, dass sich solche Momente nicht auf das Feld der so genannten Neurotheologie beschränken – auch wenn dieses das wohl medienwirksamste und auch von fachtheologischer Seite am ehesten aufgenommene Thema ist. Daher werde ich mich diesem Bereich gleich exemplarisch vertieft zuwenden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nenne ich aber zunächst weitere neurowissenschaftliche Themen von Relevanz für die praktische Theologie: Es sind dies Forschungen

- zur Willensfreiheit,

- zu veränderten Bewusstseinszuständen,

- darunter insbesondere zu Nahtoderfahrungen,

- zur außersinnlichen Wahrnehmung,

- zur Neurodidaktik.

Ein Beispiel: Die so genannte Neurotheologie

Etwa um die Jahrtausendwende haben neurowissenschaftliche Forschungen zur Rolle des Gehirns bei religiösen, spirituellen oder mystischen Erfahrungen stark zugenommen. Für diese neue Forschungsrichtung wurde von einigen Protagonisten, die selbst Neurowissenschaftler und keine Theologen sind, der Ausdruck „Neurotheologie“ geprägt. Dieser Begriff hat eine steile Karriere gemacht, so dass man fast den Eindruck haben konnte, eine neue theologische Disziplin sei geboren worden. Diesen Anspruch kann diese Forschungsrichtung jedoch nicht erfüllen. Schon der Begriff „Neurotheologie“ selbst ist sehr unglücklich, denn das Präfix „Neuro-“ scheint ein klar definiertes Teilgebiet einer Wissenschaft zu bezeichnen. Tatsächlich geht es jedoch um sehr heterogene Phänomene, etwa um Meditation genauso wie um Epilepsieforschung.

Weitaus problematischer ist aber, dass mit diesem Ausdruck eine sachlich unzutreffende Vorstellung davon verbunden ist, was eigentlich Theologie ausmacht. Die Ergebnisse dieser Forschungen werden nämlich unzulässigerweise oft dazu verwendet, um weit reichende Deutungen im Bereich der transzendenten Wirklichkeit vorzunehmen, seien sie kritischer oder affirmativer Natur. Tatsächlich aber geht es darum, die neuronalen Grundlagen mentaler Prozesse im Bereich des Religiösen zu erforschen, und dass damit weder die Existenz Gottes noch seine Nicht-Existenz bewiesen werden kann, bedarf keiner weiteren Erläuterung.

Trotz dieser (und anderer, hier nicht genannter) Probleme sollte man das Kind aber nicht mit dem Bade ausschütten: Dass die so genannte Neurotheologie ihren Namen zu Unrecht trägt, bedeutet nicht, dass ihre Befunde aus theologischer Sicht prinzipiell keine Relevanz hätten. Im Gegenteil: Es gibt durchaus interessante Befunde, die in ihrer praktisch-theologischen Relevanz noch gar nicht ausgelotet sind. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf die Vorstellung eines der prominentesten Beispiele. (für weitere interessante und oft diskutierte Befunde vgl. Persinger 1987; Azari 2001; Ramachandran/Blakeslee 32002)

 

Besonders bekannt geworden im Zusammenhang mit der so genannten Neurotheologie sind der schon 1998 verstorbene Psychiater Eugene D’Aquili und vor allem sein Kollege, der Radiologe und Religionswissenschaftler Andrew Newberg. Ihr bislang bekanntestes Buch erschien 2001 unter dem Titel „Why God won’t go away. Brain Science and the Biology of Belief“; in Deutschland wurde es mit einer markanten Akzentverlagerung unter dem Titel „Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht“ publiziert. (vgl. Newberg/D’Aquili/Rause 2003)

Newberg und D’Aquili untersuchten Gehirnveränderungen während religiöser Intensiverlebnisse, genauer gesagt, während des Höhepunkts der Meditation. Die Hirnaktivität wurde mittels einer SPECT-Kamera aufgezeichnet; SPECT steht für Single Photon Emission Computed Tomograph. Vereinfacht kann man sagen, dass es ein bildgebendes Messverfahren ist, das Schichtaufnahmen von lebenden Organismen ermöglicht; die Schnittbilder zeigen die Verteilung eines schwach radioaktiven Kontrastmittels im Blut.

An diesen Versuchen nahmen acht Buddhisten und acht Franziskanerinnen teil, die alle in Meditation geübt waren. Sie befanden sich zunächst in einem ruhigen Raum, in dem sie ganz normal ihrem Meditationsritual nachgehen sollten. Wenn sie merkten, dass der Höhepunkt der Meditation kurz bevorstand, sollten sie dies mithilfe einer Schnur signalisieren, vorauf von der Versuchsleitung das Kontrastmittel über eine Leitung intravenös injiziert wurde. Dann wurde die Meditation wie sonst auch zuende geführt und anschließend die SPECT-Aufnahmen gemacht.

Die Versuchsergebnisse zeigen, dass bestimmte Areale im Frontallappen, also im Vorderhirn, stärker durchblutet, also auch stärker aktiviert sind. Dieser Bereich wird von Newberg und D’Aquili vereinfachend Aufmerksamkeitsfeld genannt und spiegelt die erhöhte Konzentration während der Meditation wider. Entscheidender noch ist eine verminderte Durchblutung im Parietal- oder Scheitellappen, in einem Bereich, der vereinfachend Orientierungsfeld genannt wird. Dieser Bereich sorgt für die Orientierung des Individuums im physischen Raum, so dass ermöglicht wird, zwischen sich selbst und allem Übrigen, dem Nicht-Ich zu unterscheiden. Wenn also die Aktivität dieses Orientierungsfeldes sich während des Höhepunkts der Meditation verringert oder gar ganz ausgeschaltet wird, wird dieser Bereich blind für eingehende Sinnesdaten. Dadurch könnte der Eindruck der Entgrenzung oder der Verschmelzung mit dem Unendlichen entstehen, von dem bei der Meditation berichtet wird.

Dieser Befund stellt einen nicht-trivialen Beitrag zur Erforschung der neuronalen Grundlagen von Einheits- bzw. All-Erfahrungen während der Meditation dar – nicht mehr und nicht weniger. Eine praktischtheologische Theorie der Religiosität wird solche Befunde zu interpretieren und zu integrieren haben.

Fazit

Die hier exemplarisch vorgestellte Studie sowie weitere unter der Bezeichnung „Neurotheologie“ firmierende Forschungsbemühungen stellen weder einen Beweis der Existenz noch der Nichtexistenz Gottes dar, darüber müssen nicht viele Worte verloren werden. Genauso wenig ist die Bezeichnung „Neurotheologie“ für sie adäquat. Dies bedeutet aber nicht, dass sie keine Relevanz für die praktische Theologie hätten – im Gegenteil: Sie zeigen interessante Befunde und steuern Erkenntnisse zu den Grundlagen der Entstehung und Entwicklung von Religiosität bei. Damit liefern sie auch Bausteine für eine noch zu entwickelnde Theorie der Religiosität. Eine solche wird sich natürlich nicht beschränken können auf den Bereich der biologischen Grundlagen der Religiosität; wohl aber stellt dies eine der Komponenten von Religiosität dar. Eine Herausforderung für zukünftige Forschungen wird es insbesondere sein, stärker auch alltägliche religiöse Phänomene und nicht nur religiöse Spitzenerfahrungen in den Blick zu nehmen.

Literatur

Angel, H.-F., Das Religiöse im Fokus der Neurowissenschaft. Die Emergenz von Religiosität als Forschungsgegenstand, in: Ders. (u.a.), Religiosität. Anthropologische, theologische und sozialwissenschaftliche Klärungen, Stuttgart 2006, 53-68.

Ders., Neurowissenschaft als Anfrage an theologische Theoriebildung. Denken – Fühlen – Glauben: Im Vorfeld einer Theologie der Religiosität, in: E. Dirscherl/C. Dohmen (Hgg.), Glaube und Vernunft. Spannungsreiche Grundlage europäischer Geistesgeschichte, Freiburg i.Br. 2008, 315-345.

Azari, N. et al., Neural correlates of religious experience, in: European Journal of Neuroscience 13 (2001), 1649-1652.

Newberg, A.B./D’Aquili, E.G./Rause, V., Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht, München 2003.

Persinger, M.A., Neuropsychological bases of God beliefs, New York 1987.

Ramachandran, V./Blakeslee, S., Die blinde Frau, die sehen kann, Hamburg 32002.

Ottmar Fuchs
Re-Formation des Glaubens in der Diakonie – Plädoyer für die Rekonstruktion einer diakoniekritischen Reformationsgeschichte
Messianische Reformation

Die „Reformation“1, die der Messias gegenüber seinen Gegnern zur Geltung gebracht hat, ist hauptsächlich in einem anderen Verhältnis von Wort und Tat, von Glaube und Erfahrung zu finden. Dementsprechend leistet sich Jesus selbst keine Rede von Gott außerhalb konkreter, heilender und rettender Begegnung. Er spricht vom Reich Gottes, wenn er in der Begegnung mit Armen, Stigmatisierten und Schwachen seine Heilsbotschaft im Heilen tut bzw. indem er den Sündern Gottes Vergebung zuspricht. Er spricht auch vom Reich Gottes, wenn er sich in seinen Reden und Gleichnissen für die Armen und Leidenden solidarisiert: Wenn ich mit dem Finger meiner Hand heile, schlimme Entfremdungen austreibe und wenn ich gegen die Marginalisierung der Leidenden und Ausgegrenzten spreche und handle, dann ist das Reich Gottes zu euch gekommen! (vgl. Lk 11,20) So wird in seinen realisierten wie auch erzählten Geschichten dem Begriff Gott eine unmissverständlich praktische Eindeutigkeit verschafft. Diese Geschichten verdrängen nicht, sondern nehmen die leidende Welt auf und erzählen eben darin das Wirken Gottes unter den Menschen, welches sich immer wieder auf den elementaren Widerspruch zwischen denen, die Leid schaffen, und denen, die das Leid bekämpfen, konzentriert und sich in diesem Widerspruch aufreibt.

So weist Jesus auf die Anfrage Johannes' des Täufers die „Wahrheit“ seines Evangeliums dadurch aus, dass er ihm in Anschluss an Jesaja seine heilenden Taten berichten lässt: „Blinde sehen wieder, Lahme gehen und Aussätzige werden rein; Taube hören […] und den Armen wird das Evangelium verkündet“ (Lk 7,22). So wird der wiederkommende Herr uns danach fragen, ob wir ihm in den Hungernden zu essen gegeben haben, oder ob wir ihn als den Fremden aufgenommen und als den Kranken besucht haben. (vgl. Mt 25,31-46) So ist der Ketzer in der Samaritergeschichte der Gerechtfertigte, weil er dem Leidenden hilft; und der Priester, auf den Tempel fixiert, um dort den „eigentlichen“ Gottesdienst zu vollziehen, hat nichts verstanden. (vgl. Lk 10,25-37) So stellt Jesus den Mann mit der verdorrten Hand in die Mitte der Synagoge, wo sonst die Tora-Rolle, das Wort Gottes selbst Platz hat, um ihm dort heilend zu begegnen. (vgl. Mk 2,27-3,6) Und auch die Geschichte vom Messiasbekenntnis des Petrus und seiner Flucht vor der riskanten Messiasnachfolge in der Tat (vgl. Mt 16,13-27) gehört hierher: Für das Bekenntnis wird Petrus als der „Fels“ der Kirche seliggepriesen, für die Flucht vor der realen Nachfolge des sich hergebenden und gewaltlosen Messias freilich wird er als Satan betitelt.

Auch der tödliche Konflikt entzündet sich an der unversöhnlichen gegensätzlichen Praxis der Kontrahenten, die diese mit dem Gottesbegriff verbinden. So heilt Jesus die durch die Menschen produzierte Sprachzerstörung bezüglich des Gottesbegriffs, indem er diesen Begriff durch seine eigene Geschichte aus der paradoxen Kommunikation herausholt, in der der Begriff Gott mit einer seiner Wirklichkeit gegenüber kontraproduktiven Praxis der Unterdrückung und Zerstörung der Menschen verbunden wird. Wer dieser „Geschichte“ nachfolgt, beteiligt sich selbst nicht nur an der Wiedergewinnung des authentischen Gottesbegriffs, sondern gleichzeitig an der Verwirklichung seiner Gegenwart unter den Menschen. Verwirklichung seiner Gegenwart im Leben und Handeln der Menschen: als universale Solidarität gegenüber Benachteiligten und von Leid und Schmerz betroffenen Menschen und als politischer Kampf für die Verwirklichung ebenso universaler Menschenrechte.

Mit Norbert Mette weiß ich mich in diesem Kampf für die praktische Vereindeutigung des christlichen Glaubens zugunsten aller Menschen und Völker intensiv verbunden: wie zum Beispiel in der Auseinandersetzung um die theologische Bedeutung der Diakonie in Kirche, Theologie und Pastoral, wie in der bereits von Norbert Mettes Lehrer Adolf Exeler begonnenen und von Norbert Mette begegnungsbezogen und konzeptionell intensivierten komparativen Pastoraltheologie insbesondere im Horizont lokaler und weltweiter Theologien der Befreiung. Man kann sich im deutschsprachigen und vermutlich im ganzen europäischen Bereich kaum eine Person innerhalb der Theologie vorstellen, die so konsequent, nachhaltig und unbeirrbar für jene Reformation des christlichen Glaubens gekämpft hat, wie ich sie hier gegenüber dem bisherigen Reformationsverständnis genauso in die Mitte stellen möchte, wie Jesus die Kinder und den behinderten Menschen in die Mitte gestellt hat. Norbert Mette hat sich in dieser Reformationsgeschichte um eine entscheidende und für die Zukunft ausschlaggebende Wegstrecke verdient gemacht.

Bekannte und vergessene Reformationsgeschichte(n)

Nimmt man diesen Maßstab für den kirchlichen bzw. christlichen Reformationsbegriff ernst, dann erscheinen alle kirchengeschichtlichen Reformationen, die sich nur auf den Glaubensbereich beziehen, als ungenügend reformatorisch. Auf diesem Hintergrund muss man die kirchliche Reformationsgeschichte eigentlich neu schreiben.

Der Wartburgreformator des 16. Jahrhunderts verblasst dann gegenüber der Reformatorin, die ca. 300 Jahre vorher auf der Wartburg lebte: nämlich die Heilige Elisabeth von Thüringen. Sie heilt das Verhältnis von Glaube und Existenz in einer ganz bestimmten kompromisslosen Weise. Und sie steht für ähnliche Menschen und Begegnungen in dieser Zeit (für die Armutsbewegungen, die Bettelorden, vor allem für den Aufbruch eines Franz von Assisi) und überhaupt in der Kirchengeschichte. Viele wären als solche Reformatoren und Reformatorinnen erst noch zu entdecken und auszuzeichnen.

Martin Luthers Reformation bezog sich weitgehend auf den Glaubensdiskurs, also gewissermaßen auf einen ideologischen Konflikt, zwar auch hier mit entsprechenden praktischen Konsequenzen und vor allem mit den politischen Erfolgen in der damaligen Machtkonstellation und auf dem Hintergrund der explodierenden Massenmedien. Aber gerade darin (Buchdruck!) ging es hauptsächlich um das Wort. In der Frage nach dem universalen Heil und der bedingungslosen Diakonie allen Menschen gegenüber stand Luther allerdings in seinem Exklusivismus der alten Kirche in nichts nach, nun allerdings nicht mehr mit kirchen-, sondern mit glaubensbezogenen Grenzziehungen.

Sein etwas früherer spanischer Zeitgenosse Johannes von Gott (der Begründer der barmherzigen Brüder) war ihm da in Granada genauso voraus wie Jahrhunderte vorher Elisabeth von Thüringen. Das Gütezeichen des Reformatorischen also, nämlich dass der Glaube wieder eine bestimmte, zu ihm gehörige authentische praktische Vollzugsform (zurück)gewinnt, ist auf Luther nur fragmentarisch, jedenfalls nicht programmatisch zu beziehen. Auch die protestantische Freiheitsdynamik bleibt „Christenmenschen“ vorbehalten, ereignet sich also als entsprechende Diakonie in der christlichen Gottesbeziehung und damit im Bereich des Glaubens. Selbstverständlich gilt Luther für die europäische Folgegeschichte als historisch höchst relevanter christlicher Reformator, aber theologisch fehlt an dieser Historie dann doch etwas Entscheidendes, das dann auch keine eigene Geschichtsdynamik entwickeln konnte.

 

Nichts sei gegen Luthers Auseinandersetzungen und Entdeckungen im Glaubensvorgang selbst gesagt, vor allem hinsichtlich seiner Gnadentheologie, der ich sehr viel für meine eigene Theologie verdanke. Aber es gibt demgegenüber die Einsicht des evangelischen Exegeten Ernst Käsemann: Gnade, die nicht tätig ist, ist Einbildung. Der berechtigte Kampf Luthers gegen Werkgerechtigkeit hatte gleichwohl den Schatten, den Glauben wichtiger zu nehmen als die Praxis. Doch sind die Lohnmetaphern in den Evangelien nicht einfach zu übersehen, in denen ein ganz bestimmtes Verhältnis zwischen hiesigen solidarischen Werken (vgl. Mt 25) und künftiger Reaktion Gottes auf die Menschen im Gericht hergestellt wird. Gott ist es also nicht gleichgültig, wie wir hier de facto leben.

Für beides gilt, für Glaube und Werke, und das ist der eigentliche Einspruch Luthers, dass sich diesbezüglich die Menschen keinen Selbstruhm einbilden können und dürfen. Denn beides ist immer zuerst Geschenk und Gnade, und erst dann von daher ermöglichte Eigentätigkeit der Menschen.

Die lauten historischen Geräusche übertönen die tatsächlich diakonietheologisch dürftige Reformation der protestantischen Reformation. Und die wirklichen Reformationen benötigen in Zukunft einen Anschluss an starke kirchliche und gesellschaftliche Lautsprecheranlagen, nicht um einer integralistischen christlichen Identität willen, sondern um der humanisierenden Zukunft der Menschheit und eines für alle Menschen befreienden Gottes willen.

Schaut man mit diesem kritischen Blickwinkel auf die Geschichte der Kirchen, entdeckt man zugleich, wie sehr es in fast allen Zeiten und an fast allen Orten neben den dominanten Entwicklungs- und Reformationslinien immer auch diakoniereformatorische Traditionen und Wirklichkeiten gegeben hat, manchmal oft nur am Rande, geduldet und manchmal auch bekämpft oder auch angenommen, angeeignet und integriert. Mit einer großen Siegergeschichte können sie von ihrem Wesen her kaum aufwarten. Und dabei sind es vor allem oft christliche Frauen, die durch die Geschichte hindurch diese Reformation für ihre Zeit und bezogen auf die entsprechenden Nöte der Menschen eingeklagt und selbst gelebt haben: von den caritasorientierten Frauenorden und Frauenkongregationen bis hin zum Weltgebetstag der Frauen. (vgl. Hiller 1999; Bechmann 1994; Frauen bewegen Ökumene 1998; Deutsches Weltgebetstagskomitee 1995) Gab es früher eine ideengeschichtliche Sicht der Kirchengeschichte, die längst durch milieugeschichtliche und kultursoziologische Perspektiven abgelöst ist, weil im Horizont von Ideen allzu leicht die Schicksale darin nicht vorkommender Menschen übersehen werden, so benötigen wir für eine pastoraltheologisch interessierte Kirchengeschichte praxisgeschichtliche Forschungen im Sinne der christlich-reformatorischen Fragestellung nach dem authentischen Verhältnis von Wort und Tat, von Glaube und Solidarität. (vgl. Fuchs 2002; ders. 2008a)

Aus dieser Perspektive kann man das Zweite Vatikanum als einen solchen diakonisch-reformatorischen Prozess ansehen, weil hier in dogmatischen Konstitutionen die Frage nach der Erfahrbarkeit des Glaubens erörtert wird. Es durchgehend um die Verbindung von Wahrheit und Lebensrelevanz, von Glaube und Erfahrung, von Wort und Tat, von Sakrament und Lebensvollzug geht. Dogma und Pastoral kommen eine gegenseitige Erschließungskraft zu, die es nicht mehr erlaubt, die Pastoral als Anwendung des „Eigentlichen“ einzustufen. Sie gehört selbst zum Eigentlichen. Und alle Gläubigen sind zu dieser Pastoral berufen. In der Pastoral, also in Glaube, Verkündigung und Diakonie der Kirche und der Gläubigen nach innen und nach außen bewahrheitet sich die Identität der Kirche. Ohne diese Praxis ist die Lehre (und das Ja dazu) nur eine „klingende Schelle“ (Lutherübersetzung von 1 Kor 13,1) bzw. eine „lärmende Pauke“ (Einheitsübersetzung).