Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft

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Freikirchlich organisierte Migrationskirchen

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Bild der christlichen Migration sehr verändert. Diese Veränderungen hängen mit den globalen Migrationsströmen zusammen. Mehr und mehr wird das Bild der christlichen Einwanderung in den mitteleuropäischen Raum durch Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Afrika, Asien und Lateinamerika geprägt. Mit ihnen ändert sich auch das Bild der christlichen Immigration. Die Migrantinnen und Migranten repräsentieren „Christentümer“ ihrer Herkunftskontexte, die sich zum Teil erheblich von den Mustern, die im lateinisch-kirchlich geprägten Europa entstanden und bekannt sind, unterscheiden.

Wenn man – nicht zuletzt aufgrund der spezifischen Struktur der katholischen Kirche – die Zahl der Missionen und der angeschlossenen katholischen muttersprachlichen Gemeinden noch recht genau angeben kann, so ist dies für die Zahl sogenannter neuerer postkonfessionell geprägter Migrationskirchen nur annäherungsweise möglich. Die Schätzungen für Deutschland bewegen sich in der Größenordnung um 1000 Gemeinden, die Schätzungen für die Schweiz gehen von 300 neueren Migrationskirchen aus. Diese können zum Teil sehr klein und unscheinbar sein; es gibt aber auch große Migrationskirchen, die jeden Sonntag mehrere Hundert Menschen versammeln.10

Das auffälligste Merkmal der neuen Christentümer in Europa dürfte darin bestehen, dass diese sich in der großen Mehrzahl durch pentekostale (pfingstliche) bzw. charismatische Prägung auszeichnen. Auch wenn diese „Pentekostalismen“ wiederum sehr unterschiedlich sind (man vergleiche nur pfingstliche Gemeinden russischer Provenienz mit solchen ghanaischer Herkunft), so lassen sich doch auch gemeinsame Merkmale beschreiben:

Verbunden mit einer freikirchlichen Organisationsweise bilden die Migrantinnen und Migranten ihre christlichen Gemeinden als „Migranten-Selbstorganisation“, während z.B. katholische Missionen als „Migranten-Organisationen“ noch für die katholischen Migrantinnen und Migranten errichtet wurden und auch durch kirchenrechtliche Bestimmungen definiert sind.

Daraus ergibt sich ein weitere Beobachtung: Für den kirchlichen ökumenischen Kontakt zu den neueren Migrationskirchen fehlen den „eingesessenen“ Kirchen noch die Routinen für den Dialog und die ökumenische Kooperation. Versuche einer (institutionellen) Vereinnahmung durch die Großkirchen werden allerdings von den neuen Migrationskirchen selbstbewusst abgelehnt. Das heißt nicht, dass Migrationskirchen keine institutionelle Annäherung suchen würden. Etliche evangelische Landeskirchen sehen sich beispielsweise durch den Wunsch mancher Migrationskirche herausgefordert, von der Landeskirche anerkannt zu werden oder gar einer Landeskirche beitreten zu können. Nicht zuletzt bringt auch die häufige Praxis von neueren Migrationskirchen, sich als „Untermieter“ in bestehenden Kirchengebäuden der Großkirchen zu versammeln, Berührungs- und Kontaktmöglichkeiten mit sich. In diesen Annäherungsprozessen sind beide Seiten gefordert. Die für alle Beteiligten anstehenden Veränderungen zeichnen sich erst langsam ab.

Ein typisches Unterscheidungsmerkmal zwischen vielen neueren Migrationskirchen und den deutschen „Mainline-Churches“ findet sich im Bereich der Spiritualität. Dabei geht es nicht nur um ein Mehr oder Weniger an Nüchternheit oder Emotionalität im Gottesdienst, es geht sehr fundamental um unterschiedliche kosmologische Konzeptionen des Christlichen. Hinter den sichtbaren unterschiedlichen „Stilen“ und „Ausdrucksformen“ der verschiedenen Christentümer stehen nicht zuletzt sehr unterschiedliche Vorstellungen von Gott und Welt, von Mächten und Dämonen, von Zeit und Raum, von „aufgeklärter“ und „religiöser“ Rationalität. Diese Unterschiede lassen es sinnvoll erscheinen, von „Christentümern“ zu sprechen. Was diese Christentümer überhaupt noch als „gemeinsamer Nenner“ verbindet, dürfte – mit Theodor Ahrens (vgl. Ahrens 2005, 213f) – wohl am ehesten im Bezug auf die Bibel bzw. die Jesus-Story bestehen. Dabei geschieht selbst die Art und Weise dieser Bezugnahme sehr unterschiedlich, was beispielsweise Werner Kahl anschaulich herausgearbeitet hat. (vgl. Kahl 2007)

Weitere christliche Migrationsgruppen

Neben katholischen Migrationsgemeinden und solchen freikirchlichpentekostaler/charismatischer Art gibt es zahlreiche weitere christliche Kirchen, Gruppen und Gemeinschaften, die im Zuge von Migration das Bild des Christlichen in Mitteleuropa verändern. Zu denken ist hier an die verschiedenen orthodoxen Kirchen aus Süd-Osteuropa, aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, aus dem nahen Osten, aus Indien, aus Ägypten, Eritrea, Äthiopien und anderen Ländern. Dazu kommen verschiedene, häufig global agierende Gruppierungen mit großem missionarischem Engagement, z. B. die „Mormonen“ (Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage), die Zeugen Jehovas und andere.

Welche Minderheit hat die Mehrheit?

Für etliche Großstädte in Europa geht man zurzeit davon aus, dass dort an sonntäglichen christlichen Gottesdiensten Migrantinnen und Migranten längst die Mehrheit darstellen. Für London und für das protestantische Hamburg gilt als gesichert, dass die Gottesdienstbesucherzahl der Christinnen und Christen afrikanischer Herkunft diejenige der anglikanischen bzw. lutherischen Gottesdienstbesucherinnen und - besucher längst übertroffen hat. Im Ruhrgebiet dürfte die Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucherinnen und -besucher mit Migrationshintergrund ebenfalls die größte Gruppe darstellen. Unter den Vorzeichen einer formalen Zählung der Konfessionszugehörigkeit in Deutschland (amtliche Kirchenmitgliedschaftsstatistik) würde man wohl zu anderen Ergebnissen kommen. Dabei wäre dieser Befund nicht eindeutig: Anzunehmen ist nicht zuletzt eine große Zahl von Migrantinnen und Migranten, die sowohl einer Migrationsgemeinde als auch einer Großkirche angehören. Von daher dürfte der Blick auf die Gottesdienstbesuchszahlen zumindest als eine Vergleichsebene neben anderen eine wichtige Ergänzung des Gesamteindrucks darstellen.

Keine kirchliche Gemeinschaft kann in Deutschland oder in der Schweiz für sich beanspruchen, Mehrheit zu sein. Diese diasporale Wirklichkeit jeder Kirche bzw. Denomination gilt es anzuerkennen. Es gibt nur noch größere oder kleinere Minderheiten, die ein sehr buntes und plurales Bild des Christlichen in Europa bezeugen. Giancarlo Collet hat mit Blick auf die faktische „Enteuropäisierung der europäischen Christenheit“ die ökumenische und missionarische Herausforderung beschrieben: „Gemeinsam das Evangelium verkünden“ (Collet 2010, 243-266). Diese Aufgabe impliziert praktisch-theologische Klärungen:

Therapie der ökumenischen Amnesie

Klaus Hock spricht von der Notwendigkeit einer „Therapie unserer ökumenischen Amnesie“ (Hock 2010, 31). Er ermutigt dazu, den schwierigen Lernprozess (nicht nur) der Missionswissenschaft fortzusetzen, nämlich sich immer wieder einzugestehen, dass unsere eigenen christlichen und theologischen Diskurse andere christliche Gruppen ins Abseits drängen, sie unsichtbar machen und vergessen lassen. Die nahezu vollständige Ausblendung der katholischen Missionen innerhalb der katholischen praktischen Theologie mag dafür nur ein Beispiel sein; genauso wie der Verdacht, dass der heute zunehmende Blick auf Migrationskirchen auch der Hilflosigkeit der Mainline-Churches beim sorgenvollen Blick auf ihre eigene Zukunft geschuldet sein könnte. Hier wirken Machtkonstellationen zwischen den Christentümern, mit denen sich nicht zuletzt die praktische Theologie selbstkritisch auseinanderzusetzen hätte.

Wie Minderheit sein?

Eine ehrliche Wahrnehmung und Therapie der ökumenischen Amnesie müsste auch zur Klärung der Frage führen, wie in den Kirchen und Gemeinden mit der Minderheitssituation überhaupt umgegangen werden soll und wie sie theologisch zu begreifen wäre. Karl Rahner hat in diesem Zusammenhang – und mit Blick auf die katholische Kirche – von einer „planetarischen Diaspora“ gesprochen und diese als „heilsgeschichtliches Muss“ theologisch qualifiziert. (vgl. Rahner 1961, 13-47) Heute dürfte man wohl damit rechnen, dass die meisten Christinnen und Christen dieser Einschätzung für jedes „Christentum“ folgen würden. Offen ist jedoch, zu welchen Konsequenzen die theologische Deutung der Minderheitssituation als „heilsgeschichtliches Muss“ führen wird. Wie kann man sich die Verhältnisbestimmung einer Minderheitskirche zu anderen Minderheitskirchen sowie zur Gesellschaft insgesamt in Zukunft vorstellen? Soweit absehbar, sprengen die Antwortversuche die bisherigen Einteilungen und Kategorialisierungen von Migrations- und Mainline-Churches. Wer sich einige Zeit mit den Migrationsgemeinden beschäftigt, wird bald auch ein anderes Bild von den „normalen“ Kirchen bekommen. Dabei geraten bisherige Kategorialisierungen deutlich in Bewegung.

Auf der einen Seite finden sich nämlich Kirchen und Gemeinden, deren Kennzeichen vor allem der Abgrenzung nach außen dienen. Unter den Stichworten der „Profilierung“ und der „Eindeutigkeit der Verkündigung“ wird die Minderheitssituation ausdrücklich aufgegriffen und in das Selbstkonzept als bestimmendes Kriterium, wenn nicht gar als vermeintliches „Proprium“ übernommen. Als Aufgabe der Minderheit wird vor allem gesehen, die eigene Identität zu schützen und abzugrenzen. So wird eine Minderheitsidentität quasi zum Selbstläufer. Dabei kann diese durchaus ein „missionarisches“ Moment formulieren, nämlich die Einladung zum Beitritt zur Minderheit (und ihren Spielregeln) als Übertritt aus der restlichen „profillosen Mehrheit“.

 

Hier gibt es durchaus Parallelen zwischen manchen Migrationskirchen und Teilen der Großkirchen. Christoph Jacobs hat erst kürzlich mit Blick auf jüngere katholische Priester auf ein von ihnen repräsentiertes „Minderheits“-Selbstverständnis hingewiesen, welches aus dem Minderheitsstatus ein ästhetisches und programmatisches Projekt der eigenen Identitätsabsicherung macht. (vgl. Jacobs 2010, 313-322) Bei manchen Migrationsgemeinden lassen sich angesichts ihrer vieldimensionalen und oft schmerzhaften Minderheitsrealität vergleichbare Abgrenzungsreaktionen finden. Beide Gruppen dürften mit Leichtigkeit theologische oder biblische „Narrative“ in ihr Minderheitskonzept einbauen können („Heiliger Rest“, „Erwähltes Volk“…).

Als Alternative zu einem Minderheitskonzept der Abgrenzung und Aussonderung bietet sich auf der anderen Seite ein Minderheitskonzept an, das sich ökumenisch-dialogisch versteht. Eine solche Minderheit wäre keineswegs „profillos“, sie würde sich aber auch nicht zur Gefangenen ihres eigenen Minderheitsprofils machen lassen. Vielmehr würde sie sich aus einer kontextbewussten Selbstwahrnehmung heraus auf Prozesse ökumenischen Lernens (Ernst Lange) einlassen können. Ohne damit zu rechnen, irgendwann einmal Mehrheit oder gar „Alle“ zu sein, wäre ein Selbstverständnis als Minderheit denkbar, das sich aus der universalen Perspektive des Evangeliums nicht heraus stiehlt, das sich aber auch der eigenen Begrenztheit und kontextuellen Perspektivenbeschränkung bewusst bleibt und von daher in der Pflicht sieht, sich mit den Anderen ökumenisch lernend in Beziehung zu setzen. Minderheitskirchen in Mitteleuropa – solche mit ehemaliger Mainstream-Identität und solche mit den Kennzeichen einer migrantischen Identität – würden so entdecken und bezeugen können, was das Evangelium angesichts einer globalisierten Welt zu sagen hat.

Literatur

Ahrens, T., Gegebenheiten. Missionswissenschaftliche Studien, Frankfurt a.M. 2005.

Collet, G., „Gemeinsam das Evangelium verkünden“. Bemerkungen zur Enteuropäisierung europäischer Christenheit, in: A. Bünker/E. Mundanjohl/L. Weckel/T. Suermann (Hgg.), Gerechtigkeit und Pfingsten. Viele Christentümer und die Aufgabe einer Missionswissenschaft, Ostfildern 2010, 243-266.

Hock, K., Passions-Feier. Kreuzungen der Christentümer als Kreuzwege der Christenheit, in: A. Bünker/E. Mundanjohl/L. Weckel/T. Suermann (Hgg.), Gerechtigkeit und Pfingsten. Viele Christentümer und die Aufgabe einer Missionswissenschaft, Ostfildern 2010, 17-46.

Jacobs, C., Warum sie „anders“ werden. Vorboten einer neuen Generation von Seelsorgern, in: Diakonia 42 (2010), H. 5, 313-322.

Kahl, W., Jesus als Lebensretter. Afrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2007.

Mette, N., „Crossroads“ – Eine Herausforderung für die katholische (Pastoral-)Theologie und Pastoral, in: A. Bünker/E. Mundanjohl/L. Weckel/T. Suermann (Hgg.), Gerechtigkeit und Pfingsten. Viele Christentümer und die Aufgabe einer Missionswissenschaft, Ostfildern 2010, 199-208.

Rahner, K., Theologische Deutung der Position des Christen in der modernen Welt, in: Ders., Sendung und Gnade. Beiträge zur Pastoraltheologie, Innsbruck/Wien/München 31961, 13-47.

9 Ich nutze den Begriff „Migrationsgemeinden“ als Oberbegriff für neuere Migrationskirchen, katholische Missionen etc.

10 Zu neueren Migrationskirchen vgl.: Bergunder, M./Haustein, J. (Hgg.), Migration und Identität. Pfingstlich-charismatische Migrationsgemeinden in Deutschland, Frankfurt a.M. 2006; Währisch-Oblau, C., The Missionary Self-Perception of Pentecostal/Charismatic Church Leaders from the Global South in Europe. Bringing back the Gospel, Leiden/Boston 2009; Röthlisberger, S./Wüthrich, M.D., Neue Migrationskirchen in der Schweiz, Bern 2009.

Ulrich Kuhnke
Heimatrecht für den Samariter Ein Plädoyer

Als ich einmal den Pfarrer einer Ruhrgebietsgemeinde, die mit ihren sozialen Einrichtungen die größte Arbeitgeberin der Stadt ist, fragte, was denn das Christliche eines Krankenhauses oder einer Alteneinrichtung sei, gab er mir zur Antwort: die Qualität der Pflege; und deshalb sei das Entscheidende für die Profilbildung der kirchlichen Diakonie, in ihr Personal zu investieren. Diese Antwort mag überraschen, sehen viele doch gerade darin das Problem, dass sich die diakonischen Organisationen von Wertegemeinschaften zu Dienstleistungsunternehmen gewandelt haben, in denen fachliche Qualitätsmerkmale weltanschauliche Motive überlagern, wenn nicht verdrängen. Eine gut funktionierende Einrichtung der Kirche ist dann eben nicht mehr zu unterscheiden von einer ebenso qualitätvollen Einrichtung eines nichtkirchlichen Trägers. Leitbildprozesse, die dieses Identitätsproblem lösen wollen, erscheinen dann oftmals als Versuch einer Ideologisierung, die im Alltagshandeln und Bewusstsein der Subjekte keinerlei Relevanz besitzt.

Die zitierte Antwort könnte noch in einer anderen Weise missverstanden werden: Wenn schon eine Institution nicht ausweisen kann, worin ihre christliche Identität besteht, dann sollen wenigsten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch den Motivhintergrund ihres beruflichen Handelns diese Identität verbürgen. Diese Strategie, das christliche Proprium zu retten, wäre erst recht problematisch. Eine Umfrage des Allensbach-Instituts, die der Caritasverband im Zusammenhang seines Leitbildprozesses Ende der 90-er Jahre in Auftrag gegeben hatte, hat schon damals gezeigt, dass ein nicht geringer Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Motive, die den eigenen Glauben betreffen, nicht mit ihrer beruflichen Praxis in Zusammenhang bringen (wollen). Nur etwas mehr als der Hälfte der Befragten (57%) war dieser Zusammenhang wirklich wichtig.

Fragte man heutige Studierende der Sozialen Arbeit oder der Pflegewissenschaft, wie wichtig es ihnen ist, dass sie den Glauben bei ihrer Arbeit mit einbringen können, dann ist zu vermuten, dass das Ergebnis noch deutlicher ausfiele. Wenn ich meinen Studentinnen und Studenten diese Frage als Einstieg in eine Seminardiskussion vorlege, erhalte ich in der Regel folgende Antworten: Je nach Zusammensetzung des Seminars, die bereits durch das Interesse für theologische oder ethische Fragen beeinflusst ist, antworten nur noch 10 – 15 %, dass ihnen das „Einbringen des Glaubens“ wichtig ist, die übrigen Antworten teilen sich in etwa auf zwischen „nicht so wichtig“ und „gar nicht wichtig“. Nun könnte man vermuten, dass nicht alle, die so geantwortet haben, bei einem kirchlichen Träger arbeiten möchten. Genau dies ist aber der Fall: 90 – 95 % der Seminarteilnehmerinnen und Seminarteilnehmer können sich vorstellen, in einer Einrichtung des Caritasverbandes oder des Diakonischen Werkes zu arbeiten, wobei 50 – 65 % einen nichtkirchlichen Träger vorziehen würden.

Die kirchlichen Arbeitgeber müssen also damit rechnen, dass sie in Zukunft auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen sein werden, denen es kaum oder gar nicht wichtig ist, ihre berufliche Tätigkeit mit ihrem Glauben in Verbindung zu bringen. 60 – 75 % können sich sogar einen Caritasverband oder ein Diakonisches Werk ohne Bindung an die Kirche vorstellen. Damit entfällt nicht nur die Möglichkeit, die Identitätsfrage christlicher Diakonie auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verlagern. Die Kirchendistanz, die in den Umfragewerten enthalten ist, erzeugt auch ein nicht unerhebliches Konfliktpotential, unterliegen die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter doch innerhalb des „Organisationssegments“ der Kirchen normativen Erwartungen, die in anderen Bereichen der Kirche und erst recht der Gesellschaft nicht mehr plausibel sind.

Folgt man dem bekannten Diktum Dietrich Bonhoeffers, dass Kirche nur Kirche ist, wenn sie für andere da ist, dann handelt es sich hier aber nicht mehr nur um ein Identitätsproblem der diakonischen Einrichtungen. Vielmehr ist es ein ekklesiologisches Problem, wenn eine für das Kirchesein der Kirche konstitutive Grundfunktion weithin von Menschen erfüllt wird, die zur Kirche auf Distanz gehen oder gar nicht zu ihr gehören wollen.

Als Unterbrechung dieser widersprüchlichen Praxis ist auf die Erzählung vom Samariter (vgl. Lk 10,30-35) zu verweisen. Die Erzählung, mit der im Lukasevangelium geradezu modellhaft erläutert wird, was christliche Praxis in ihrem Kern bedeutet, ist geprägt von dem Kontrast zwischen denen, die blind sind für die Not anderer und demjenigen, der die Not wahrnimmt und Not wendend handelt. Es ist bis heute irritierend, dass dieser Kontrast mit Figuren aufgebaut wird, deren Rollen auch religiös definiert sind. Während einige einen antiklerikalen, mindestens kultkritischen Akzent heraushören, versuchen die anderen Gründe anzuführen, die die Priester in der Geschichte entlasten könnten. Ich vermute hingegen, dass mit der Einführung von Priester und Levit hintergründig die theologische Aussage der Erzählung angelegt ist, die ja ansonsten ganz und gar profan bleibt. Wenn diejenigen, die für die Verrichtung des Kultes zuständig sind, nicht in der Lage sind, richtig zu sehen und richtig zu handeln, ist damit die Frage des Gottesdienstes, die Frage, wie Gott gedient wird, in die Geschichte eingetragen. Diese Frage entscheidet sich an der Compassion, also der Wahrnehmung der anderen in ihrem Leid. Dass im Kontrast zu den religiösen Repräsentanten ein Andersgläubiger, der andere schlechthin, zum Vorbild dieser Praxis wird, ist bis heute provokant und gerade darin für die aufgezeigte Aporie christlicher Diakonie bedeutsam.

Dann nämlich ist es für den christlichen Charakter diakonischer Praxis unerheblich, von wem und mit welchem Glauben sie ausgeübt wird. Allein entscheidend ist, dass sie im Blick auf den anderen, auf seine Notsituation erfolgt. Dies schließt, wie die Samaritererzählung auch belegt, unbedingt die Qualität des Handelns ein. Was dort in einer Reihe von drei mal drei Verben11 als ideale Praxis vorgestellt wird, entspricht auch fachlich einer richtigen Erstversorgung, von der Desinfektion und dem Verbinden der Wunde, über den Krankentransport bis hin zur Delegation an den Fachmann, einschließlich der Kostenübernahme. Der eingangs zitierte Pfarrer hat also Recht: Es ist die Qualität der Pflege, die mit Blick auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten erfolgt, in der sich der christliche Charakter eines Krankenhauses offenbart. Das Gleiche gilt selbstverständlich für jede andere Form helfender Beziehung.

Voraussetzung dafür, dass Menschen in diesem Geiste, der kein anderer als der Geist Jesu ist, arbeiten können, ist allerdings, dass ihnen dafür auch der Freiraum eingeräumt wird. Es kann nicht sein, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diakonischen Einrichtungen ihre tatsächlichen Einstellungen oder persönliche Lebensführung verbergen müssen, wenn diese kirchlichen Normen widersprechen. Offenheit ist ganz besonders dann gefordert, wenn ethische Fragen anstehen oder die tragenden Motive der diakonischen Praxis zur Sprache kommen. Sowohl für das Selbstverständnis der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für das gemeinsame Selbstverständnis im Team, in einer Abteilung, einer Einrichtung, eines Verbandes ist es unerlässlich, dass die eigentlichen Beweggründe zur Sprache kommen können. Dies allerdings erfordert eine herrschaftsfreie Kommunikation, in der sich die einzelnen so wahrgenommen fühlen, wie dies der Compassion in ihrer Praxis entspricht.

Vielleicht ist es dann sogar möglich, die Tiefendimension diakonischer Praxis auszuloten. Ob die christliche Tradition zum Verstehen dieser Tiefendimension etwas beizutragen hat, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es gelingt, diese in einer Sprache zu formulieren, die kirchlich Distanzierten nicht zu fremd und entfremdend ist. Hier wäre noch einmal an Dietrich Bonhoeffer zu erinnern, der in seiner Tegeler Theologie nicht nur gefordert hat, dass die Kirche für andere da zu sein hat, sondern dass Christinnen und Christen lernen müssen, weltlich von Gott zu sprechen. Er dachte an eine ganz und gar unreligiöse Sprache, die aber wie die Sprache Jesu befreiend und erlösend ist: „die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündet“ (Bonhoeffer 1997, 157). Wie sollen Christinnen und Christen diese neue Sprache lernen, in der sie sich und ihren Glauben verstehen können, wenn nicht mit all denen zusammen, die sich für das Kommen dieses Reiches der Gerechtigkeit und des Friedens diakonisch-praktisch einsetzen?