Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

2„Wie“ und „was“? – Erkenntnistheoretische und gegenstandsbezogene Fragen von Fallverstehen und sozialpädagogischer Diagnostik

Der in Kapitel 1 geschilderte Fall macht deutlich, dass für Fachkräfte Sozialer Arbeit eine Vielzahl von Fragen zu bearbeiten sind, um in einem Fall wie z. B. der Familie Kramer zu klären, welche Unterstützung benötigt wird und ob gleichzeitig aus Sicht der Fachkräfte gesichert ist, dass die Kinder maßgeblich durch ihre Eltern ausreichend gut versorgt werden, sowohl real als auch emotional und entwicklungsbezogen. Für die Arbeit mit Familie Kramer ist z. B. zu klären, ob die Großmutter noch ausreichend Kraft dazu hat, die beiden pubertierenden Enkeltöchter zu erziehen, oder ob die Mädchen bei ihrer Mutter wirklich einen Ort finden würden, an dem sie weiter heranwachsen und leben können. Ist die Mutter ausreichend zugewandt, zuverlässig und auch in der Zusammenarbeit mit den Fachkräften kooperativ? Und was brauchen und wollen die Mädchen?

Fallunabhängig und disziplinbezogen stellen sich hinsichtlich der Einzelfall­arbeit zwei wesentliche Grundfragen, mit denen sich dieses Kapitel beschäftigt. Der Blick wird erstens darauf gerichtet werden, wie sich Erkenntnisgewinn in der Sozialen Arbeit überhaupt vollzieht und welche methodischen Anforderungen sich stellen, und zweitens, was genau der Gegenstand des Erkenntnisprozesses ist. Angesprochen werden dabei zudem einige generelle Fragen methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit.

2.1 Wie und auf welchem Weg wird Wissen erworben? – Erkenntnistheoretische Grundfragen

Unabhängig von einem spezifischen Konzept für Fallverstehen und Diagnostik geht es bei der Analyse und Erforschung sozialer Phänomene immer um die Erklärung, auf welchen professionellen Wegen neue Einsichten gewonnen und somit erkenntnistheoretische Grundfragen beantwortet werden. Einige Ausführungen zur grundsätzlichen Problematik des Erkenntnisgewinns und der Deutung sozialer Sachverhalte und Prozesse leiten dieses Kapitel ein, sodass besser eingeordnet werden kann, wie das hier vorgestellte Konzept diese grundsätzlichen Fragen berücksichtigt.

Wahrnehmung folgt unbewussten Routinen

Menschliche Wahrnehmung folgt im Alltag einem Automatismus. Menschen nehmen – geleitet durch die eigene Aufmerksamkeitsrichtung – in ihrer Umgebung etwas wahr und verbinden damit unbewusst direkt eine Deutung bzw. Bewertung, meist auch ein Gefühl: Eine rote Ampel löst direkt die Bewertung aus, stehenbleiben zu müssen und zu warten. Ein Gefühl von Sicherheit („Ich weiß, was zu tun ist.“) oder von Unmut („Ich werde reglementiert, obwohl die Straße weit und breit leer ist.“) kann damit verbunden sein. Ein unbekannter Mensch betritt den Raum und wird von einem Anwesenden als fremd, aber z. B. zugleich als sympathisch wahrgenommen. Eine Lehrerin sieht im Winter ein Kind mit zu dünner Jacke den Klassenraum betreten und stellt kurz darauf fest, dass es auch kein Frühstück dabei hat. Schnell kommt ihr die Assoziation, dass die Eltern das Kind nicht gut im Blick haben.

Menschliches Erleben und Verhalten wird somit geleitet von subjektiv geprägten Wahrnehmungen, damit verbundenen Bewertungen sowie Emotionen. Dies ermöglicht Menschen durch entwickelte Routinen, den eigenen Alltag und dessen vielfältige Anforderungen zu bewältigen, Prozesse des Nachdenkens werden abgekürzt. Gleichzeitig aber verengt es den eigenen Blick und klammert insbesondere Deutungen aus, die jenseits der eigenen Wahrnehmungsroutinen liegen. Die eigene Sichtweise wird schnell für die richtige oder einzig denkbare gehalten, weil der Blick nicht systematisch geweitet und bedacht wird, wie ein Phänomen oder ein sozialer Sachverhalt noch interpretiert werden könnte. Professionelles Wahrnehmen und Deuten sowie wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn müssen dies jedoch bewusst und für Dritte nachvollziehbar tun, um die Vielfalt an Perspektiven auf eine Situation zu entfalten und sukzessiv Hinweise darauf zu finden, wie etwas fachlich eingeschätzt werden kann und ob diese fachliche Bewertung (verstanden als Hypothese) einer intersubjektiven Überprüfung standhält. Gleichzeitig gilt es, gerade in der Praxis Sozialer Arbeit, für diesen Prozess methodische Wege zu finden, die im Berufsalltag machbar sind und Fachkräfte handlungsfähig sein lassen, insbesondere in Belastungs- und Krisensituationen, in denen Zeit ein wichtiger Faktor ist. Das Grundproblem ist also der Umgang mit Komplexität.

Grundproblem: Erhöhung und Reduktion von Komplexität

Wie jeder Prozess empirischen Erkenntnisgewinns, so haben auch Prozesse des Fallverstehens oder der Diagnose ein erkenntnislogisches Grundproblem zu lösen (vgl. hierzu z. B. Wright 2008; Eberhard 1999; Kron 1999; als Einführung: Dewe/Otto 2018).

Zuerst muss der „analytische Blick“ erweitert, die Komplexität erhöht werden, damit überhaupt etwas Neues gesehen und wahrgenommen werden kann und nicht nur schon Bekanntes bestätigt wird.

Ist auf diese Weise ausreichend Material für erweiternde Erkenntnisse gewonnen, muss der Blick wieder enggeführt werden, um aus der Vielfalt der Wahrnehmungen die für zentral gehaltenen Zusammenhänge herauszuarbeiten. Gelingt diese Reduktion von Komplexität nicht, so verschwinden mögliche Befunde in einer Vielzahl unverbundener und unverstandener Beobachtungen.

Dieses Grundproblem (Abb. 3) trifft gleichermaßen für analytisch-quantifizierende wie für hermeneutisch-qualitative Forschungs-, Verstehens- und Diagnoseprozesse zu. Durch geregelte Arbeitsabläufe und rationale Methoden muss in jedem Falle gesichert werden, dass Erkenntnisse systematisch gewonnen und nachvollziehbar begründet herausgearbeitet werden (vgl. einführend: Bock/Miethe 2018; Micheel 2018).


Abb. 3: Erhöhung und Reduktion von Komplexität

Für den Ablauf und die Methodik fallanalytischer Prozesse in der Sozialen Arbeit soll versucht werden, die Bedeutung dieser erkenntnislogischen Problematik und sich daraus ergebende, handlungsbezogene Fragen mit Bezügen zur Fallgeschichte der Familie Kramer anschaulich zu machen.

der „erste Eindruck“

Der „erste Eindruck“ lenkt den Blick.

Problem: einseitige, weil nicht bewusste Fokussierung und Steuerung der Wahrnehmung und Interpretation

Am Anfang jedes fallanalytischen bzw. diagnostischen Prozesses, wie distanziert der erste Kontakt auch sein mag, steht immer ein erster Eindruck, eine Anfangsidee über mögliche Zusammenhänge und Begründungen. Entscheidend ist, dass solche ersten Eindrücke und Ideen als Ausgangshypothesen bewusst werden, denn sie lassen aufmerksam werden und steuern den Blick der Erkenntnis, repräsentieren aber gleichzeitig auch nur eine Sicht der „Wirklichkeit“.


Die ersten Eindrücke im Fall der Familie Kramer lenken den Blick der neu zuständig werdenden Fachkraft sehr auf die Großmutter, die eine sich kümmernde, aber nach dem Tod ihres Mannes doch zunehmend erschöpfter werdende Frau zu sein scheint. Sie tut alles dafür, ihre beiden Enkeltöchter gut aufwachsen zu lassen und die Unzuverlässigkeit der Mutter der Mädchen ausgleichen zu wollen. Die Mutter von Elsa und Maria hat mit Ende 20 die beiden Töchter geboren, die Väter sind zwei unterschiedliche Männer – „und das in kurzem Abstand“. Frau Kramer junior ist psychisch labil, kann die Töchter nach der Trennung von ihren Partnern nicht allein versorgen, die Großmutter springt ein. Die Mutter der beiden Mädchen, „funkt aber immer wieder dazwischen“, lässt die Kinder bei der Oma nicht zur Ruhe kommen. Zwischenzeitlich leben die beiden Mädchen für kurze Zeiten bei ihr, dann aber ist Frau Kramer junior „auch mal wieder einige Wochen in der Psychiatrie“. Die beteiligten PädagogInnen interessieren sich zunächst vor allem für das erzieherische Unvermögen der Kindsmutter und ihre psychischen Ausfälle. Der verstehende Zugang zum Fall und der diagnostische Blick werden gelenkt von der Idee und/oder dem Wunsch, die Großmutter zu stützen und den beiden Mädchen ein „heiles Zuhause“ zu ermöglichen, ihre Mutter möge „doch bloß nicht ständig die jeweiligen Situationen aufmischen“, zumal sie sich gegenüber den Fachkräften und dem Hilfesystem skeptisch bis ablehnend verhält. Die Zusammenarbeit mit ihr ist anstrengend. Diese Eindrücke und Emotionen leiten zunächst das Fallverstehen, ermöglichen Zugänge ebenso wie sie diese verstellen (können).

Die zu Beginn des Verstehens eher vorbewusste, notwendige und zugleich verengende Fokussierung lässt sich gut an einer möglichen, andersartigen Interpretation des Falles zeigen:


Gesehen werden könnte Frau Kramer junior auch als erwachsene Frau, die über die eigene Lebensgeschichte psychisch erkrankt ist, aber versucht, ihre Töchter emotional nicht an deren Großmutter zu verlieren. Ihr Leben war für die Mutter von Elsa und Maria schon immer schwierig. Ihr Vater hat viel getrunken, ihre Eltern hatten oft lauten Streit, manchmal auch körperliche Auseinandersetzungen. Ihre Mutter hat sich dann oft zurückgezogen, war manchmal sogar ein paar Tage weg und hat sich dann nicht um sie gekümmert. Dann war sie mit dem Vater allein, der oft grob war und nicht verstehen konnte, dass sie die Mutter vermisst hat. Essen gab es dann auch nicht regelmäßig. Ihr hat er dann die Schuld gegeben, dass die Eltern sich so oft gestritten haben. Jetzt will sie für ihre Töchter eine gute Mutter sein, aber die eigene Mutter weiß es immer besser, hat es sogar geschafft, dass die Töchter schon seit Jahren bei ihr groß werden. Die Leute vom Jugendamt hat sie auch davon überzeugt, dass das richtig sei. Die Kinder hat man ihr weggenommen, obwohl sie die beiden sehr liebt. Wenn – so die Sicht der Mutter – die Profis doch nur sehen könnten, dass die Großmutter eigentlich Schuld ist an dem ganzen Problem, „weil sie mich als Kind nicht gesehen und manchmal allein gelassen hat. Da musste ich mir eine andere Welt schaffen und jetzt komme ich manchmal nicht klar. Aber zum Glück habe ich meinen neuen Partner kennen gelernt. Mit ihm kann es vielleicht gut gelingen, auch mit den Mädchen. Und manchmal hilft mir ja auch meine Mutter“.

 

Auch diese mögliche Lesart des Falls ist zunächst nur eine Perspektive, der die Fachkräfte folgen könnten. Sie zeigt, wie bedeutsam und folgenreich unterschiedliche Wahrnehmungen und eher assoziative Deutungen für die eigene Einschätzung sein können. Die ersten Anfangsvermutungen, ob Frau Kramer junior z. B. als „schlechte, psychisch erkrankte Mutter“ zu sehen ist oder als „am Unvermögen und der Vernachlässigung durch die eigenen Eltern krank gewordene Frau, die in emotional stabilen Phasen alles daransetzt, sich gut um ihre beiden Mädchen zu kümmern“, sagen mehr über die jeweils eigene Sicht der Dinge, jedoch wenig über das tatsächliche Geschehen und noch weniger über mögliche, brauchbare und tragfähige Erklärungen aus. Aber ohne diese Anfangsvermutungen kann – nicht nur in diesem Fall – aus der Vielfalt der Ereignisse und Eindrücke nichts „herausgelesen“ werden. Jede Erkenntnis hat und braucht die den Blick lenkende Steuerung des ersten Eindrucks, die sich in professionellen Zusammenhängen sicher aus der eigenen Aufgabe und dem Auftrag ergibt, aber auch aus dem persönlichen, zunächst meist assoziativen Zugang zu einem sozialen Sachverhalt. Entscheidend ist, sich der Bedeutung und Begrenztheit solcher Ausgangshypothesen bewusst zu werden.

Komplexität erhöhen

Den professionellen Blick weiten

Die Komplexität muss zunächst durch systematische oder explorative Strategien der Informationsbeschaffung erweitert werden (= Öffnung).

Problem: Kriterien und Verfahren der Datensammlung: Zugänglichkeit, Angemessenheit und Vollständigkeit

Der zweite Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis besteht darin, von einer möglichst expliziten und reflektierten Eingangsvermutung aus den Blick zu öffnen, um den Gegenstand aus möglichst vielen Perspektiven „neu“ anschauen zu können. Angesichts der prinzipiellen Unendlichkeit möglicher Informationen besteht das zentrale Erkenntnisproblem an dieser Stelle darin, das jeweils richtige Verhältnis von Quantität und Qualität neuer Informationen zu finden: Einerseits sollen so viele neue Informationen wie möglich einbezogen werden, das Bild soll so vollständig und vielfältig wie möglich sein. Andererseits soll gewährleistet werden, dass alle relevanten Informationen auch erfasst und dokumentiert werden können, dass in der möglichen Fülle nichts „Wesentliches“ übersehen wird. Was genau braucht es an Wissen, wie viel und wann ist es genug? Aus der Methodologie wissenschaftlicher Forschung kennen wir unterschiedliche Wege, dieses Dilemma zu lösen.

Systematisch wissens- und hypothesengeleitete Verfahren versuchen, aus dem verfügbaren Erkenntnisstand der Forschung und Theoriebildung begründete Zusammenhangsvermutungen (Hypothesen) möglichst präzise zu formulieren. Aus diesen Hypothesen sollen dann relevante Untersuchungsmerkmale abgeleitet werden. So wird sichergestellt, dass alle für wesentlich gehaltenen Aspekte auch tatsächlich in den Blick genommen werden. Eine möglichst objektive, von der erhebenden Person unabhängige Datenbeschaffung ist das Ziel. Strukturierte Anamnesebögen, differenzierte Diagnoseraster (z. B. Bayrisches Landesjugendamt (Hrsg.) 2013, 2001) und Kategoriensysteme (z. B. das psychiatrische Diagnosesystem ICD 10, engl. = International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems; wichtigstes, weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen) oder standardisierte psychologische Testverfahren sind die gängigen Instrumente dieser Strategie. Das Vorgehen ist eher deduktiv. Die Stärke dieser Strategie in der fallanalytischen Praxis ist der strukturierte und gezielt eingegrenzte Blick auf das, was für wesentlich gehalten wird. Dies ist gleichzeitig die Schwäche, wenn erstens der Stand der Theoriebildung keine sicheren Aussagen über das, was wesentlich ist, zulässt, und zweitens die Einmaligkeit und Komplexität eines sozialen Phänomens kategorial immer nur begrenzt erfasst werden kann. Wie oben gezeigt, ist gerade diese Unbestimmtheit und Ungewissheit ein bedeutsames Merkmal der Lebenssituationen, mit denen Soziale Arbeit und Jugendhilfe befasst sind.

Der andere Weg lässt sich als explorative Strategie, als eine qualitative Such- und Erkundungsmethodik bezeichnen. Möglichst vielfältige, durch den/die ForscherIn oder den/die analysierende/n PädagogIn wenig beeinflusste Informationen, Einschätzungen und Daten sollen zusammengetragen werden. Gesucht wird nicht die Bestätigung einer vorgegebenen, vermuteten Zusammenhangsstruktur, sondern Anhaltspunkte für immanente Muster, gesucht wird nach subjektiven Konstrukten, Eigenlogik und -dynamik. Die Erhebungsmethoden dieser Strategie sollen möglichst offen sein, sollen Beobachtungen und Selbstauskünfte so wenig wie möglich durch vorgegebene Kriterien und Instrumente beeinflussen. Selbstaussagen eines narrativen Interviews oder nicht für den Zweck der Analyse erstellte autobiografische Texte (z. B. Tagebücher, Briefe) sind bevorzugtes Material. Auch hier ist die Stärke dieser Untersuchungsstrategie, ihre Offenheit und Zugänglichkeit für jede nur denkbare Information, zugleich ihre Schwäche: Im „Dickicht“ widersprüchlicher Informationen und Selbstdeutungen droht der distanzierte Blick des/der ForscherIn auf die grundlegenden Zusammenhänge verstellt zu werden – für qualitative Biografieforschung mag dies noch ein akzeptables Risiko sein, nicht aber für sozialpädagogische Analysen in Feldern der Jugendhilfe und des Kinderschutzes.

Beide Strategien haben für die Aufgaben sozialpädagogischen Fallverstehens also zweifellos Stärken, zeigen aber auch deutliche Schwächen und es scheint so, als seien diese reziprok, die Stärke der ersten, die systematisch begründete Konzentration auf das Wesentliche, ist die Schwäche der Zweiten und umgekehrt. Am Fall der Familie Kramer wird deutlich, wie begrenzt jede der vorgenannten Erhebungs- und Suchstrategien für ein sozialpädagogisches Fallverstehen ist:

Objektiv zu erhebende Informationen über z. B. das Ausmaß der psychischen Erkrankung von Frau Kramer oder ihre Einschränkungen in der Erziehungsfähigkeit orientieren sich berechtigt, aber einseitig an Normalitätserwartungen. Wie wenig die Lebenserfahrungen der Familie Kramer diesen Vorstellungen entsprechen und welche Bedeutung bestimmte Ereignisse für sie haben, davon haben wir erst eine schwache Ahnung.

Ebenso begrenzt sind die Versuche, aus den Erzählungen und Selbstdeutungen, die z. B. die Familienmitglieder anbieten, zu einem umfassenden bzw. ausreichenden Verstehen zu gelangen. Die Vermutung, dass für eine Familie in lang andauernder Krise „Dichtung und Wahrheit“, also gezielte Konstruktion eines gewünschten Lebenslaufs und verarbeitende Deutung realer Erfahrungen und Ereignisse nur noch schwer zu trennen sind, bedingt die Notwendigkeit systematischen Zusammentragens von Daten, Fakten, realen Lebensereignissen. Dann besteht die Aufgabe darin, diese vor dem Hintergrund kindlicher Bedürfnisse möglichst objektiv zu bewerten.

Im eingangs geschilderten Fall verspricht erst eine Kombination und Ergänzung beider Erhebungsstrategien eine weiterführende Erkenntnis; es geht um analytisches Durchblicken und systematisches Dokumentieren ebenso wie um offenes und einfühlendes Verstehen.

Komplexität reduzieren

Den Blick fokussieren

Nach der Perspektiverweiterung muss die entfaltete Komplexität durch Verteilungsparameter, Klassifikation/Typologie, Rekonstruktion von Mustern etc. wieder auf ein bearbeitbares, handlungsorientiertes Maß reduziert werden (= Schließung).

Problem: Rationalität und Legitimität der Verfahren zur Informationsverdichtung

In der nächsten Arbeitsphase jedes Forschungs- und Diagnoseprozesses geht es darum, die eröffnete Vielschichtigkeit und Komplexität wieder auf ein überschaubares und handlungsorientiertes Maß zu reduzieren. Die erweiterten Kenntnisse und Einblicke aus Informationen und Daten, wie sie durch Erhebungslisten, Untersuchungen, Befragungen, Interviews oder Gesprächen gewonnen wurden, müssen wieder „sinnvoll“ verdichtet werden. Auch für diesen Schritt des Erkenntnisgewinns stehen je nach Datenlage unterschiedliche Verfahren und Methoden zur Auswahl:

Statistische Verteilungsparameter herausarbeiten, wie Mittelwerte, Standardabweichungen, Korrelationen etc.

Zuordnung und Abgleich mit Normalitätskonzepten, z. B. altersgemäße Stufen körperlicher, psychischer oder sozialer Entwicklung, um ggf. den Grad der Abweichung festzustellen

Rekonstruktion von Mustern und Regeln in der subjektiven Gestaltung von Lebenslauf und der Bedeutung von Lebensthemen

In der medizinisch-psychiatrischen und z. T. auch psychologischen Diagnostik werden eher die ersten beiden Strategien verwandt, in anderen Richtungen der Psychologie und auch in der psychoanalytischen sowie (sozial-)pädagogischen Deutung wird den qualitativen Strategien mehr zugetraut. Jede diese Strategien zur Reduktion von Komplexität hat ihre Vor- und Nachteile, alle führen zu Verkürzungen und bilden die zuvor noch möglichst vielfältig erfasste Wirklichkeit nur begrenzt ab. Aber genau das ist ihre Aufgabe, ohne eine Verdichtung und Verkürzung auf „das Wesentliche“ verstellt die Vielzahl der Informationen den Blick oder das gewonnene Wissen bleibt additiv nebeneinander stehen.

Eine Schwäche sozialpädagogischer Deutungsprozesse ist nicht selten, dass für diese unumgängliche Arbeitsphase der Zusammenfassung und Interpretation zuvor gesammelter Informationen und Einschätzungen keine ausreichend gesicherten und anerkannten Verfahren genutzt werden. So kann der Eindruck entstehen, die Zusammenfassung und Deutung seien zufällig und subjektiv. In Beratungen und Fallbesprechungen ist z. B. häufiger zu erleben, dass sozialpädagogische Fachkräfte in unsicheren Deutungssituationen dazu neigen, die Komplexität wieder vervielfältigen zu wollen. Wenn die Einschätzung einer Familie oder der Lebenssituation eines Kindes auf eine zusammenfassende Deutung drängt, man sich aber unsicher ist, tauchen häufiger solche Fragen auf: „Haben wir denn schon genug gesehen, haben wir schon alles erfragt, was wichtig sein könnte, müssen wir uns nicht noch mehr Informationen beschaffen?“ So richtig es sein kann, in der Deutung und Interpretation auf bisher nicht gestellte Fragen zu stoßen, für deren Beantwortung mehr und neue Informationen gebraucht werden, so falsch ist es, sich auf diese Weise vor einer ggf. folgenreichen Deutung und der damit einhergehenden professionellen Verantwortlichkeit „zu drücken“.

Deutlich wird, dass eine umfangreiche Informationssammlung allein noch keine fallverstehende bzw. diagnostische Erkenntnis ist, auch wenn diese durchaus darin „verborgen“ sein kann. Erst durch Zusammenfassung, das Herstellen von Zusammenhängen und durch Interpretation werden aus gesammelten Informationen neue Erkenntnisse oder Diagnosen. Wie in den jeweiligen Forschungs- oder Diagnosestrategien diese Reduktion von Komplexität methodisch bearbeitet und auf welche theoretischen Konzepte für die Erklärung von Zusammenhängen dabei zurückgegriffen wird, ist daher ebenso entscheidend für die Qualität und praktische Brauchbarkeit der Verfahren wie die Vielfalt der erhobenen Informationen und die konkret genutzten Instrumente. Nur Informationen, die auch gedeutet werden, können verstanden werden und somit zur Erkenntnis und Hypothesenbildung beitragen.

 

Das Grundproblem aller Interpretationsleistungen bleibt aber trotz aller methodischen Ausgewiesenheit und theoretischen Begründung die Subjektivität jeder menschlichen Deutung. Dies gilt für die Ausdeutung statistischer Kennzahlen ebenso wie für das Verständnis biografischer Interviewpassagen. Die unterschiedlichen diagnostischen Verfahren unterscheiden sich in der Begründung und Anwendung insbesondere darin, wie sie versuchen, den „subjektiven Faktor“ durch Methodik zu kontrollieren, ob eher durch Begrenzung bis hin zum behaupteten Ausschluss oder durch gezielte Ausbildung, Pflege und Nutzung (vgl. anschaulich: Hege 2001; Kap. 5).

Handlungsoptionen begründen und Handlungssicherheit stärken

Konsequenzen aus den gewonnenen Erkenntnissen ziehen, d. h. Handlungsoptionen begründen und entscheiden

Problem: ausreichende Konkretheit von Erkenntnissen für Handeln und ethische Verantwortung für deren Nutzung

Die abschließende Aufgabe jedes Erkenntnisprozesses ist es, mögliche Verwertungen abzuwägen. Die Erwartung und ggf. auch der Druck, zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen, sind unterschiedlich. Wissenschaftliche Erkenntnisprozesse der Grundlagenforschung unterliegen dabei anderen Verwertungsinteressen als solche in finanzierter Auftragsforschung oder eben eines fallanalytischen Erkenntnisgewinns im Rahmen jugendhilferechtlicher Aufgaben. Gerade in der konkreten Fallbearbeitung ist es dabei ganz wesentlich, dass das systematische Verstehen und Diagnostizieren in konkrete nächste Handlungsideen für den weiteren Fallverlauf mündet. Ebenso müssen die genutzten Konzepte sowohl fundiert und nachvollziehbar wie robust und alltagstauglich sein. Allen Erkenntniszusammenhängen gemein ist allerdings, dass es „wertfreie“ Erkenntnisse nicht gibt, sondern jede/r ForscherIn und jede/r „DiagnostikerIn“ spätestens an dieser Stelle nicht nur mit der wissenschaftlichen oder professionellen Verantwortung für die Grundlagen und Instrumente, sondern auch mit der ethischen und/oder fallbezogenen Verantwortung für die Ergebnisse konfrontiert ist.

2.2 Was muss verstanden und diagnostiziert werden? – Gegenstandsbezogene Grundfragen

Neben der Frage, wie Erkenntnisse in professionellen Zusammenhängen gewonnen werden, ist auch bedeutsam, was für den zentralen Gegenstand des Erkenntnisprozesses gehalten wird. Was ganz konkret muss verstanden werden in der Sozialen Arbeit bzw. der Einzelfallarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe? Der Gegenstand fallanalytischer Prozesse wird in diesem Kapitel genauer beschrieben (Kap. 2.2.3): Was ist der Fall?

Vorgeschaltet wird der Frage zum besseren Verständnis die Einordnung von Fallverstehen und Diagnostik in die Tradition der Einzelfallarbeit (Kap. 2.2.1) sowie die Klärung der hier genutzten Begrifflichkeiten für diese Prozesse (Kap. 2.2.2).

2.2.1 Fallverstehen und Diagnostik in der Tradition der Einzelfallarbeit

Einzelfallarbeit in den erzieherischen Hilfen

In der Kinder- und Jugendhilfe stehen häufig Einzelfälle im Mittelpunkt. Bei der Einzelfallarbeit in den erzieherischen Hilfen geht es vor allem darum, Kinder, Jugendliche und ihre Familien in Belastungs- und Krisensituationen zu unterstützen. Das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) wird dabei von der Grundannahme geleitet, dass das Aufwachsen von Kindern sowie die damit verbundenen Aufgaben der Versorgung und Erziehung junger Menschen durch ihre Eltern in einer zunehmend individualisierten und pluralisierten Gesellschaft komplex und mitunter kompliziert sind. Sie können für die Beteiligten schwierig werden, weshalb der Gesetzgeber in bestimmten Lebenssituationen die Unterstützung durch die „staatliche Gemeinschaft“ als selbstverständlich ansieht. Anders als in früheren Gesetzen (z. B. dem Jugendwohlfahrtsgesetz als „Vorgänger“ des SGB VIII) geht unsere Gesellschaft und Gesetzgebung heute davon aus, dass es generell bestimmter Leitungen bedarf, die familiäres Zusammenleben unterstützen, weil die Anforderungen an Eltern und Familien groß sind. Unterschieden werden dabei Angebote der sozialen Infrastruktur wie z. B. Kindertageseinrichtungen, Jugendzentren oder Familienbildungsstätten, von Angeboten, die in spezifischen Belastungssituationen zum Tragen kommen. Für letztere gilt ein individueller Rechtsanspruch, sofern ein „erzieherischer Bedarf“ vorliegt, den der öffentliche Träger der Jugendhilfe, das Jugendamt, im Rahmen der Hilfeplanung gem. § 36 SGB VIII prüft (vgl. Kap. 4.2.1).

Diese Arbeit im bzw. mit dem Einzelfall hat in der Sozialen Arbeit eine lange Tradition (Galuske 2013; Müller 2012; von Spiegel 2018). Neben der Arbeit mit Gruppen und der Gemeinwesenarbeit zählt sie als dritte Form methodischen Handelns zur klassischen Methodentrias der Sozialen Arbeit. Obwohl es mittlerweile auch andere Ordnungsvorschläge für die vielfältigen Handlungskonzepte und Methoden gibt (Galuske/Müller 2012), ist unbestritten, dass der Bezug zum (Einzel-)Fall für Profession und Disziplin grundlegend ist. Als „Fall“ ist dabei nicht nur die Arbeit mit einer einzelnen Person zu bezeichnen, sondern auch die Arbeit mit einer Gruppe, einem System oder einer Organisation. Fallarbeit bzw. die Gestaltung derselben beschäftigt sich in dem Zusammenhang mit der Frage, wie in einem Fall professionell, d. h. vor allem systematisch und methodengeleitet, gearbeitet werden kann.

Hier unterscheidet sich Fallarbeit in der Sozialen Arbeit von der Einzelfallarbeit anderer Professionen durch ihren Gegenstand. Anders als z. B. in der Medizin, ist für die Soziale Arbeit der andere Mensch das Gegenüber und nicht alleine bzw. vorrangig der gebrochene Arm des anderen Menschen. Der sozialpädagogische Blick auf einen Fall bzw. auf die beteiligten Menschen ist somit in seinem Fokus weiter und damit auch komplexer als andere professionelle Perspektiven. Er sieht den ganzen Menschen in seiner Eigen-Sinnigkeit, seinem Gewordensein und seinem Lebenskontext. Dieser Blickwinkel auf einen Fall macht die Soziale Arbeit als Beruf enorm spannend und zugleich komplex und kompliziert. Dazu trägt bei, dass Fallarbeit immer auch ein Beziehungsgeschehen ist, zwar gerahmt durch einen professionellen Auftrag und ein Handlungsmandat, aber doch letztlich immer ein Interaktionsgeschehen mit all seinen Dynamiken, Wechselwirkungen und Emotionen zwischen den beteiligten AkteurInnen.

Handlungs­orientierung

Inhaltlicher Kern der Fallarbeit ist die Unterstützung von Menschen in spezifischen Lebenssituationen und in den von ihnen mehr oder weniger konkret eingebrachten Anliegen und Fragen. Die Handlungsorientierung ist somit ein weiteres Kennzeichen der Fallarbeit in der sozialen Praxis, wobei das professionelle Handeln und vor allem dessen Erfolg nur begrenzt planbar sind. Dies liegt zum einen an der Autonomie und dem prinzipiellen Eigen-Sinn von Menschen, die Adressat­Innen Sozialer Arbeit sind, zum anderen an der Komplexität sozialer Situationen sowie der Eigendynamik, die in ihnen liegt und sich situativ entfaltet. Hans Thiersch bezeichnet dies als die strukturelle Unsicherheit sozialpädagogischen Handelns (Thiersch 2002), deren professionelle Gestaltung und Balancierung eine wesentliche Kompetenz sozialpädagogischer Fachlichkeit ausmacht. Menschen, auch SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, haben es gern eindeutig und klar – aber: Die Wirklichkeit und Vielfalt menschlicher Lebensvollzüge gibt eine solche Eindeutigkeit selten her. Hohe Komplexität und Handeln in Ungewissheiten sind der Normalfall, da Situationen und Prozesse immer gekennzeichnet sind durch mehrdeutige Verhältnisse und subjektiv jeweils berechtigte Realitäten und Wirklichkeitsdeutungen. Daraus folgt für soziale Situationen, die professionell zu gestalten sind: Es gibt

keine eindeutige Zuordnung von Ursachen und Wirkungen, von Problemen und Lösungen,

eine immer nur begrenzte Aussagefähigkeit einmal gewonnener Erkenntnisse für zukünftige Entscheidungen und

einen ebenso begrenzten professionellen Einfluss auf das Ergebnis, d. h. die Wirkung von professionellen Entscheidungen und Handlungen (Schrapper 1994).

„Technologiedefizit“ Sozialer Arbeit

Auf Niklas Luhmann (Luhmann/Schorr 1982) geht in diesem Kontext das Stichwort des „Technologiedefizits“ zurück, mit dem umschrieben wird, dass Handeln in der professionellen Zusammenarbeit mit anderen Menschen nicht linear planbar ist und vor allem oftmals nicht genauso so verläuft wie gewünscht. Handlungsorientiertes Wissen in der Sozialen Arbeit besteht also nicht aus „Kochrezepten“, die angewandt werden, sondern aus einem Kanon an Fachwissen, das in strukturell ungewissen Situationen für das Verstehen, Deuten und Intervenieren nachvollziehbar und begründbar eingesetzt werden kann. Nur so können Fachkräfte letztlich der Einzigartigkeit jeder Handlungssituation gerecht werden, was sie gleichzeitig nicht davon entbindet, das eigene Tun theoriebasiert zu erklären und den Einzelfall auch unter dem Aspekt des „Allgemeinen“ (Theoriewissen) einzuordnen.