Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe

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3„Handwerkszeug und Haltung“ – Fachliche Hintergründe und methodische Zugänge zur Fallarbeit

Fachkräfte in der Sozialen Arbeit müssen erklären können, wie und auf welchen Wegen sie zu ihren Einschätzungen kommen, welche Erklärungen sie für geschilderte Probleme anbieten können und wie sie ihre Interventionen begründen. Das ist bei AutomechanikerInnen nicht anders als bei ZahnärztInnen oder eben SozialpädagogInnen z. B. im Jugendamt oder der Sozialpädagogischen Familienhilfe. Erklärungsfähigkeit ist wesentlicher Ausdruck von Professionalität, auch und gerade, wenn es um die immer asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen Fachkräften und AdressatInnen geht. Und gerade in der Kinder- und Jugendhilfe sind diese Asymmetrien besonders vielgestaltig: zwischen den Generationen, zwischen Fachkräften und Familien sowie zwischen kontrollierenden und helfenden AkteurInnen. Zu diesem Zweck braucht die Praxis konkrete Konzepte und zugehörige Methoden, die gleichermaßen robust und alltagstauglich wie ausreichend differenziert, theoretisch begründet und institutionell getragen sind. Das in Kapitel 2 geschilderte Rahmenkonzept benötigt somit eine handlungsorientierte Konkretisierung von Methoden und Instrumenten, die regelhaft angewendet werden, um entlang nachvollziehbarer und systematischer Arbeitsweisen vorgehen zu können. Diese werden in Kapitel 3.2 entfaltet, nachdem vorab die Bedeutung der professionellen Haltung sowie der daraus resultierenden Grundüberzeugungen für das Verstehen und analytische Durchblicken von Fällen in den Fokus gerückt werden (Kapitel 3.1). Es geht schlicht gesagt um das notwendige Zusammenspiel von „Handwerkszeug und Haltung“ als die zwei zentralen Elemente professioneller Fallbearbeitung.

3.1 Fachliche Haltung und leitende Orientierungen für Fallverstehen und Diagnostik

Bedeutung von fachlicher Haltung

personale Eignung

Soziale Arbeit wird von Fachkräften erbracht, die in der Gestaltung von Interaktionen und Beziehungsprozessen fachlich fundiert und aufgabenorientiert handeln wollen. Allerdings ist ihr Handeln untrennbar mit ihrer Person und ihrem Leben verbunden, also den persönlichen Lebensbedingungen, Lebenskonzepten und Lebenserfahrungen. Die Bedeutung der Persönlichkeit von Fachkräften spielte im Diskurs von Disziplin und Profession schon immer eine besondere Rolle, was sich aktuell z. B. noch im so genannten Fachkräfteparagrafen (§ 72 SGB VIII) ausdrückt, in dem die persönliche Eignung für die jeweilige Aufgabe neben einer entsprechenden Ausbildung explizit hervorgehoben wird. Ein kurzer historischer Abriss der Beschäftigung mit der Bedeutung der personalen Eignung für die Profession findet sich bei Hiltrud von Spiegel (2018). Deutlich wird in der Geschichte der Sozialen Arbeit, dass bis in die aktuelle Debatte um den Kompetenzbegriff hinein das individuelle Handeln und die damit verbundenen Motive und Interessen von Fachkräften ein konstitutives Moment professionellen Handelns sind. Mit dem Begriff der „beruflichen Identität“ prägte Gildemeister (1983, 121 f.) ein theoretisch entwickeltes Konstrukt, nach dem Fachkräfte die unauflösbaren Spannungsfelder und strukturellen Ungewissheiten beruflicher Handlungssituationen mit ihrer Persönlichkeit bzw. ihrem je individuellen Handeln als letzter Steuerungsinstanz ausbalancieren müssen. Die eigene berufliche Persönlichkeit handelt dabei auf der Grundlage des erworbenen Wissens, der methodischen Kompetenzen, der eigenen Geschichte und der dabei im Lebenslauf aufgeschichteten und verarbeiteten Erfahrungen sowie den aus diesen verschiedenen Quellen gespeisten beruflichen (Werte-)Orientierungen. Diese Gesamtheit wird häufig mit dem Begriff der Haltung beschrieben.

fachliche Haltung

Auf die in Fachpublikationen eher schmal geführte Debatte zum Wesen, zur Herausbildung und zur Beschaffenheit der fachlichen Haltung kann an dieser Stelle nur verwiesen werden (dazu z. B. Rätz 2011; Winkler 2011). Dennoch sollen zur Frage der professionellen Haltung einige Aspekte skizziert werden, um deren Gehalt und Bedeutung insbesondere für Fallverstehen und Diagnostik in den Blick zu rücken,

In den einschlägigen Wörterbüchern zur Sozialen Arbeit finden sich keine expliziten Beiträge zur fachlichen Haltung, im Duden oder anderen allgemeinen Wörterbüchern unter Haltung unterschiedliche Bedeutungsmöglichkeiten: Von der menschlichen Körperhaltung, der inneren Fassung und Contenance (Haltung bewahren) über die Gesinnungen, Werte und Grundeinstellungen eines Menschen bis hin zur artgerechten Tierhaltung. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass hinter jeder menschlichen Handlung eine Grundhaltung steht und umgekehrt jede Haltung sich in bestimmten Handlungen ausdrückt (von Spiegel 2018). Gemeint ist damit, dass Menschen über ein individualisiertes Muster von Grundeinstellungen, Überzeugungen und Werten verfügen, welches ihr Fühlen, Denken und Handeln in Situationen prägt.

Definition des Europäischen Ethikrates

„Eine Haltung zu haben bedeutet […], aus einer Grundüberzeugung heraus zu handeln, die die ganze Person umfasst, also ihren Körper, ihren Geist und ihre Gefühle. Eine Haltung besteht nicht aus einer konkreten Regel wie ‚Du sollst nicht töten’, sie ist vielmehr eine Handlungsdisposition, die sich im Laufe des Lebens und Erlebens einer Person, also im individuellen Lebensvollzug, entwickelt. Die Grundüberzeugung lautet dann zum Beispiel, dass Leben etwas äußerst Wertvolles ist. Und das führt dann zur Handlungsdisposition, Leben zu schützen und zu bewahren, ohne vorher darüber jetzt eigens nachzudenken“ (Christiane Woopen, ehem. Vorsitzende des Europäischen Ethikrates; Deutschlandfunk 2017).

Haltung als innerer Kompass

Ein solch innerer Kompass entsteht nicht situativ, kann nicht verordnet oder schlicht erzeugt werden und ebenso wenig wird er angewendet wie ein Werkzeug. Die Entwicklung eines solchen Orientierungsmusters bildet sich im individuellen Lebensvollzug heraus und kann als subjektiver Entwicklungs- und Bildungsprozess begriffen werden, für den die selbsttätige Aneignung von Erfahrungen und (Fach-)Wissen und dessen reflexive Verarbeitung wesentlich sind. Letztlich sind Haltungen ein Ausdruck des Selbst. In Haltungen sind das Selbstverhältnis und die Weltbezüge von Menschen kristallisiert und werden in der je spezifischen Gestaltung der eigenen Lebensvollzüge bzw. der professionell gestalteten Arbeits- und Beziehungsprozesse konkretisiert.

Berufliche Haltungen unterscheiden sich von rein individuellen Haltungen dadurch, dass in dem beschriebenen Aneignungsprozess der kontinuierliche Erwerb fachlichen Wissens, die fortwährende, kritische Reflexion bislang leitender Werte und die Auseinandersetzung mit berufsethischen Standards einfließen. Die Biografie eines Menschen ist dabei wesentlicher Kristallisationspunkt:

„Die Biografie bildet den Gesamtzusammenhang für die Integration sehr unterschiedlicher Lebenserfahrungen im persönlichen und beruflichen Bereich. Gesellschaftliche Strukturen und subjektive Sinnkonstruktionen werden in der Kategorie Biografie als sich wechselseitig konstituierend betrachtet. Dabei finden beständig Reflexionen und Neukonstruktionen statt. […] Dies gilt auch für die Herausbildung professioneller Haltungen“ (Rätz 2011, 68).

Bei aller Eingebundenheit von Fachkräften in ihre Institutionen bleiben die Gestaltung und Bewältigung komplexer Anforderungen des Praxisalltags eine individuelle Aufgabe und Herausforderung. Notwendig für das Entscheiden und Handeln in struktureller Unsicherheit ist ein relativ stabiles Orientierungsmuster, das Teil der eigenen Persönlichkeit ist und gleichzeitig immer wieder kritisch hinterfragt und transformiert werden kann. Haltungen sind dem Handeln übergeordnet, prägen die Wahrnehmungen, Bewertungen und Handlungsbereitschaften, müssen aber immer offen bleiben für ihre eigenen Begrenzungen und die Anerkennung von Verschiedenheit. Somit sind sie als Teil des Selbst einerseits stabil und nicht leicht veränderbar, aber dennoch – gerade im professionellen Kontext – immer wieder der individuellen Revision sowie der kollegialen Reflexion und Kontrolle zu unterziehen, auch vor dem Hintergrund der Veränderung gesellschaftlicher Kontextbedingungen und Rahmungen der beruflichen Tätigkeit. Problematisch werden Haltungen, wenn sie zum unbewussten Dogma des eigenen Handelns werden.

Haltungen und ethische Standards

Vor dem Hintergrund von berufsethischen Standards (➣ Menschenrechte; „code of ethics“ des internationalen Berufsverbandes „International Federation of Social Work“ IFSW 2004; für die Jugendhilfe insbesondere auch: UN-Kinderrechtskonventionen 1989) und zentralen Charakteristika Sozialer Arbeit (➣ doppeltes Mandat, Koproduktion Subjektorientierung, Technologiedefizit; vgl. von Spiegel 2018) sind für die Herausbildung einer fachlichen Haltung eine klare Orientierung an den Grundsätzen von Koproduktion, Subjektorientierung, Partizipation, Dialog, Respekt, Anerkennung, Empathie und Ergebnisoffenheit zentral. Zudem ist im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe und als Paradigma des SGB VIII eine eindeutige und vorrangige Orientierung an dem Wohl von Kindern, an den Kinderrechten und sich daraus ergebenden Aufgaben für ihren Schutz (= Beachtung von Förder-, Schutz- und Beteiligungsrechten; UN-Kinderrechtskonventionen 1989) erforderlich. Hinzukommen muss ein grundlegender Respekt vor den Lebensentwürfen von Eltern und ihren Versuchen, eine „gute Mutter“ oder „ein guter Vater“ zu sein.

 

fachliche Haltungen und „praktische Ideologien“

Haltung und Handwerkszeug (als wissensbasiertes, systematisches und kontextbezogenes Know-how) gehören im Praxisalltag eng zusammen und beeinflussen sich wechselseitig. Allerdings darf daraus nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Handeln allein von Personen, d. h. hier von Fachkräften abhängig ist. Denn diese sind AkteurInnen in konkreten Institutionen und damit immer auch Teil einer Organisation und ihrer Kultur (dazu z. B. Lang/Winkler/Weik 2001). Die Organisationskultur kann als systembezogenes oder strukturelles Pendant zur individuellen beruflichen Haltung verstanden werden, das ähnlichen Einfluss auf das personenbezogene Handeln nehmen kann und i.d.R. auch nimmt wie die individualisierten Grundeinstellungen. Klatetzki bezeichnet solche grundlegenden Orientierungen in Institutionen, die Wahrnehmungen, Interpretationen und Entscheidungen häufig unbewusst leiten, als „praktische Ideologien“ (Klatetzki 1998, 63). Diese sind ebenso der kontinuierlichen Reflexion und Kontrolle zu unterziehen wie die individuellen Haltungen. Denn alles, was nicht regelhaft und regelmäßig über Kommunikation auf eine bewusste Ebene gebracht und damit der fachlichen Reflexion zugänglich gemacht wird, steht in der Gefahr, unreflektierte, aber wirkmächtige Routinen und folgenschwere Risiken für Kinder und Familien zu erzeugen. Wahrnehmungen und fachliche Einschätzungen können in dem Zusammenhang beispielsweise unterkomplex und einseitig werden.

Leitende Orientierungen für Fallverstehen und Diagnostik


Abb. 6: Leitende Orientierungen im Überblick

Für das hier vertretene Konzept von Fallverstehen und Diagnostik ergeben sich fachliche Grundüberzeugungen für das Durchblicken und Verstehen menschlicher Lebensvollzüge und Belastungssituationen (Abb. 6).

einfühlendes Verstehen und analytisches Durchblicken

1. Fallverstehen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit sind ein Wechselspiel zwischen einfühlendem Verstehen und analytischem Durchblicken, Annährung und Distanzierung.

Beziehungsgeschehen

2. Fallverstehen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit sind immer ein Beziehungsgeschehen und beziehen sich damit notwendig auf das Klienten- wie auch das Hilfesystem.

Diese ersten beiden Grundannahmen wurden inhaltlich bereits in Kapitel 2 differenziert beschrieben und werden hier nicht nochmals ausgeführt.

Zudem lassen sich sechs weitere, leitende Orientierungen benennen, die für unser Konzept handlungsleitend sind:

3. Den subjektiven Faktor nutzen und korrigieren:

subjektive Komponenten

Fallverstehen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit nutzen bewusst den subjektiven Faktor und wissen gleichzeitig um die Notwendigkeit eines diesen ergänzenden Korrektivs.

Ein Fall wird erst dann ein Fall, wenn ein Hilfesystem ihn als solchen definiert. Zuvor geht es um Menschen in schwierigen, problembelasteten oder gar verzweifelten Lebenssituationen. Wie eine solche Situation professionell betrachtet, erlebt, verstanden und bearbeitet wird, ist immer an die Person gebunden, die dies tut, und steht zudem in enger Verbindung zu der Institution, in der die Fachkraft arbeitet und die sie dazu veranlasst, eine Lebenssituation als Fall zu definieren. Die mit diesen Tätigkeiten verknüpften Prozesse der Einschätzung und fachlichen Positionierung lassen sich nicht allein mit sogenannten Diagnoserastern/-bögen oder Bewertungsskalen vornehmen. Bei allen notwendigen Versuchen der systematischen Erfassung schwieriger Lebenslagen lassen sich diese nicht rein objektiv und personenunabhängig „messen“. Die gewonnenen Informationen sowie die eigenen Beobachtungen in eine Diagnose münden zu lassen, beinhaltet immer auch eine subjektive Komponente und bleibt im Kern eine personenabhängige Interpretation. Zum einen prägen die individuellen Wahrnehmungen der Fachkräfte, ihre eigenen Normen und Werte, ihre Grundhaltungen und lebensgeschichtlichen Erfahrungen den fachlichen Zugang zu der jeweiligen Situation. Zum anderen steht das Fallverstehen in enger Verbindung zu der Organisation, der die Fachkraft angehört. Wird z. B. in einem Jugendamt die Familienorientierung als handlungsleitende Prämisse bewertet, ist es schwieriger, auf die Aspekte eines Falls zu schauen, die danach fragen, ob ein Kind in einer Familie überhaupt noch einen emotionalen und sozialen Platz hat. Organisationstheoretisch gesprochen leitet also auch das Wertesystem einer Institution das Handeln der in ihr tätigen Personen.

Die besondere Abhängigkeit sozialpädagogischer Analysen vom subjektiven Faktor darf jedoch nicht als Defizit (miss-)verstanden werden. Sie muss vielmehr zu methodischen Überlegungen anregen, wie die notwendige Ausbildung und Pflege des einfühlenden Verstehens und ebenso dessen Reflexion und Kontrolle zum Schutz vor subjektiver Willkür gewährleistet werden können.

Grundsätzlich braucht es für sozialpädagogisches Verstehen die empathische Einfühlung in eine konkrete Lebenssituation. In der Arbeit mit den AdressatInnen Sozialer Arbeit geht es einerseits darum, einen Zusammenhang analytisch zu durchblicken, und andererseits etwas zu erspüren. Ohne sich einzufühlen und innerlich einzulassen auf das, was von den AdressatInnen geäußerte Mitteilungen für diese emotional bedeuten, ist es nicht möglich zu verstehen, wie es ihnen geht und mit ihnen gemeinsam herauszufinden, was sie für eine Verbesserung ihrer Lebenssituation brauchen: Ohne „Verwicklung“ keine Entwicklung. Die Fähigkeit, sich emotional einzufühlen, sich „verwickeln“ zu lassen, d. h. mit Hilfe der eigenen affektiven Beteiligung und Anteilnahme, der eigenen geschulten Intuition zu hören, was und eben wie etwas gesagt wird, ist für ein fundiertes Fallverstehen zwingend notwendig. Und gleichzeitig ergibt sich daraus das Risiko, aufgrund der eigenen emotionalen Dispositionen in solchen Situationen mit hoher emotionaler Dichte innerlich angesprochen und verwickelt zu werden, d. h. zumindest phasenweise die ausreichende Distanz zu einem Fall zu verlieren.

Für einen Zugang zum Fall, der diese affektiv aufgeladenen Fall- und Beziehungsdynamiken in den Blick nehmen kann, müssen Fachkräfte über psychoanalytisches Fachwissen bezüglich möglicher Spiegelungsphänomene sowie Prozesse der Übertragung und Gegenübertragung verfügen (vgl. Kap. 4.2 und Kap. 4.1.5, ebenso Schattenhofer/Thiesmeier 2001). Zum anderen bedarf es einer hohen selbstreflexiven Fähigkeit sowie einer grundsätzlich hermeneutischen Orientierung bezüglich dieser sozialen Kontexte, in die man als Fachkraft selbst eingebunden ist.

Perspektiven-vielfalt

4. Perspektivenvielfalt als Korrektiv und Kontrolle:

Fallverstehen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit erfordern Perspektivenvielfalt.

Für das möglichst umfassende Verstehen eines Problemkontextes ist es notwendig, die in einem Fall steckende Komplexität zunächst zu entfalten (vgl. Kap. 2.1). Es gibt immer mehr als eine Sichtweise auf eine Situation und/oder Problemlage und deshalb geht es um das Zusammentragen und Konfrontieren unterschiedlicher Sichtweisen, Einschätzungen, Gefühle, Sorgen, Wünsche und Vorstellungen. Erst wenn diese in ihrer Vielfalt sichtbar und zudem der Reflexion zugänglich gemacht werden können, kann eine fachliche Einschätzung gewonnen werden, in der sorgfältig alle fallbezogenen Informationen und Bewertungen berücksichtigt werden. Die Komplexität von Lebenssituationen, eigene Identifikationen und Verstrickungen benötigen zwingend ein Korrektiv, das vor verkürzenden Erklärungen und Bewertungen, „blinden Flecken“ oder Überidentifikationen schützt. Die eigenen (Deutungs-)Routinen regelhaft zu irritieren ist einerseits notwendig, wird aber andererseits personell wie institutionell mitunter schwer ausgehalten und/oder abgewehrt, weil der Handlungsdruck oftmals hoch und die Suche nach schnellen Lösungen handlungsleitend ist. Hilfreich und erforderlich ist es hier für Fachkräfte, in Teams oder Arbeitsgruppen eingebunden zu sein, in denen vielfältige Perspektiven auf einen Fall zusammengetragen werden, die Einzelpersonen davon entlasten, „alles“ sehen und erkennen zu müssen, und die zudem ein Korrektiv für ausschließlich personengebundene Einschätzungen sind. Schutz, Entlastung und Kontrolle wird nicht nur von Familien, sondern auch von den Fachkräften gebraucht, um die herausfordernde Arbeit und die damit verbundene hohe Verantwortung verantwortlich tragen zu können. Burkhard Müller hat für diese Perspektiv-Vielfalt den Begriff der „multiperspektivischen Fallarbeit“ geprägt (Müller 2012). Diese notwendige Perspektivenvielfalt impliziert auch die Sichtweisen der AdressatInnen Sozialer Arbeit.

Partizipation ermöglichen

5. Machtvolle Partizipation von AdressatInnen:

Fallverstehen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit benötigen die machtvolle Partizipation von AdressatInnen und bedürfen der fachlichen Anstrengung, diese zu ermöglichen.

Soziale Arbeit ist immer an Interaktion gebunden und ein Beziehungsgeschehen zwischen allen Beteiligten, sie ist Ko-Produktion. Dies zu beachten, fordert Fachkräfte und ihre Institutionen insbesondere mit Blick auf die AdressatInnen Sozialer Arbeit. Nur wenn diese sich gesehen, verstanden und ernsthaft beteiligt fühlen, können akzeptierte und tragfähige Sichtweisen auf Problemlagen erarbeitet und Unterstützungsangebote erfolgreich umgesetzt werden. Teilhabe ist ein Menschenrecht, das SGB VIII schreibt diese als Verfahrensgrundsatz im Hilfeprozess vor und aus zahlreichen Studien der letzten zwanzig Jahren ist bekannt, wie zwingend notwendig die Gestaltung partizipativer Prozesse dafür ist, dass Hilfen für Kinder und Familien angenommen werden und gelingen (vgl. z. B. Stork 2007; Kriener/Lenkenhoff 2016; Pluto 2018). Gleichzeitig fordern AdressatInnen die Fachkräfte in der Gestaltung der Zusammenarbeit häufig heraus, erscheinen ihnen zeitweise „unmotiviert“, oder Hilfen vollziehen sich mitunter im Zwangskontext, der den Kontakt erschwert. Gelingende Partizipation umzusetzen scheint nicht so einfach und ist es auch nicht. Es erfordert Zeit, Geduld und professionelle Anstrengung, um Menschen zur Teilhabe zu ermutigen, die diese Form der Selbstwirksamkeit in ihrem Leben eventuell nie erlebt haben, ungeübt darin sind oder keine Zuversicht haben, dass ihr Mitwirken wirklich gewollt ist und wirkungsvoll sein kann (dazu z. B. Schwabe 2013). Die Ermöglichung und Umsetzung von Partizipation sind voraussetzungsvoll und bedürfen neben einer methodisch gestalteten Ermutigung von AdressatInnen vor allem einer entsprechenden fachlichen Haltung, die bereit ist, „Expertenmacht“ zugunsten der Ermächtigung, d. h. der einflussreichen Teilhabe, von AdressatInnen zu teilen. Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik erfordern in diesem Sinne eine Haltung, die geprägt ist von ernsthaftem Interesse und Respekt gegenüber den Weltsichten und Deutungen, dem Eigen-Sinn und den Anstrengungen der Eltern und Kinder. Fachkräfte können und sollten etwas verstehen und lernen wollen über Lebenswelten und Sinn-Konstrukte, die ihnen prinzipiell fremd sind und in Teilen immer bleiben, um ausreichend verstehen zu können. Fachliche Neugier und eine grundsätzlich forschende Haltung sind dafür eine hilfreiche Grundausstattung.

6. Hypothetischer Charakter:

Fallverstehen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit haben einen hypothetischen Charakter.

Die Sozialpädagogik verfügt (noch) nicht über einheitliche und anerkannte Begriffe für fallverstehende bzw. diagnostische Tätigkeiten, und aus guten Gründen tut sie sich schwer damit, den Diagnosebegriff ohne weiteres zu nutzen (vgl. Kap. 6). Dieser ist traditionell durch Medizin und Psychiatrie geprägt und vermittelt, dass es objektive, personen- und kontextunabhängige Beurteilungen sozialer Situationen oder individueller Verhaltensweisen sowie eindeutige Zuweisungskriterien für daraus folgende Interventionen geben kann.

 

Eine solche Sicherheit bei der Problemerkennung und -bearbeitung kann es in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit jedoch nicht geben, da der Gegenstand sozialpädagogischer Diagnostik komplex ist, mehrere „Wirklichkeiten und Wahrheiten“ in der Problemwahrnehmung zu bedenken und sozialpädagogische Beurteilungen das Ergebnis einer Annäherung an prinzipiell fremde Lebenswelten sind. Sozialpädagogische Beurteilungen haben immer hypothetischen Charakter und müssen zwingend mehrperspektivisch überprüft und ggf. korrigiert werden. Zentral ist dabei die Rückvermittlung professioneller Einschätzungen an die AdressatInnen, also an die Mädchen und Jungen, Mütter und Väter.

Dennoch müssen in sozialpädagogischen Handlungsfeldern wie der Jugendhilfe professionelle Einschätzungen gefunden und eigenständige Urteile über Gefährdungen oder Entwicklungspotenziale getroffen werden.

Hypothesen aufstellen, prüfen, ggf. verwerfen

Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik sind in der Praxis somit immer ein Spagat zwischen einer fachlich fundierten Beurteilung auf der einen Seite und der Bereitschaft, die eigenen Urteile und Bewertungen im Dialog mit den Betroffenen zur Diskussion zu stellen, auf der anderen. Es geht nicht um ein unumstößliches „Expertenurteil“. Stattdessen mündet sozialpädagogische Diagnostik in der Formulierung von Hypothesen. Sie ordnen die Vielzahl von Daten, Beobachtungen, (Selbst-)Aussagen und Einschätzungen zu einer handlungsleitenden fachlichen Einschätzung für die weitere Verständigung und Aushandlung mit den AdressatInnen. Professionell erfordert dies die Bereitschaft und Fähigkeit der Fachkräfte, in Hypothesen zu denken, sie zu formulieren, zu prüfen und ggf. zu verwerfen. Statt des Rückzugs auf einen Expertenstatus bedarf es der Bereitschaft, sich irritieren zu lassen.

Neben den beschriebenen Grundorientierungen von Fallverstehen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit, die damit auch für ein explizit sozialpädagogisches Diagnostizieren und Verstehen in der Kinder- und Jugendhilfe leitend sind, gilt für dieses eine Maxime im Besonderen:

Sinnhaftigkeit verstehen

7. (Selbst-)Bildung ermöglichen:

Die Orientierung am subjektiven Sinnverstehen sowie an der Ermöglichung von Prozessen der Erziehung und (Selbst-)Bildung ist für die Kinder- und Jugendhilfe konstitutiv.

Eine eigene sozialpädagogische Perspektive, etwas zu durchblicken und zu verstehen, muss vor allem auf die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen und die Prozesse von Erziehung und Bildung bezogen sein. Auch wenn nicht alleiniges Thema, so ist sozial auffällig wahrgenommenes Verhalten von Kindern und Jugendlichen häufig der Ausgangspunkt für das professionelle Handeln. Bedeutsam ist, solche Auffälligkeiten (sozial-)pädagogisch vor allem über ihre Funktion in ihrer Lebenspraxis und über die dahinterstehende Lern- und Bildungsgeschichte zu verstehen. Es geht um die subjektive Logik hinter einer Handlungsstrategie und die Frage nach deren Sinn für das eigene „Über-Leben“.

SozialpädagogInnen sind damit konfrontiert, dass solche Handlungen und Haltungen von Kindern als abweichend, störend oder kriminell bezeichnet werden, weil sie zu späteren Zeiten (wenn Kindern heranwachsen) oder in anderen Kontexten (z. B. in der Schule) nicht mehr funktional und mitunter auch nicht akzeptabel sind. Aber diese Handlungsstrategien wären von jungen Menschen nicht entwickelt und angeeignet worden, wenn sie ihnen nicht zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort funktional und sinnvoll, also für ihr (Über-)Leben erfolgreich erschienen wären. Denn nur an solche individuellen Sinnkonstruktionen junger Menschen anknüpfend, können Erziehung und sozialpädagogische Unterstützung Kindern und Jugendlichen Angebote zum Um- und Neulernen erfolgreicher und sozial respektierter Überlebensstrategien machen. Und dies nicht, weil diese Kinder und Jugendlichen zuvor falsch oder defizitär waren, sondern weil das, was sie sich bisher aneignen konnten, nun nicht mehr funktional und respektabel erscheint.

Sozialpädagogisches Verstehen und Durchblicken kindlicher und familiärer Handlungen und Vorstellungen kann aber auf eigene professionelle Deutungen und Hypothesen nicht verzichten. Gerade wenn es darum geht, kindliche Lebensbedingungen, mögliche Gefährdungen, aber auch Entwicklungspotenziale zu erkennen, kann sozialpädagogische Fachlichkeit sich nicht allein auf die Selbstauskünfte und Selbstdeutungen von Kindern und Eltern stützen – und muss dennoch immer auf diese bezogen bleiben.

Handlungsstrategien entwickeln

8. Handlungsorientierung:

Fallverstehen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit münden in Handlungsorientierungen für die konkrete Praxis.

Sozialpädagogisches Verstehen ist wesentlich kein Akt sozialwissenschaftlicher Forschung, der vorrangig einem forschenden Erkenntnisinteresse folgt, sondern es dient dazu, in belasteten und krisenhaften Situationen gemeinsam mit Eltern und Kindern notwendige und mögliche Veränderungen zu erkennen und zu initiieren. Diesem Anspruch, in immer begrenzter Zeit zu akzeptierten Erklärungen und Handlungswegen zu kommen, müssen Konzepte für Verstehen und Diagnostik Rechnung tragen. Sie sind nur dann praxistauglich, wenn sie auch die Rahmenbedingungen institutioneller Gegebenheiten beachten und im Praxisalltag grundsätzlich umsetzbar sind.

Entscheidend bei der Erarbeitung von (sozial-)pädagogischen Unterstützungsangeboten und Hilfen – wie in den Hilfen zur Erziehung des SGB VIII – ist zudem, dass Handlungsstrategien in erster Linie dem skizzierten Leitmotiv der Pädagogik, dem Ermöglichen von (Selbst-)Bildungsprozessen, Rechnung tragen. Dies bedeutet, dass sie nicht den Maximen des Behandelns (vorrangig Aufgabe der Psychiatrie) oder des Sanktionierens (vorrangig Aufgabe von Polizei bzw. Justiz) folgen. Ein eigenständiges fachlich fundiertes und begründetes Konzept des Fallverstehens innerhalb der sozialen Dienste der Jugendhilfe und die notwendige Abgrenzung zu anderen Hilfesystemen (z. B. der Psychiatrie, Schule, Polizei) stellen eine zentrale Anforderung dar, die eine klare und tragfähige Kooperation innerhalb des Hilfesystems erst ermöglicht. Demgegenüber provoziert ein Mangel an eigenständiger Diagnostik und fehlendes professionelles Zu- bzw. Selbstvertrauen in diese Kompetenz die Gefahr, durch die Diagnosen anderer Professionen dominiert zu werden. Die Gestaltung z. B. einer fachlich guten Hilfeplanung erfordert einen dialogischen Aushandlungsprozess zwischen allen Beteiligten. Dies setzt voraus, dass eigene Positionen geklärt sind und selbstbewusst vorgetragen werden können.

Fazit: Worauf es ankommt

Fasst man die Kernideen dieses Kapitels zusammen, wird deutlich, dass es in sozialpädagogischen Zusammenhängen vorrangig um eine verstehende Diagnostik und weniger eine klassifizierende Diagnostik geht („warum“ = Funktion statt „was“ = kategoriale Einordnung). Zentral ist somit das Verstehen der Funktionen von als auffällig wahrgenommenem Verhalten sowie das Einschätzen von Lebensumständen, Entwicklungspotenzialen und Gefährdungsmomenten. Dabei haben es sozialpädagogische Fachkräfte immer mit hoch komplexen Situationen zu tun, für die es weder eindeutige Erklärungen noch einzig mögliche Handlungsoptionen gibt. Gefordert ist die Kompetenz, diese Uneindeutigkeit menschlicher Lebensvollzüge nicht einseitig auflösen zu wollen, d. h. einfache Begründungen und Antworten zu suchen, sondern die strukturelle Ungewissheit und die Spannungsfelder in der jeweiligen Situation immer wieder neu zu balancieren und getroffene Entscheidungen fachlich begründen zu können.

Balanceakte gestalten

Fallverstehen und Diagnostik in sozialpädagogischen Zusammenhängen folgen somit nicht dem Prinzip des „entweder – oder“, sondern sind ein Balanceakt, geprägt von einer Haltung des „sowohl – als auch“ (Abb. 7).


Abb. 7: Spannungsfelder von Fallverstehen und Diagnostik

Bei allem verständlichen Wunsch (auch aufseiten der Fachkräfte) nach Eindeutigkeit, klaren Verhältnissen, objektiven Diagnosen und „richtigen“ Handlungswegen sind Ungewissheiten und Fallstricke struktureller Bestandteil der Fallarbeit und bleiben eine permanente fachliche Herausforderung.

Bildhaft gesprochen geht es darum, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit bereit und in der Lage sein müssen, diesen Balanceakt als Charakteristikum ihrer Profession anzunehmen und aktiv zu gestalten. Es gilt

bewusst und planvoll „auf das Seil zu steigen“, trittsicher zu sein (d. h. über Ausrüstung und Einübung zu verfügen),