Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften

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1. Sprache des Verstehens und Sprache des Verstandenen

In der persönlichen und singulären Auseinandersetzung mit dem Stoff erfährt man die eigenen Möglichkeiten und Grenzen, im erzählenden Austausch mit anderen gestaltet man seine Erkenntnisse und erweitert seinen Horizont. So arbeitet man gemeinsam an einer Sprache, die zwar mehr und mehr in die Welt des Regulären hineinwächst, trotzdem aber auch etwas ganz Persönliches bleibt. Martin Wagenschein nennt sie die Sprache des Verstehens und unterscheidet sie scharf von der Sprache des Verstandenen (Wagenschein 1980). Die Sprache des Verstandenen ist ökonomisch und effizient. Aber ein Unterricht, der sich darauf beschränkt, sie zu vermitteln und einzuüben, überlässt Bildung dem Zufall und produziert reihenweise Schädigungen. Der Unterricht muss Schülerinnen und Schüler anleiten, wie sie fachliche Fragestellungen mit ihrem Ich-Zentrum in Verbindung bringen und wie sie mit Hilfe persönlich durchdrungener Begriffe zum Verstehen vordringen können. Hans-Georg Gadamer hat dies so formuliert: »Das erste, womit das Verstehen beginnt, ist, dass etwas uns anspricht: Das ist die oberste aller hermeneutischen Bedingungen.« (Gadamer 1959) Und Martin Wagenschein ergänzt: »Das wirkliche Verstehen bringt uns das Gespräch. Ausgehend und angeregt von etwas Rätselhaftem, auf der Suche nach dem Grund.« (Wagenschein 1986, S. 74) Der Unterricht muss also auch Gelegenheiten für den Austausch der Lernenden untereinander schaffen, damit die singulären Positionen im Gespräch geklärt und zu regulären Einsichten erweitert werden können. Verstehen ereignet sich im Gespräch. Selber mit dem Stoff reden und seine Erlebnisse mit anderen austauschen, das sind die beiden Quellen des Verstehens.

Überall, wo Menschen sich aufmachen, um mit einer Sache Kontakt aufzunehmen und sie in der Vorschau zu erforschen und zu begreifen, ist die Sprache des Verstehens am Werk. Und überall, wo Menschen zurückschauen, um das Erforschte zu sichten, zu ordnen, zu integrieren und für die Zukunft verfügbar zu machen, bewegen sie sich erklärend und definierend in der Sprache des Verstandenen. Das ist in der Wissenschaft nicht anders als in der Schule. Auch die Forscher bedienen sich singulärer, vorläufiger Sprechweisen, wenn sie in der »Vorschau-Perspektive« in unbekannte Gebiete vorstoßen. Erst wenn alles klar und gesichert ist, entstehen in der »Rückschau« erklärende Publikationen, die sich der regulären Fachsprache bedienen.

2. Singuläre Standortbestimmung, divergierender Austausch, reguläre Einsichten

Gängige Fragestellungen erzeugen keine Unruhe; Probleme dagegen werfen uns buchstäblich aus der Bahn. Charakteristisch für authentische Begegnungen mit Problemen ist die Verunsicherung und der Zwang zur Neuorientierung. Diese Aufgabe des Herausforderns, des Stimulierens oder sogar des Provozierens übernehmen sach- und schülergerechte Kernideen im Unterricht, welche – zu expliziten Aufträgen umgeformt – die Lernenden in einer ersten Phase längere Zeit beschäftigen. Die singuläre Standortbestimmung ist die notwendige Antwort der Lernenden auf die provozierenden Kernideen und sie erfolgt ganz in der Sprache des Verstehens. Damit die Heterogenität innerhalb einer Schulklasse die verschiedenen Antworten nicht schon im Keime erstickt, muss jede Schülerin und jeder Schüler das Protokoll der Auseinandersetzung mit der Kernidee in schriftlicher Form abgeben. Fachliche und sprachliche Normen treten dabei in den Hintergrund. Im Unterricht muss man dieser Phase der Erarbeitung viel Raum und Zeit zumessen. Auf dem Weg zur professionellen Handhabung der regulären Produktions- und Rezeptionsmuster kommt in einer zweiten Phase dem divergierenden Austausch eine Schlüsselrolle zu. Die verschiedenen Arbeitsformen, die den Austausch mit der Lehrperson einerseits unter den Lernenden andererseits ermöglichen, müssen mit Geduld und Beharrlichkeit erprobt und erlernt werden. Alles, was den Lernschritten in den ersten beiden Phasen dient, gehört in den Bereich des internen Sprachgebrauchs, hat Werkstattcharakter und findet seinen Niederschlag im Reisetagebuch oder Lernjournal; hier gelten die Regeln der Sprache des Verstehens. Alle schriftlichen und mündlichen Formen der regulären Einsichten hingegen, die den Charakter von Auftritten vor dem Publikum haben – also Prüfungen, Referate, szenische Darstellungen, Texte für Leser, Theorien usw. – nennen wir Produkte; sie orientieren sich an der Sprache des Verstandenen.

3. Lernen auf eigenen Wegen

Das zentrale Anliegen des Konzepts »Lernen auf eigenen Wegen« besteht darin, die Lernenden zum Aufbau regulärer Kenntnisse und Fertigkeiten anzuleiten, ohne sie dadurch von ihrer singulären Basis zu entfremden. Am Anfang eines Lernprozesses stehen Kernideen, die das ganze Stoffgebiet in vagen Umrissen einfangen und als attraktives Gegenüber die Lernenden zum sachbezogenen Handeln herausfordern. Der generelle Auftrag lautet: »Dokumentiere deinen Lernweg!« Das ferne Ziel des Lernwegs ist der Überblick über das Sachgebiet in der Rückschau und die Beherrschung der zugehörigen, selbstständig aufgebauten Algorithmen und Kenntnisse. Als Orientierungshilfen für Lehrpersonen dienen folgende Fragen, aus denen Aufträge für die Lernenden geformt werden können:

Wie wirkt dieser Stoff auf mich? (Vorschau)

Wie verhalte ich mich beim Problemlösen? (Weg)

Kann ich mit meinem Wissen und Können vor anderen bestehen? (Produkt)

Was habe ich erreicht? (Rückschau)

4. Kernidee und Reisetagebuch

Die schriftliche Arbeit an Aufträgen im Reisetagebuch erlaubt es, die Lernenden mit großen und zusammenhängenden Stoffgebieten in der Form von Kernideen zu konfrontieren und ihnen genügend Raum für authentische Begegnungen und für singuläre Standortbestimmungen anzubieten. Je nach Standort, den ein Lernender der Sache gegenüber einnimmt, und je nach Intensität seiner Interaktionen wird er beim Lernen mehr oder weniger lange Wege beschreiten. Jeder kann sich allerdings nur auf die ihm gemäße Weise entwickeln, wenn ihm der Unterricht spezifische Arbeitsinstrumente und adäquate Beurteilungskriterien anbietet. Leistungen im Reisetagebuch entstehen unter anderen Bedingungen und müssen anders beurteilt werden als Leistungen, die sich an ein Publikum richten und sich an regulären Anforderungen orientieren. Der Weg von der Kernidee zur Theorie ist individuell verschieden. Hilfreich sind dabei knappe, aber spezifische Rückmeldungen der Lehrperson oder der Mitschülerinnen und Mitschüler sowie die Aufforderungen, neben den sachbezogenen Einsichten auch über die eigene Lernstrategie zu reden bzw. zu schreiben. Dabei hebt der Lernende sein vielfach nur intuitiv vorhandenes Handlungswissen auf die Ebene des begrifflichen Bewusstseins. Häufig ist die singuläre Sprachkompetenz den Ansprüchen eines komplexen Sachverhalts noch nicht ganz gewachsen. Dieses Ungleichgewicht nicht als Mangel zu sehen und es für das Lernen fruchtbar zu machen, ist eine wichtige Aufgabe der Lehrperson. Sie hat die anspruchsvolle Pflicht und verantwortungsvolle Aufgabe, bei allen Lernenden die Entwicklung von der Sprache des Verstehens in die Sprache des Verstandenen zu begleiten.

5. Rollentausch

Wenn die Lehrperson den Lernenden und ihren singulären Sprech- und Denkweisen den Vortritt lässt, muss sie zwar alles nutzen, was sie an fachlichem Wissen und Können zu mobilisieren vermag, breitet dieses Wissen aber nicht flächendeckend aus, sondern holt nur gerade das heraus, was in der aktuellen Gesprächssequenz hilfreich und erhellend wirkt. Nicht das Produzieren ist ihr Hauptbeitrag im Unterricht, sondern das viel schwierigere Rezipieren. Die Lehrperson ist es, die sich auskennt im Fach, darum obliegt ihr die Aufgabe, sich als bewegliche Zuhörerin in die singulären Systeme der Lernenden einzudenken und wohldosierte Hilfen auf dem Weg zum Regulären anzubieten. Damit vertauschen Lehrer und Schüler die Rollen: die Schüler reden, die Lehrperson hört zu; sie passt genau auf, stellt Rückfragen und will verstehen.

Das nachfolgende kurze Beispiel aus dem gymnasialen Mathematikunterricht des siebenten Schuljahrs soll zeigen, wie im Rahmen des geometrischen Themas »Achsenspiegelung« einerseits der Ich-Bezug geschaffen werden kann und andererseits die Kernidee der Asymmetrie unserer Gesichter zu provozieren vermag. Stefanie bearbeitet in ihrem Reisetagebuch den folgenden Auftrag: »Halte einen Spiegel auf ein Foto deines Gesichtes und überprüfe, ob es achsensymmetrisch ist oder nicht. Erfinde dann eine Methode, wie du mit dem Fotokopierer aus deinem Foto zwei Gesichter herstellen kannst, von denen eines aus zwei linken und eines aus zwei rechten Hälften besteht.« Da die überraschende, vorbildliche und durch drei Häklein qualifizierte Bearbeitung von Stefanie auch allen Mitschülerinnen und Mitschülern der Klasse kopiert abgegeben worden ist, findet – organisiert durch den Lehrer – bereits ein erster Austausch unter den Lernenden statt. Außerdem ist dank Stefanies Arbeit für den Lehrer auch sofort klar, was in der Klasse noch besprochen werden muss und wie die Arbeit am Thema ihre Fortsetzung findet. Die ersten Hinweise erkennt man bereits in der Rückmeldung des Lehrers. Das Beispiel zeigt, wie durch konsequenten Einbezug von singulären Schülertexten ein sachbezogener Dialog2 mit den Lernenden und unter den Lernenden in Gang gesetzt werden kann, so dass die regulären Kenntnisse der durch den Lehrplan vorgegebenen Stoffe nicht als schädigende Fremdkörper, sondern gleichsam als körpereigene Substanz in den Lernenden wachsen.

 

Anmerkungen

* Dies ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Artikels, der in der Zeitschrift Forum Schule heute (Nr. 1, Februar 2003, S. 7–9) in Südtirol erschienen ist.

1 Die zentralen Begriffe dieses Artikels sind in Gallin/Ruf 1990 nachzulesen.

2 Mehr zum sogenannten »Dialogischen Lernen« in Ruf/Gallin 2005 und in Gallin 2008.

Literatur

GADAMER, HANS-GEORG (1959): Vom Zirkel des Verstehens. In: Günther Neske (Hrsg.): Martin Heidegger: Festschrift zum 70. Geburtstag. Pfullingen: Neske, S. 24–35.

GALLIN, PETER (2008): Den Unterricht dialogisch gestalten » neun Arbeitsweisen und einige Tipps. In: Ruf, Urs; Keller, Stefan; Winter, Felix (Hrsg.): Besser lernen im Dialog. Seelze-Velber: Kallmeyer, S.96–108.

GALLIN, PETER; RUF, URS (1990): Sprache und Mathematik in der Schule. Auf eigenen Wegen zur Fachkompetenz. Zürich: Verlag Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) sowie: Seelze-Velber: Kallmeyer (1998).

RUF, URS; GALLIN, PETER (2005): Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik. Austausch unter Ungleichen. Bd. 1: Grundzüge einer interaktiven und fächerübergreifenden Didaktik. Bd. 2: Spuren legen – Spuren lesen. Unterricht mit Kernideen und Reisetagebüchern. Seelze-Velber: Kallmeyer, 3. überarb. Aufl.

WAGENSCHEIN, MARTIN (1980): Physikalismus und Sprache. Gegen die Nichtachtung des Unmessbaren und Unmittelbaren. In: Schaefer, Gert; Loch, Werner (Hrsg.): Kommunikative Grundlagen des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Weinheim: Beltz, S. 11–37.

DERS. (1986): Die Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft. Marburg: Jonas, S. 74.

Claus Bolte, Reinhard Pastille
Naturwissenschaften zur Sprache bringen
Strategien und Umsetzung eines sprachaktivierenden naturwissenschaftlichen Unterrichts

Orientiert an den Kompetenzmodellen und Basiskonzepten der Rahmenpläne wird in einem 2007 gestarteten Forschungs- und Unterrichtsprojekt der Erfolg sogenannter »sprachaktivierender Maßnahmen im naturwissenschaftlichen Unterricht der Jahrgangsstufe 7/8« untersucht. Die bislang gesammelten Erfahrungen zeigen, dass systematische Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht erfolgreich ist, wenn sie auf die fachspezifischen, in den Standards beschriebenen kommunikativen Kompetenzen abzielt. Von den Autoren entwickelte »Werkstücke zur Unterrichtsgestaltung« ermöglichen es dabei, zu vermittelnde Unterrichtsinhalte am Parameter der Sprachaktivierung zu messen, um sie für SchülerInnen gewinnbringend aufzubereiten.

1. Einleitung

Nicht erst seit der Entdeckung des »Schülers mit Migrationshintergrund« durch Kultusbehörden und die aktuelle Forschung ist systematische Sprachförderung auch im naturwissenschaftlichen Unterricht das fachdidaktische Gebot der Stunde. Stärker als in den geisteswissenschaftlichen Fächern fehlt es in den Naturwissenschaften aber an praxiserprobten und fachdidaktisch fundierten Modellen der Sprachförderung. Vorherrschend ist mancherorts noch immer die Annahme, dass sich ein zielführender Umgang mit den naturwissenschaftlichen Fachsprachen – Fleiß und Talent auf SchülerInnenseite vorausgesetzt – gleichsam von selbst oder doch mit nur punktuellen Hilfen durch die Lehrperson vermitteln ließe. Zugleich ist die Welle der Euphorie, die die »Sprachförderung« als notwendige Ergänzung des Fachunterrichts einmal begleitet hat, einer reflektierten, teils auch offen resignativen Einschätzung gewichen. Zu oft erschöpft sich in der Praxis die Arbeit »an der Sprache« in klassischer Spracharbeit: Es werden tatsächliche oder vermeintliche allgemeinsprachliche Defizite bearbeitet, wo darüber hinaus die Handhabung einer Fachsprache trainiert werden müsste. Wenn überhaupt, gelingt Sprachförderung bislang vor allem außerhalb des eigentlichen Unterrichtsgeschehens in Modellprojekten, Nachmittagskursen und außerschulischen Angeboten. Im Fachunterricht selbst bleibt die Vermittlung von Sprachkompetenzen weithin Stückwerk; sie erfolgt beiläufig und unter fachdidaktischen und sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten durchaus unsystematisch.

Wie alle FachlehrerInnen wissen, verstummen im naturwissenschaftlichen Unterricht deshalb auch SchülerInnen, die in anderen Fächern noch anerkennenswerte Leistungen erbringen. Lernende mit ohnehin eingeschränkter Sprachkompetenz erleben in den naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächern ein frühes und oftmals endgültiges »Scheitern«. Ihre Sprachlosigkeit entmutigt sie auch außerhalb des schulischen Umfelds und trägt gerade unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund zur Perpetuierung sozialer Außenseiterpositionen bei. Dabei sind es erfahrungsgemäß gerade die naturwissenschaftlichen Fächer, denen die Mehrzahl der SchülerInnen, darunter auch leistungsschwächere, anfangs ein besonderes Interesse entgegenbringt. Unter dem Eindruck erster Misserfolge und rasch steigender fachlicher Anforderungen aber löst sich dieses bald auf. Für die Lehrperson ist dabei auffällig, dass die für Misserfolge zumeist ursächlichen mangelnden Sprachkompetenzen nur zu einem geringeren Teil auf allgemeinsprachliche Defizite zurückgehen. Jedenfalls ist der rapide Motivationsverlust aus Sicht der Verfasser vielmehr Ausweis eines nie wirklich eingeübten und deshalb stets fehleranfällig bleibenden Umgangs mit den Fachsprachen des naturwissenschaftlichen Unterrichts, welche SchülerInnen traditionell als aufgesetzt und nicht relevant erleben.

Gravierende, zugleich aber auch behebbar erscheinende »Sprachprobleme« werden dabei bereits im Vorfeld der eigentlichen Leistungserbringung erkennbar: Fragen und Anweisungen werden missverstanden, Beobachtungen unterschlagen, Schwerpunkte verkannt, Ergebnisse nicht bewertet. Der Umgang mit Fachbegriffen gleicht einem mit mäßigem Interesse betriebenen Lotteriespiel. Ambitioniertere SchülerInnen suchen ihr Heil im wahllosen »Auswendiglernen« oder beschränken sich auf das gewissenhafte Führen von Unterlagen unverstandenen Inhalts. Fast allen fehlt die Zeit, »genau« hinzusehen und gewissenhaft nachzudenken, um das für die jeweilige Aufgabenstellung zu bewertende Phänomen überhaupt erst zu »bemerken«. Vor diesem Hintergrund müssen Bemühungen um Sprachentwicklung im naturwissenschaftlichen Unterricht verstärkt die speziell in diesen Fächern geforderten Kompetenzen in den Blick nehmen. Die schulrelevanten naturwissenschaftlichen Inhalte sind hierfür auf die mit ihrer Vermittlung verbundenen Sprachprobleme hin zu untersuchen. Dafür und zur Überwindung der zu spezifizierenden Probleme sind nicht nur spezielle Instrumente zu entwickeln (siehe Abschnitt 2) sondern auch fachdidaktische Maßnahmen zu erschließen (siehe Abschnitt 4), die dabei helfen, identifizierte Defizite zu verringern (siehe Abschnitt 3).

2. Analyse alltags- und naturwissenschaftsbezogener Sprachkompetenzen

In der Abteilung Didaktik der Chemie der Freien Universität Berlin hat eine Arbeitsgruppe begonnen, Forschungsdefizite durch erste systematische Untersuchungen zu verringern.

Die Aktivitäten wurden zunächst auf vier Bereiche konzentriert; nämlich auf die Entwicklung und Erprobung

1. eines Modells zur Entwicklung »sprachaktivierender Lernumgebungen für den naturwissenschaftlichen Unterricht« (siehe Abschnitt 4),

2. innovativer Unterrichtsanregungen (wir nennen sie »Werkstücke«), die darauf zielen, sprachliche und naturwissenschaftliche Kompetenzen von SchülerInnen zu fördern (siehe Abschnitt 4.3),

3. eines Instruments zur Analyse naturwissenschafts- und alltagswelt-bezogener Lesekompetenzen (siehe Abschnitt 2.1) und

4. eines Leitfadens zur Analyse von Kompetenzen, naturwissenschaftliche Sachverhalte angemessen verschriftlichen zu können (siehe Abschnitt 2.2).

Gegenwärtig konzentrieren wir uns in unseren Forschungsaktivitäten auf die Untersuchung von alltags- und naturwissenschaftsbezogenen Sprachkompetenzen von SchülerInnen der Jahrgangsstufen 7 und 8. Dabei fokussieren wir auf die gängige Unterrichts- und Bildungssprache. Wir richten unsere Aufmerksamkeit dabei vor allem auf die Frage, in wie weit SchülerInnen in der Lage sind bzw. Schwierigkeiten haben, aus alltagsbezogenen Textquellen, die naturwissenschaftliche Sachverhalte beinhalten, sachdienliche Informationen zu entnehmen, und in wie fern sie diese Informationen angemessen und sachgerecht wiedergeben können. Beides sind zentrale Aufgaben eines auf Scientific Literacy abzielenden naturwissenschaftlichen Unterrichts (Gräber/Bolte 1997, Bolte 2003a und 2003b).

2.1 Konsequenzen für die Entwicklung des Befragungsinstruments zur Analyse der naturwissenschaftlichen und alltagsbezogenen Lesekompetenz

Für die Entwicklung des Befragungsinstruments zur Analyse1 haben wir zwei unterschiedliche – man kann auch sagen: zwei sich ergänzende – Repräsentationsformen ausgewählt, die einerseits als Informationsgrundlage und andererseits als Grundlage für die unterschiedlichen Aufgaben unserer Tests fungieren; und zwar:

Quellen und Aufgaben, die ausschließlich auf verbalen, schriftlich formulierten Repräsentationen basieren; wir bezeichnen diese Quellen als Sachtexte und die Aufgaben als Textaufgaben des Typs A.*.

Informationsquellen und Aufgaben, die auf sprachlichen, numerischen und/oder graphischen Repräsentationsformen beruhen (z.B. Graphen, Schaubilder, Diagramme, Tabellen und/oder Kombinationen aus diesen Darstellungsformen); wir nennen diese Quellen und Aufgaben dieses Typs multiple Quellen bzw. Aufgaben des Typs B.*.

Für beide Repräsentationsformen haben wir Aufgabensätze entwickelt, die unterschiedliche Lösungsschwierigkeiten aufweisen (sollen). Wir unterscheiden diesbezüglich in:

Aufgaben, die durch die korrekte Auswahl eines Distraktors korrekt bearbeitet werden können (wir bezeichnen diese Aufgaben als monokausale Aufgaben oder Aufgaben des Typs *.1) und

Tab. 1: Matrix der Aufgabenstruktur


Repräsentationsform / Komplexitätsgrad verbale Informations- quelle und Aufgaben des Typs A.* multiple Informations- quelle und Aufgaben des Typs B.* Anzahl der Aufgaben
monokausale Aufgaben oder Aufgaben des Typs *.1 A.1 (2 Aufgaben) B.1 (2 Aufgaben) 4 Aufgaben
komplexe Aufgaben oder Aufgaben des Typs *.2 A.2 (2 Aufgaben) B.2 (2 Aufgaben) 4 Aufgaben
Anzahl der Aufgaben 4 Aufgaben 4 Aufgaben insgesamt 8 Aufgaben

Aufgaben, die erst durch die sachgemäße Kombination mehrerer Informationen richtig gelöst werden können (wir nennen diese Aufgaben komplexe Aufgaben oder Aufgaben des Typs *.2).

 

Sowohl die beiden verschiedenen Repräsentationsformen als auch die zwei unterschiedlichen Komplexitätsniveaus wurden kombiniert, um zu differenzierenden Erkenntnissen zu gelangen; wir bezeichnen die daraus resultierenden Aufgaben-Kombination als Aufgabentyp. Da jeweils zwei Aufgaben pro Aufgabentyp entwickelt wurden, liegen jeweils Sätze von Aufgaben unterschiedlicher Aufgabentypen vor (Tab. 1).

Die Kombination aus Informationsquellen und Aufgaben bezeichnen wir als ein Aufgabenset. Insgesamt haben wir neun Aufgabensets konstruiert, die jeweils unterschiedliche Themen aufgreifen: Bleigießen, Salz, Glas, Ernährung, Erde, Luft, Diamant, Legierung und Wasser. Da nicht alle ProbandInnen alle Aufgaben bearbeiten können, haben wir die neun Aufgabensets auf insgesamt vier Aufgabenhefte verteilt. Ein Aufgabenset (das Aufgabenset Bleigießen) fungierte dabei als Anker-Aufgabenset; d.h. dieses Set wurde in allen Aufgabenheften berücksichtigt und um jeweils zwei weitere Aufgabensets ergänzt. Wir gehen davon aus, dass wir durch die getroffenen Konstruktionsvorgaben Aufgaben entwickeln konnten, die unterschiedliche Schwierigkeitsgrade besitzen. Dadurch wird es möglich, unterschiedliche Niveaus des naturwissenschaftlich-alltagsbezogenen Leseverständnisses nachzuzeichnen. Zum einen erwarten wir, dass verbale Informationsquellen und Aufgaben leichter zu lösen sein werden als die abstrakte(re)n multiplen Quellen und Aufgaben (Typ A.*-Aufgaben werden im größerem Umfang korrekt beantwortet als Typ B.*-Aufgaben), zum anderen vermuten wir, dass monokausale Aufgaben mit höherer Erfolgsquote zu beantworten sein werden als komplexe Aufgaben (Typ *.1-Aufgaben häufiger korrekt gelöst werden als Typ *.2-Aufgaben). Den ProbandInnen werden sowohl offene als auch Multiple Choice-Aufgaben zur Bearbeitung vorgelegt. In Abschnitt 2.5.3 werden wir auf erste Ergebnisse zu sprechen kommen, die wir im Zuge der Pilotierung des Instruments ermittelt haben.