Stilwechsel und ihre Funktionen in Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

2.2 Zielgruppendifferente Grammatik-Darstellungen

Vergleicht man die für Studierende und Lehrende gedachten einführenden Grammatik-Darstellungen mit solchen, die sich jeweils an ein mehr oder weniger bestimmtes, zum Teil auch wesentlich breiteres Publikum wenden, stehen die Autoren u.a. vor dem Problem, eine heterogen zusammengesetzte Zielgruppe erreichen zu wollen, deren Wissensstand kaum adäquat eingeschätzt werden kann und sich, so darf man vermuten, nicht unerheblich unterscheiden wird. Eine gute entsprechende Vergleichsgrundlage bietet eine Reihe von im Duden-Verlag erschienenen Grammatik-Texten, die sich wie die unter 2.1 herangezogenen Darstellungen an die Zielgruppe der Germanistik‑/Deutschstudierenden richten (Habermann u.a. 2015), die im Unterschied dazu jedoch auch gezielt für Schüler(innen) gedacht sind (Dudenredaktion 2017) oder ein disperses Publikum adressieren, sprich: die Masse an Sprachverwendern, die sich entweder für Grammatik interessieren oder aber sich mit ihr beschäftigen müssen (Steinhauer 2015 und Hoberg/Hoberg 2016).

Grammatik-Texte für diese zumindest partiell unterschiedlichen Adressatengruppen unterscheiden sich nicht nur in der Breite und Tiefe der behandelten grammatischen Gegenstände – was zu vertiefen durchaus lohnenswert wäre, hier aber ausgeblendet werden muss –, sondern sie zeigen untereinander, vor allem aber im Vergleich mit Grammatik-Darstellungen, die dezidiert einen wissenschaftlichen Anspruch erheben wie die ‚eigentliche‘ Duden-Grammatik (vgl. dazu Abschnitt 3), Unterschiede im Gestalten. Gemeinsam ist den genannten Darstellungen zunächst, dass sie auf die mit dem Zitieren verbundene Art von Stilwechsel gänzlich verzichten, jedenfalls soweit es um Zitate aus (anderen) wissenschaftlichen Arbeiten geht; zitiert wird dagegen aus literarischen Texten und aus Gebrauchstexten wie Pressetexten, Studienordnungen usw., was ebenfalls dazu dient, Sachverhalte anschaulich zu machen, Interesse zu wecken und geeignete Anknüpfungsmöglichkeiten für die Adressatengruppe zu bieten. Mehr noch aber lassen sich andere Erscheinungsformen von Stilwechseln als Indikatoren dafür deuten, dass die Autoren nicht als Angehörige der Wissenschaftlergemeinschaft, soweit sie sich mit grammatischen Themen beschäftigt, agieren. Vielmehr betätigen sie sich als Mittler zwischen dieser Wissenschaftlergemeinschaft und spezifischen Nutzergruppen, auch wenn diese teilweise (wie Studierende) an Wissenschaftskommunikation teilhaben, überwiegend aber das Ziel verfolgen, sich auf die Vermittlung grammatischen Wissens in Bildungsinstitutionen oder seine Anwendung im Berufsleben, in der Alltagskommunikation usw. vorzubereiten. Zuweilen werden daher direkte Handlungsanweisungen gegeben, die für den (Berufs-)Alltag der Rezipienten gedacht sind:

 (16) In Vorträgen, Protokollen oder Arbeitsberichten sollten Sie einen zu starken Nominalstil vermeiden, weil dies die Lesbarkeit und Verständlichkeit beeinträchtigt. (Steinhauer 2015: 35)

Dass auf diese Weise mehr oder weniger stark ausgeprägte Gestaltungsweisen des Didaktisierens fachwissenschaftlicher Gegenstände entstehen, ist bekannt und liegt auf der Hand; bereits die hier zugrunde gelegte schmale Vergleichsgrundlage lässt erkennen, dass es naheliegend ist, nicht nur von einem „Übergang […] vom theoretisch wissenschaftlichen zum didaktischen Fachstil“ (Petkova-Kessanlis 2017: 186) zu sprechen, sondern im Bereich didaktischen Fachstils von einem Kontinuum auszugehen und zielgruppenorientiert verschiedene Grade der Didaktisierung anzusetzen. Sie schlagen sich nicht nur in didaktisch motivierter Reduktion von Komplexität der Substanz nieder, sondern manifestieren sich auch in der quantitativ und qualitativ unterschiedlichen Nutzung von Stilwechseln und verdeutlichen, wie der Gegenstand „Grammatik“ den Rezeptionsbedürfnissen und ‑fähigkeiten von Zielgruppen mit heterogenen Wissensvoraussetzungen angepasst werden kann; dazu trägt zunächst das bereits erwähnte Dialogisieren und der damit bezweckte Abbau sozialer Distanz bei:

 (17) Vielleicht haben Sie unter den Interrogativsätzen auch Sätze wie Sie reist heute ab? vermisst? (Habermann u.a. 2015: 105)

 (18) Wir wollen in diesem Kapitel zeigen, dass dies eine sehr betrübliche Fehleinschätzung ist, und bitten Sie, uns durch die folgenden Überlegungen zu begleiten. (Habermann u.a. 2015: 143)

 (19) Wie gesprochene Sprache mehr ist als ein Strom von Lauten, so ist geschriebene Sprache mehr als eine Aneinanderreihung von Buchstaben. Was gibt es noch für Elemente in der Schrift? Auf die folgenden Elemente soll hier kurz eingegangen werden: […]. (Dudenredaktion 2017: 26)

Ähnliches bewirkt das Bemühen, vom ‚harten‘ Wissenschaftsstil dadurch abzuweichen, dass als Handlungen Wissen-Zuschreiben und Loben vollzogen werden. Mit diesen Handlungen bemühen sich die Textproduzenten ebenfalls um eine persönlichere Kommunikationsebene und um Distanzabbau, da zumindest kurzzeitig die Asymmetrie, die durch die unterschiedlichen Wissensbestände gegeben ist, verringert erscheint:

 (20) Sie wissen zum Beispiel, dass Nebensätze von Hauptsätzen abhängig sind und nicht umgekehrt. Ein solches Wissen ist wichtig! (Habermann u.a. 2015: 112)

 (21) Dieser Test umfasst alle Bereiche der Grammatik, die in diesem Übungsbuch behandelt wurden, sodass Sie nun Ihr Wissen zu allen Themen komprimiert überprüfen können. (Steinhauer 2015: 105)

Der bereits genannte Verzicht auf Zitate aus wissenschaftlichen Arbeiten zieht Formulierungsweisen nach sich mit Verbalausdrücken wie nennt man, heißen, werden bezeichnet usw.:

 (22) Wörter haben nicht nur eine „objektive“ Bedeutung (Wörterbuchbedeutung), sondern gleichsam auch einen „Beigeschmack“. In der Sprachwissenschaft spricht man hier von Konnotationen. (Dudenredaktion 2017: 458)

 (23) Ein Wort ist also eine Einheit aus Ausdruck und Inhalt, eine Verbindung von Lauten bzw. Buchstaben und einer Bedeutung (die Lehre von den Bedeutungen heißt Semantik). (Hoberg/Hoberg 2016: 69)

Vordergründig entsprechen sie dem sachlichen und unpersönlichen Duktus von Wissenschaftstexten, in Textsorten des didaktischen Fachstils dienen sie aber in erster Linie dazu, sich auf eine nicht genannte fachwissenschaftliche Autorität und Tradition zu berufen (in der Sprachwissenschaft) und in Fragen der gewählten grammatischen Terminologie eine wie auch immer geartete Verbreitung und Akzeptanz zu suggerieren. Gleichzeitig drücken sie im Blick auf die favorisierte Weise des Gestaltens aus, dass entsprechende Belege und Nachweise für die Sachverhaltsdarstellung als verzichtbar anzusehen sind und womöglich von den Rezipienten aufgrund des nicht erkennbaren Nutzens als ‚Störung‘ empfunden werden könnten. Das Akademischmachen (z.B. durch Verweis auf Grammatik-Darstellungen bestimmter Autoren) ist daher allenfalls indirekt zu beobachten.

 (24) Auch hier wird praktisch niemals – außer von Linguisten – hinterfragt, ob es die Einheit Satz überhaupt gibt. (Habermann u.a. 2015: 51)

 (25) Allgemeinsprachlich versteht man unter einem Satz eine eigenständige, in sich geschlossene Redeeinheit […]. In der grammatischen Fachsprache wird hier differenziert. (Hoberg/Hoberg 2016: 338)

 (26) In vielen Grammatiken wird nicht zwischen Präpositionalobjekt und prädikativer Präpositionalgruppe unterschieden; beide werden dann als Präpositionalobjekt bezeichnet. (Dudenredaktion 2017: 378)

Das Stilganze, das sich in der Art der Handlungsdurchführung ergibt, zeichnet sich also gerade durch einen gering(er)en Fachsprachlichkeitsgrad aus. Auf Stilwechsel in Form des Rückgriffs auf Ausdrücke der unterneutralen Stilebene (Umgangs‑, Alltagssprache) wird weitgehend verzichtet, stilistisch markiert ist allerdings der kurzfristige Wechsel von der neutralen und um Objektivität bemühten Sachverhaltsdarstellung zu einer Bewertung. Zu beobachten ist das, wenn bestimmte grammatische Phänomene verbal, zum Teil auch durch graphische Mittel wie Smileys als (in)adäquat gekennzeichnet werden:

 (27) Der Teilsatz 4-1 wird in der Alltagssprache allenfalls von Mitarbeitern in Behörden gebraucht. Wir können ihn „in normales Deutsch“ übersetzen: […] Sie sehen also, wie einfach man es sich machen kann! (Habermann u.a. 2015: 189)

 (28) Nicht zu viel Passiv verwenden! Sätze im Passiv sind typisch für einen bürokratischen Stil und wirken meist nicht sehr ansprechend. Versuchen Sie, sie zu vermeiden: […]. (Steinhauer 2015: 24)

 (29) Es ist unnötig und stilistisch unschön, derselbe anstelle eines Personal- oder Possessivpronomens zu gebrauchen:☹☺Als er das Auto gewaschen hatte, fuhr er dasselbe in die Garage.…, fuhr er es in die Garage.(Hoberg/Hoberg 2016: 248f.)

Auffällig ist dabei, dass Geschmacksurteile weder durch Argumente gestützt noch durch den Verweis auf Normautoritäten und normsetzende Instanzen begründet werden.

Ein weiteres Kennzeichen zunehmender Didaktisierung von Fachstilen ist ein Frequenzanstieg in der Nutzung des Handlungsmusters Simplifizieren. Auch dabei könnte man geneigt sein, Vereinfachungsstrategien hauptsächlich auf die Qualität der vermittelten grammatischen Substanz zu beziehen, gemeint ist aber das Bemühen um eine der Rezipientengruppe entsprechende Formulierungsweise (z.B. im Sinne grammatischer und semantischer Komplexität) mit angemessenem Grad an Fachsprachlichkeit. Die folgenden Beispiele zur grammatischen Kategorie „Modus“ (Indikativ) zeigen, dass im Vergleich der zugrunde gelegten Grammatik-Texte erkennbar Komplexitätsreduktion erfolgt: Die an Erwachsene adressierte kleine Duden-Grammatik (vgl. Hoberg/Hoberg 2016: 6 [Vorwort]) weist, wie zu erwarten, komplexere grammatische Strukturen auf als beispielsweise der Schülerduden. Dort finden sich wesentlich mehr Beispielsätze zur Illustration, die dazu dienen sollen, die Verstehbarkeit der abstrakten Ausführungen zu gewährleisten, für die Erwachsenen-Zielgruppe dagegen wird der Bedarf an Beispielsätzen geringer eingeschätzt, wie die folgenden längeren Belege verdeutlichen:

 

 (30) Der Indikativ (die Wirklichkeitsform) ist der neutrale Modus, die Normalform sprachlicher Äußerungen, von der sich die spezifischen Modi Konjunktiv und Imperativ abheben.Der Indikativ stellt einen Sachverhalt als gegeben dar. Das muss nicht bedeuten, dass es sich um ein reales, tatsächliches Geschehen handelt. Auch „unwirkliche“ Begebenheiten (etwa in Träumen oder Märchen) werden im Indikativ formuliert, wenn sie für den Sprecher Geltung haben, z.B.:Ich stürzte in ein tiefes schwarzes Loch (– und wachte auf). (Hoberg/Hoberg 2016: 128)

 (31) Der Indikativ ist der neutrale Modus des Verbs. Von ihm heben sich die anderen Modi ab. Man gebraucht ihn vor allem, um etwas ohne irgendwelche zusätzliche Schattierungen darzustellen:Stockholm ist die Hauptstadt von Schweden. Gestern hat es den ganzen Tag geregnet. He, du stehst auf meinem Fuß!Der Indikativ kann nicht nur in Aussagen, die sich auf Wirkliches beziehen, gebraucht werden. Man kann mit ihm auch Pläne oder Fantasievorstellungen möglichst neutral darstellen: [zwei Beispielsätze zur Illustration]Der Indikativ kann aber auch zum Ausdruck von (eher unfreundlich gemeinten) Aufforderungen verwendet werden […]. (Dudenredaktion 2017: 78)

 (32) Indikativ (du kommst) ist der neutrale Modus des Verbs, der am häufigsten anzutreffen ist. (Habermann u.a. 2015: 16)

 (33) Der Indikativ ist die Normalform sprachlicher Äußerungen. Er drückt aus, dass ein Sachverhalt gegeben ist.Ein Tag hat 24 Stunden.Rom ist die Hauptstadt Italiens.(Steinhauer 2015: 7)

Wie erkennbar, ist neben geringerer grammatischer und semantischer Komplexität mit geringerem Grad an Fachsprachlichkeit das Exemplifizieren eine wesentliche Realisierungsmöglichkeit für das Simplifizieren: die Illustration und das Erläutern von Sachverhalten an nachvollziehbaren Beispielen, die für den Nutzer Erkenntnisgewinn und Souveränitätszuwachs ermöglichen und ihm die Übertragung auf andere sprachliche Äußerungen erleichtern sollen. Dabei fällt auf, dass sich die Textproduzenten auch bei der Auswahl und Gestaltung der Beispiele in Teilen an der Lebenswelt und am Alter der Rezipienten orientieren: So beziehen sich etwa die Beispielsätze für den Crashkurs Grammatik (Steinhauer 2015) häufig auf die Bereiche „Beruf“ und gelegentlich „Freizeit“:

 (34) Substantivierte Verben sind als Substantiv gebrauchte Verben. Auch zusammengesetzte Verben können substantiviert werden.Das tägliche Arbeiten nervt mich sehr.Ich genieße das Zugfahren sehr.Das Sichgehenlassen im Urlaub ist nicht mein Ding.(Steinhauer 2015: 28)

In ähnlicher Art der Rezipientenorientierung finden sich im Schülerduden oft Beispiele aus der Lebenswelt von Schülern –

 (35) Es gibt auch zusammengezogene Teilsätze. Im folgenden Beispiel ist der Hauptsatz (a) zusammengezogen:(a) Thomas rudert im Klub und hat trotzdem Zeugnisnoten,(b) die weit über dem Durchschnitt liegen. (Dudenredaktion 2017: 320)

– und es ist sicher kein Zufall, dass die Autoren bzw. der Verlag im Interesse des Attraktivmachens auch auf Beispiele aus „moderner Lyrik und Rap“ (Vermerk auf der ersten Umschlagseite) zurückgreifen.

3 Stilwandel im diachronen Vergleich zielgruppengleicher Grammatik-Darstellungen

Im Folgenden wird ein kursorischer Blick auf Stilwandelphänomene in der Grammatikschreibung bzw. Grammatikographie geworfen. Die Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, die als Duden-Grammatik erstmals 1959 erschienen ist und mittlerweile in 9. Auflage vorliegt, bietet dafür u. E. einen geeigneten Anknüpfungspunkt.1 Vergleicht man die bisher vorliegenden neun Auflagen, springen zunächst Veränderungen ins Auge, die den Umfang und das Layout betreffen: So hat sich der Umfang der Duden-Grammatik von ursprünglich knapp 700 Seiten auf aktuell 1.340 Seiten fast verdoppelt. In der Auflagenhistorie fällt außerdem insbesondere das Bemühen um Verbesserung der Übersichtlichkeit auf; dazu gehört, dass Gliederungs‑ und Aufzählungsverfahren leserfreundlicher gestaltet werden, dass – erkennbar schon seit der 3. (1973), verstärkt aber seit der 4. Auflage (1984) – Inhalte zunehmend mit Tabellen aufbereitet und dass typographische Hervorhebungen eingesetzt werden, dass ferner mit der 7. Auflage (2005) zweifarbiger Druck eingeführt worden ist und dass seit der 8. Auflage (2009) an zentraler Stelle, den Umschlaginnenseiten, Benutzungshinweise aufgenommen worden sind. Und auch die Modernisierung der Schriftart ist im Zusammenhang mit Gestaltungsstrategien zu sehen, die die Übersichtlichkeit und die schnelle Orientierung fördern und in Typographie und Layout einen rezipientenfreundlichen Eindruck hervorrufen sollen.

Dass erstmals mit der 4. Auflage ein Literaturverzeichnis Teil der Duden-Grammatik ist, kann als (vordergründiges) Zeichen des Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit als Stilmerkmal interpretiert werden. Dieser Anspruch wird dadurch etwas relativiert, dass die angegebene Sekundärliteratur seit der 6. Auflage (1998) als „Auswahl“ bezeichnet wird, wenn auch – als Folge vermutlich auch der ‚Flut‘ an Forschungsliteratur zur deutschen Grammatik – die Zahl aufgeführter Referenzwerke stark angewachsen ist (von z.B. 157 Titeln in der 4. Auflage von 1984 und 159 Titeln in der 5. Auflage von 1995 auf 431 Titel in der 9. Auflage von 2016). Mag ein (anwachsendes) Literaturverzeichnis möglicherweise Wissenschaftlichkeit suggerieren, so verdeckt das allerdings etwas den Umstand, dass das für eine wissenschaftliche Arbeitsweise charakteristische und für das damit verbundene Erfüllen von Lesererwartungen vermutlich bedeutsamere Einarbeiten von und das Verweisen auf einschlägige Forschungsliteratur im Laufe der Zeit erkennbar reduziert worden ist. Auch darin allerdings kann man eine weitere Konsequenz aus dem Bemühen um rezipientenfreundliche Gestaltung für einen sehr breiten und nicht notwendigerweise mit Konventionen der Gestaltung von Wissenschaftstexten vertrauten Adressatenkreis erkennen.

Zu diesen ersten recht augenfälligen Befunden – Stärkung von Übersichtlichkeit als Stilmerkmal und quantitativ zwar zunehmendes (Literaturmenge), qualitativ aber abnehmendes (Zitate, Verweise usw.) Wissenschaftlichmachen in der textlichen Darstellung – kommt die mit dem Anspruch und zugleich Ausweis von Expertenschaft verbundene Angabe der jeweiligen Autorenteams, die in den Anfängen hinter der Angabe des leitenden Bearbeiters, später dann des verantwortlichen Dudenredakteurs bzw. der Dudenredaktion als Herausgeberin sichtbar werden:2


Auflage Bearbeiter / Herausgeber Autorinnen und Autoren Zuständigkeit
1 (1959) 2 (1966) Paul Grebe Max Mangold Der Laut
Dieter Berger Das Wort: Die Wortbildung
Helmut Gipper Der Inhalt des Wortes und die Gliederung des Wortschatzes
Rudolf Köster Das Wort: Wortarten
Paul Grebe Der Satz
Christian Winkler Die Klanggestalt des Satzes
3 (1973) Paul Grebe Max Mangold Der Laut
Helmut Gipper Der Inhalt des Wortes und die Gliederung des Wortschatzes
Wolfgang Mentrup Das Wort: Die Wortarten (in Teilen)
Paul Grebe Der Satz
Christian Winkler Die Klanggestalt des Satzes
4 (1984) Günther Drosdowski Max Mangold Der Laut
Gerhard Augst Der Buchstabe
Hermann Gelhaus Die Wortarten
Hans Wellmann Die Wortbildung
Helmut Gipper Der Inhalt des Wortes und die Gliederung der Sprache
Horst Sitta Der Satz
Christian Winkler Die Klanggestalt des Satzes
5 (1995) 6 (1998) Günther Drosdowski bzw. Dudenredaktion Peter Eisenberg Der Laut und die Lautstruktur des Wortes, Der Buchstabe und die Schriftstruktur des Wortes
Hermann Gelhaus Die Wortarten
Hans Wellmann Die Wortbildung
Helmut Henne Wort und Wortschatz
Horst Sitta Der Satz
7 (2005) 8 (2009) 9 (2016) Dudenredaktion bzw. Angelika Wöllstein / Dudenredaktion Peter Eisenberg Phonem und Graphem
Jörg Peters Intonation
Peter Gallmann Was ist ein Wort?, Grammatische Proben, Die flektierbaren Wortarten (außer: Das Verb), Der Satz
Cathrine Fabricius-​Hansen Das Verb
Damaris Nübling Die nicht flektierbaren Wortarten
Irmhild Barz Die Wortbildung
Thomas A. Fritz Der Text
Reinhard Fiehler Gesprochene Sprache

Die Übersicht macht die jeweilige (unterschiedlich umfangreiche) Zusammensetzung der Autorenteams und die Verteilung der Zuständigkeiten deutlich, außerdem ist erkennbar, wie sich die Struktur der Grammatik und der Zuschnitt einzelner Teile im Laufe der Zeit gewandelt hat. Abgesehen von in der Natur der Sache liegenden Veränderungen in der Zusammensetzung und Verantwortlichkeit (stellvertretend sei auf die konzeptionellen und darstellerischen Veränderungen des Wortbildungs-Kapitels im Übergang der Zuständigkeit von Hans Wellmann [4.–6. Auflage] zu Irmhild Barz [seit der 7. Auflage] verwiesen) ist hier vor allem das Bemühen um Kontinuität, aber auch die Erweiterung der Autorenteams bemerkenswert, da durch die damit verbundene Arbeitsteilung der Anspruch auf Expertenschaft zusätzlich bekräftigt wird.

 

Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen ist nun weitergehend nach Veränderungen des anvisierten Adressatenkreises und nach den Zielsetzungen der Duden-Grammatik zu fragen. Dabei darf man davon ausgehen, dass eine im Selbstverständnis und mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Darstellung konzipierte Grammatik in stilistischer Einheitlichkeit durch die für Wissenschaftstexte üblichen und erwartbaren Gestaltungsmerkmale geprägt ist und nicht auf attraktivitätssteigernde und die Rezeptionsbereitschaft fördernde Strategien angewiesen sein müsste. Dennoch nach Stilwechseln und nach Veränderungen bei ihrer Verwendung im Laufe der 60-jährigen Bestehenszeit zu fragen, gründet sich darauf, dass die Duden-Grammatik bereits seit der 3. Auflage (1973) mit dem Anspruch auftritt, „[u]nentbehrlich für richtiges Deutsch“ zu sein. Ohnehin ist ein Vergleich der Buchtitel und Titelseiten sehr aufschlussreich:


Auflage Titel Untertitel bzw. Werbezusatz Zusatztext (vordere Umschlagseite)
1 (1959) Duden – Grammatik der deutschen Gegenwartssprache braucht jeder, um Wortformen und Satzbau zu beherrschen Die Hauptkapitel des Buches: Der Laut, die Wortarten, die Wortbildung, der Inhalt des Wortes und die Gliederung des Wortschatzes, der Satz. Zahlreiche praktische Beispiele und ein Sach‑ und Wortregister mit ca. 10000 Stichwörtern.
2 (1966) Duden – Grammatik der deutschen Gegenwartssprache Die Hauptkapitel des Buches: Der Laut, die Wortarten, die Wortbildung, der Inhalt des Wortes und die Gliederung des Wortschatzes, der Satz. Zahlreiche praktische Beispiele und ein Sach‑ und Wortregister mit ca. 10000 Stichwörtern.
3 (1973) Duden – Grammatik der deutschen Gegenwartssprache Unentbehrlich für richtiges Deutsch (vordere Umschlagseite) Ausführliche Darstellung des Aufbaus unserer Sprache • Vom Laut über das Wort zum Satz • Zahlreiche Beispiele für Wortbildung, Konjugation, Deklination und alle anderen Bereiche der Sprache
4 (1984) Duden – Grammatik der deutschen Gegenwartssprache Umfassende Darstellung des Aufbaus der deutschen Sprache vom Laut über das Wort zum Satz. Mit zahlreichen Beispielen, übersichtlichen Tabellen und Registern.
5 (1995) Duden – Grammatik der deutschen Gegenwartssprache Umfassende Darstellung des Aufbaus der deutschen Sprache vom Laut über das Wort zum Satz. Mit zahlreichen Beispielen, übersichtlichen Tabellen und ausführlichem Register.
6 (1998) Duden – Grammatik der deutschen Gegenwartssprache Das unentbehrliche Standardwerk für richtiges Deutsch (vordere Umschlagseite) Der Aufbau der deutschen Sprache in umfassender Darstellung mit zahlreichen Beispielen, anschaulichen Tabellen und einem ausführlichen Register
7 (2005) Duden – Die Grammatik Unentbehrlich für richtiges Deutsch (vordere Umschlag‑ und innere Titelseite) Umfassende Darstellung des Aufbaus der deutschen Sprache vom Laut über das Wort und den Satz bis hin zum Text und zu den Merkmalen der gesprochenen Sprache Mit zahlreichen Beispielen, übersichtlichen Tabellen und Grafiken sowie ausführlichem Register
8 (2009) Duden – Die Grammatik
9 (2016) Duden – Die Grammatik Der Aufbau der deutschen Sprache vom Laut über das Wort und den Satz bis hin zum Text und zu den Merkmalen der gesprochenen Sprache

Besonders fällt auf, dass die Duden-Grammatik mit Erscheinen der 7. Auflage auf die spezifizierende und womöglich als einschränkend rezipierbare Angabe des Geltungsbereichs („Grammatik der deutschen Gegenwartssprache“) verzichtet und mit dem Titel „Die Grammatik“ einen allgemeineren und umfassenderen Geltungsanspruch erhebt, der sich zudem in zwei grundverschiedenen Weisen auffassen lässt: Auf der einen Seite spiegelt sich darin, wie es auch in der Veränderung der Zusatztexte zum Ausdruck kommt, die – in Anpassung an und Reaktion auf die jeweiligen wissenschaftsgeschichtlichen Neuerungen vollzogene – Ausweitung der Beschreibungsgegenstände nicht nur um ein Text-Kapitel (seit der 5. Auflage), sondern vor allem um ein Kapitel zur „Gesprochene[n] Sprache“ (seit der 7. Auflage) in Verbindung mit einem zunehmenden Verzicht auf literarische Belege zugunsten von authentischen Beispielen aus geschriebenen Gebrauchstexten, vor allem aber auch aus dem Bereich der Mündlichkeit. Betont wird so die Legitimation des Anspruchs, eine grammatische Darstellung der geschriebenen wie auch der gesprochenen (Standard‑)Sprache zu liefern und alle relevanten Beschreibungsebenen zu berücksichtigen.

Auf der anderen Seite kann man die Titelverkürzung und die Verallgemeinerung des Gegenstands auch als eine den Untertitel bzw. den Werbezusatz „Unentbehrlich für richtiges Deutsch“ verstärkende Nutz‑ und Zuständigkeitsbehauptung deuten, wie sie etwa auf der hinteren Umschlagseite der 9. Auflage explizit angegeben ist, wenn die typischen Groß-Verwendungsbereiche („Das bekannte Standardwerk für Schule, Universität und Beruf“) genannt werden. Dass solche recht markigen Ansprüche dem Bemühen um Absatzförderung geschuldet sind, liegt zwar auf der Hand, sie verdeutlichen aber, dass die Grammatik nicht allein ein fachwissenschaftliches, sondern ein wesentlich weiter gefasstes Publikum von Sprachinteressierten ansprechen und erreichen möchte: So

„[…] wird der heutige Stand des Wissens über Formen und Funktionen der deutschen Standardsprache in einheitlicher und verständlicher Terminologie gebündelt und beschrieben.

Damit ist diese Grammatik zum einen für den Einsatz an Schulen und Universitäten bestimmt, zum anderen richtet sie sich als praktischer Helfer an Nutzer, die sich in ihrem Berufsalltag viel mit der deutschen Sprache beschäftigen oder ein persönliches Interesse an sprachlichen Fragen haben. Ein besonderes Anliegen der Herausgeberin sowie der Autorinnen und Autoren ist es auch, auf die speziellen Bedürfnisse von Lehrenden und Lernenden des Deutschen als Fremdsprache einzugehen, sodass sich die Grammatik gewinnbringend im Unterricht und im Selbststudium einsetzen lässt.“ (Wöllstein/Dudenredaktion 2016: 5 [Vorwort zur 9. Auflage])3

Dass sich die Duden-Grammatik gleichsam als Allzweck-Handbuch und Nachschlagewerk versteht, lässt sich auf jeden Fall ab der 4. Auflage von 1984 zwar nicht in ausdrucksgleichen Formulierungen, aber in der inhaltlich weitgehend übereinstimmenden Charakterisierung der Zielgruppe belegen:

„In dieser Situation [Verbreitung neuer Sprachtheorien und Grammatikmodelle seit den 1970er Jahren] kommt der Neuauflage der Duden-Grammatik in besonderem Maße die Aufgabe zu, eine Orientierung für Lehrende und Lernende in einer Zeit widerstreitender sprachwissenschaftlicher Schulen und Richtungen zu sein. […] Hauptziel der Neubearbeitung war es, durch eine noch übersichtlichere und verständlichere Darstellung die Benutzbarkeit der Duden-Grammatik zu verbessern. Auch der sprachlich interessierte Laie, der sich über den Aufbau unserer Sprache unterrichten will oder Rat sucht bei grammatischen Zweifelsfällen, soll diese Grammatik benutzen können. Nicht zuletzt soll die Duden-Grammatik auch ein praktisches Handbuch für den Unterricht der deutschen Sprache als Fremdsprache sein.“ (Drosdowski 1984: 5 [Vorwort zur 4. Auflage])