Stilwechsel und ihre Funktionen in Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation

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4 Fazit

Die exemplarische Analyse von Texten, die sich mit wissenschaftlich-technischen Neuerungen auseinandersetzen, hat zunächst gezeigt, dass neue Technikkonzepte (z.B. smart, IoT) und die damit im Zusammenhang stehenden Fachbegriffe häufig aufgrund fehlender Übersetzungen direkt aus dem Englischen in deutsche (popularisierende) Texte übernommen werden. Da ihr Begriffsumfang, ihre Definition und ihr Verständnis meist noch einer fachlichen Präzisierung bedürfen, bleiben sie oft vage und werden auch in Blogtexten zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Es gibt derzeit keine klare Tendenz, ob die aus dem Englischen stammenden Fachbegriffe besser übernommen werden sollten oder ob es besser verständnisfördernde Übersetzungen geben sollte. Vielleicht ist es an dieser Stelle sinnvoll, Autoren die von der Textakademie1 formulierten drei Faustregeln für die Verwendung von englischen Wörtern an die Hand zu geben:

 (1) Verwenden Sie ein englisches Wort, wenn es im Deutschen keinen passenden Ersatz gibt.

 (2) Nutzen Sie ein englisches Wort, wenn ihr Produkt global gedacht und vermarktet wird.

 (3) Setzen Sie nur auf ein englisches Wort, wenn Sie sicher sind, Ihre Zielgruppe versteht dieses Wort oder kann es – bei Marken und Produktnamen – zumindest richtig aussprechen.

Betrachtet man den Textaufbau und die Funktion der untersuchten Texte, lässt sich feststellen, dass sie in der Regel eine kommunikative Mehrfachfunktion erfüllen. Sie liefern Informationen zu neuen Entwicklungen, versuchen zur Verständlichkeit von Fachbegriffen beizutragen und aufzuklären, aber werden auch dazu genutzt, indirekt Werbung für eine Entwicklung, ein Unternehmen oder einen Prozess zu machen und diesen entsprechend über Argumentationsketten positiv zu vermarkten. Bei der Darstellung von Neuentwicklungen, die einen komplexen Charakter tragen oder Ängste provozieren (könnten), vollzieht sich in der Regel ein Stilwechsel vom Schriftsprachstil zum mündlichen Kommunikationsstil, der eine Vielzahl journalistischer Züge trägt: Überspitzte Überschriften, die als Leseanreiz dienen; Bilder, die durch Größe, Abstraktheit, Farbkombination auffallen; reale oder fiktive Episoden und/oder Interviews, die in direkter/indirekter Rede wiedergeben werden; veranschaulichende Beispiele, Vergleiche zum Alltag und Verlinkung zu multimedialen Elementen (Animationen, Videos) als Zusatzinformationen und Hypertextverknüpfungen. Die zeitnahe Reflexion von wissenschaftlichen Informationen führt zudem zu einer neuen Qualität des (populär-)wissenschaftlichen Austauschs, wobei die Akteure für die sprachlich-stilistischen Veränderungen nicht so stark sensibilisiert zu sein scheinen, was sich z.B. im Gebrauch von Jargonausdrücken und Alltagssprache äußert.

In ihrer Summe wirken die Sprach- und Stilmittel auch als Ausdruck von Bildungssprache, d.h. zur Vermittlung zwischen Fachlichem und Alltäglichem.

Die im Internet veröffentlichten Blogtexte helfen bei der Rezeption von Fachinhalten, können aber nicht als deren Ersatz dienen, da die teilweise auch verkürzt dargestellten Informationen zu Halbwissen über Sachverhalte beitragen können. Folglich sind die Leser aufgefordert, das Rezipierte auch kritisch zu hinterfragen und über weitere Informationsquellen den Wahrheitsgehalt in Zeiten der Informationsflut zu überprüfen.

Die in der forsa-Umfrage (2014) benannten Auswirkungen der Digitalisierung auf die deutsche Sprache scheinen sich durch die exemplarische Analyse der Texte in diesem Beitrag tendenziell zu bewahrheiten. Um reliabel Aussagen treffen zu können, sind jedoch erheblich größere Datenmengen zu untersuchen und ihre Ergebnisse zu dokumentieren. Damit erschließt sich für die Angewandte Linguistik ein interessantes Forschungsfeld zur Auswirkung von Digitalisierung auf die Sprache und auf Texte sowie das Texten und die Rezeption.

Insgesamt ist festzustellen, dass der Facettenreichtum der Kommunikation über Wissenschaft und Technik über Medialisierung, Digitalisierung und auch Kommerzialisierung deutlich gewachsen ist. Es wird daher auch weiterhin Aufgabe des Wissenschaftsjournalismus und der Linguistik sein, diese Prozesse entsprechend zu begleiten und sowohl quantitativ als auch qualitativ zu bewerten.

Literatur

Adamzik, Kirsten 2010: Wissenschaftstexte im Kulturvergleich. Probleme empirischer Analysen. In: Marina Foschi Albert / Marianne Hepp / Eva Neuland / Martine Dalmas (Hg.): Text und Stil im Kulturvergleich. München, 137–153.

Auer, Peter / Baßler, Harald (Hg.) 2007: Reden und Schreiben in der Wissenschaft. Frankfurt a.M.

Berg, Helene 2018: Wissenschaftsjournalismus zwischen Elfenbeinturm und Boulevard. Eine Langzeitanalyse der Wissenschaftsberichterstattung deutscher Zeitungen. Wiesbaden.

Bonfadelli, Heinz / Fähnrich, Birte / Lüthje, Corinna / Milde, Jutta/Rhomberg, Markus/Schäfer, Mike S. (Hg.) 2017: Forschungsfeld Wissenschaftskommunikation. Wiesbaden.

Conein, Stephanie / Schrader, Josef / Stadler, Matthias (Hg.) 2004: Erwachsenenbildung und die Popularisierung von Wissenschaft: Probleme und Perspektiven bei der Vermittlung von Mathematik, Naturwissenschaften und Technik. Bielefeld.

Enderli, Samuel 2014: Weblogs als Medium elektronischer Schriftlichkeit. Eine systemtheoretische Analyse. Hamburg.

forsa 2014: Auswirkungen der zunehmenden Digitalisierung auf die deutsche Sprache. Ergebnisse einer Befragung von Sprachwissenschaftlern. Berlin.

Göpferich, Susanne 1995: Textsorten in Naturwissenschaft und Technik. Pragmatische Typologie – Kontrastierung – Translation. Tübingen.

Koskela, Merja 2002: Ways of representing specialized knowledge in Finnish and Swedish science journalism. In: LSP & Professional Communication 2, Heft 1. URL: https://rauli.cbs.dk/index.php/LSP/article/viewFile/1942/1945 [31.01.2019].

Mauranen, Anna 2013: Hybridism, edutainment, and doubt: Science blogging finding its feet. In: Nordic Journal of English Studies 13, Heft 1, 7–36.

Meiler, Matthias 2018: Eristisches Handeln in wissenschaftlichen Weblogs. Medienlinguistische Grundlagen und Analysen. Heidelberg.

Moss, Christoph / Heurich, Jill-Catrin 2015: Weblogs und Sprache: Untersuchung von linguistischen Charakteristika in Blog-Texten. Wiesbaden.

Niederhauser, Jürg 1999: Wissenschaftssprache und populärwissenschaftliche Vermittlung. Tübingen.

Schach, Annika 2015: Advertorial, Blogbeitrag, Content-Strategie & Co. Neue Texte der Unternehmenskommunikation. Wiesbaden.

Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft

Zur Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Ulla Fix

Gliederung

 1 Vorhaben

 2 Ludwik Fleck: Denkstil, Denkkollektiv, denksoziale Formen 2.1 Zum Denkstil 2.2 Zum Denkkollektiv 2.3 Zu den denksozialen Formen

 3 Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘

 4 Diskurslinguistisches Vorgehen: EIN-Text-Diskursanalyse

 5 Kommunikationsbereich / Funktionalstil

 6 Charakterisierung der Denkkollektive und Denkstile 6.1 Neoidealismus: Immanente Werkanalyse und Stilistik 6.2 Strukturalismus: Der Text als strukturelle Einheit 6.3 Pragmalinguistik: Der Text als kommunikative Einheit

 7 Textanalyse 7.1 Spitzer: Matthias Claudius’ Abendlied 7.2 Fucks / Lauter: Mathematische Analyse des literarischen Stils 7.3 Sandig: Stil ist relational! Versuch eines kognitiven Zugangs

 8 Fazit

1 Vorhaben

Das Thema des vorliegenden Bandes Stilwechsel und ihre Funktionen in Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation legt neben anderen Ansätzen auch den nahe, sich auf Überlegungen Ludwik Flecks zu Denkstil, Denkkollektiv und denksozialen Formen1 (Fleck 1980; 1983; 2011) zu besinnen und aus dieser Perspektive den Blick auf den Wechsel von Denk- und damit auch von Sprachstilen zu richten. Das lässt sich z.B. an sprachwissenschaftlichen Texten2 nachvollziehen, wobei es sich anbietet, Texte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu betrachten, also aus einer nicht so weit zurückliegenden, noch von Zeitzeugen erlebten und bis heute nachwirkenden Periode. Ein solches Vorgehen verspricht zweierlei: Zum einen bedeutet es natürlich einen Gewinn für die Sprachwissenschaft selbst: Man kann einen − wenn auch sehr begrenzten − Einblick gewinnen in die Entwicklung des textsorten- und textstilbezogenen Zweigs der Sprachwissenschaft im genannten, von verschiedenen Denkstilen geprägten Zeitraum und damit wissenschaftsgeschichtliche Aufschlüsse erlangen. Zum anderen ergibt sich, indem man den Blick aus der Perspektive von Denkstil und Denkkollektiv auf den Text selbst richtet, diesen also als denk- und sprachstilgeprägte Äußerung betrachtet, auch ein erkenntnistheoretischer Gewinn. Diesem Ansatz will ich folgen.

 

In der mittlerweile vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Fleck’schen Gedankengut hat das Interesse vorrangig der theoretischen Beschäftigung mit den von Fleck eingeführten Kategorien gegolten. Selten aber hat man sich, soweit ich sehe, der Betrachtung von Texten selbst mit Blick auf deren Denkstilgebundenheit, die sich am typischen Textsorten- und Stilcharakter der Texte zeigen müsste, zugewandt (vgl. Andersen u.a. 2018). Dabei lag und liegt es eigentlich nahe, das Phänomen eines Denkstilwechsels an den Textformen, wie sie für bestimmte Forschungsperioden mit deren Denkstilen typisch sein können, zu verfolgen. Genau das will ich nun versuchen, indem ich mich der Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ zuwende, die auch in der Sprachwissenschaft eine zentrale Rolle spielt. Ich gehe davon aus, dass Veränderungen, die sich im Laufe der Entwicklung der Sprachwissenschaft bei dieser wie bei anderen Textsorten ergeben haben, Zeugnisse von Denkstilwandel sind. In diesem Zusammenhang wird die Fleck’sche Kategorisierung von Textsorten, also von „denksozialen Formen“ (Fleck 1980: 148), im Wissenschaftsbereich eine besondere Rolle spielen. Diese Kategorisierung wird zunächst vorgestellt und durch einen textlinguistischen Blick auf die Kategorien ‚Text‘ (Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘) und ‚Stil‘ (‚Funktionalstil‘) ergänzt.

Es folgt als erster, sicher noch unzulänglicher Versuch − der aber immerhin ein Anfang ist − eine knappe Charakterisierung des Denkstils je eines Denkkollektivs aus den Perioden des Neoidealismus, des Strukturalismus und der Pragmalinguistik. Im empirischen Teil des Beitrags soll das zuvor theoretisch Entwickelte am Fall eines wissenschaftlichen Aufsatzes der jeweiligen Periode im Sinne der EIN-Text-Analyse (vgl. Fix 2015) überprüft werden. Die Ergebnisse der textstilistischen Analyse werden – in Auszügen3 − auf das jeweilige Denkkollektiv und die „denksoziale Form“ des Aufsatzes bezogen. Es handelt sich um drei sprachwissenschaftliche Aufsätze, die man − mit aller Vorsicht − als typisch für eine Denkstilperiode ansehen kann. Es sind: Leo Spitzer: Matthias Claudius’ Abendlied (1960), Wilhelm Fucks/Josef Lauter: Mathematische Analyse des literarischen Stils (1965) und Barbara Sandig: Stil ist relational! Versuch eines kognitiven Zugangs (2001).

2 Ludwik Fleck: Denkstil, Denkkollektiv, denksoziale Formen
2.1 Zum Denkstil

Fleck prägt „als konzeptionelle Instrumente“, so Schäfer/Schnelle in ihrer Einleitung zur Neuauflage,

„die Begriffe des Denkkollektivs und des Denkstils. Ersterer bezeichnet die soziale Einheit der Gemeinschaft der Wissenschaftler eines Faches, letzterer die denkmäßigen Voraussetzungen, auf denen das Kollektiv sein Wissensgebäude aufbaut. Dahinter steht das epistemologische Konzept, dass Wissen nie an sich, sondern immer nur unter der Bedingung inhaltlich bestimmter Vorannahmen über den Gegenstand möglich ist.“ (Schäfer/Schnelle 1980: XXV; Hervorhebungen im Orig.)

Der Denkstil, so Fleck, legt fest, was innerhalb des Kollektivs als wissenschaftliches Problem, evidentes Urteil oder angemessene Methode angenommen wird. Was als Wahrheit gelte, könne nur in der „stilgemäßen Auflösung von Problemen“ (Fleck 1980: 131) bestimmt werden. Es geht ihm nicht um die Gestalt der Sprache, also den Sprachstil. Nicht die „Färbung der Begriffe“, so sagt er, und ihre Verknüpfung machen den Denkstil aus, sondern „ein bestimmter Denkzwang“ und „das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln“ (ebd.: 85). Dieser Zwang evoziert und prägt die wissenschaftlichen Tatsachen. Fleck erwähnt in dem Kontext aber auch − wenngleich nicht systematisch − den Gebrauch der Sprache.1 So heißt es grundsätzlich: „Der Stil wird sich nach außen in einer gemeinsamen Sprache und gemeinsamen Institutionen, ähnlicher Kleidung, Häusern, Werkzeugen usw. realisieren“ (Fleck 1983: 170). Im Einzelnen geht es ihm dann z.B. um den Aufbau der Sprache, der schon etwas über den Denkstil aussage (Fleck 1980: 58), um Wörter und ihre Schärfe bzw. Unschärfe (Fleck 1983: 95ff.), um den Gebrauch als ‚Schlagworte‘ (Fleck 1980: 59), um bildliches Sprechen2 und vor allem um die Verwendung der Sprache als ‚Wissenschafts-‘ oder ‚Populärsprache‘ (vgl. ebd.: Kap. 4.4). Hier knüpfe ich an: Fleck zeigt am Sprachgebrauch, besonders an dem der Wissenschaftssprache, den Einfluss, den sprachliche Zeichen auf das Denken und die Herausbildung von Denkkollektiven haben können. An dieser Stelle kommt nun die Kategorie ‚Denkkollektiv‘ als „soziale Einheit der Gemeinschaft der Wissenschaftler eines Faches“ (Schäfer/Schnelle 1980: XXV) ins Spiel. Den Denkstil, so heißt es, „charakterisieren gemeinsame Merkmale der Probleme, die ein Denkkollektiv interessieren, […] Urteile, die es als evident betrachtet, […] Methoden, die es als Erkenntnismittel anwendet“ (Fleck 1980: 130). Weiter: „Ihn begleitet eventuell ein technischer und literarischer Stil des Wissenssystems“ (ebd.). Diese Erkenntnis hat Fleck aus der Beobachtung seiner eigenen Forschungstätigkeit, vor allem bei der kollektiven Arbeit im Labor, gewonnen. So kommt er zu der Auffassung, dass jede wissenschaftliche Tatsache ein historisch und kulturell bedingtes Phänomen sei und nicht einfach vorliege, sondern sich aus unterschiedlichen Diskursen ergebe. Fazit: Denkstile sind zeittypisch und kulturell-sozial geprägt – als Denk- und Sprachformen, über die Kollektive in einer bestimmten Zeit verfügen. Zum wissenschaftlichen Denkstil gehören „eine gewisse formelle und inhaltliche Abgeschlossenheit, […] manchmal besondere Sprache, oder wenigstens besondere Worte“, die „formal, wenn auch nicht absolut bindend, die Denkgemeinde ab[schließen]“ (ebd.: 136).

2.2 Zum Denkkollektiv

Wissenschaftliches Denken ist also nach Fleck mehrfach bestimmt: erstens durch die soziale Gemeinschaft der Wissenschaftler eines Faches, zweitens durch die sich daraus ergebende kollektiv bestimmte Sicht auf die Probleme sowie deren Darstellung und drittens durch die Umstände der Zeit, in der das Kollektiv agiert. Nicht übersehen werden darf, dass ein Denkkollektiv für Fleck nicht eine „fixe Gruppe oder Gesellschaftsklasse“ ist, sondern ein „sozusagen mehr funktioneller als substantieller Begriff, dem Kraftfeldbegriff der Physik z.B. vergleichbar“ (Fleck 1980: 135). Ein Denkkollektiv kann von geringerem oder größerem Umfang sein und bereits dann entstehen, „wenn zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen“ (ebd.). Dies sind dann „momentane, zufällige Denkkollektive, die jeden Augenblick entstehen und vergehen“ (ebd.). Daneben aber „gibt es stabile oder verhältnismäßig stabile: sie bilden sich besonders um organisierte soziale Gruppen“ (ebd.; Hervorhebung im Orig.). Hierzu gehören zweifellos die Kollektive von Wissenschaftlern. In Gruppen von Wissenschaftlern als (relativ) stabilen Denkkollektiven verfestigt sich ein Denkstil als „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ (ebd.: 130). Stabile Denkkollektive bilden einen spezifischen Denkstil mit zum Teil spezifischen Wörtern und technischen Termini aus. „Stabilisiert sich ein Denkstil über Generationen hinweg, wird dieser innerhalb des Denkkollektivs durch Schulung, Erziehung und besondere Zeremonien der Aufnahme […] an die nachfolgenden Generationen weitergegeben“ (Möller 2007: 399; Hervorhebungen U. F.).1 Bei Fleck spielt das Horizontale, das Nebeneinander der Denkkollektive die bestimmende Rolle, während die vertikale Über- und Unterordnung von Denkkollektiven für ihn weniger präsent zu sein scheint. Sicher muss man aber auch diese hierarchische Ordnung einbeziehen, die mit Blick auf den Denkstil zu Stufen von Kollektivität führt. Je nachdem auf welcher Ebene man sich befindet, wird der Grad der kollektiven Zusammengehörigkeit und damit die Übereinstimmung im Denkstil und der Bestand der gemeinsamen Denkfiguren und Argumentationsmuster größer sein. Blickt man auf die hier vorgestellte Hierarchie der Geisteswissenschaften, so wird klar, dass sich die Denkkollektive auf unteren Ebenen (4, 5) bilden. Hier vollzieht sich Denkstilwandel. Daran wird anzuknüpfen sein.

(1) Wissenschaft

(2) Geisteswissenschaften

(3) Sprachwissenschaft

(4) Sprachtheorie, Grammatik, Stilistik u.a.

(5) Richtungen innerhalb der Teildisziplinen

2.3 Zu den denksozialen Formen

Auch innerhalb eines Denkkollektivs findet man Hierarchisierung: Fleck unterscheidet hier einen esoterischen (inneren) und einen exoterischen (äußeren) Kreis.

„Dabei entspricht der esoterische Kreis der Elite eines Denkkollektivs. Dies sind die ‚Eingeweihten‘, die für das Fortentwickeln des Wissensbestandes durch Diskussion und Veröffentlichungen von Bedeutung sind. Entsprechend gehören relativ wenige Personen diesem Kreis an. Im Gegensatz dazu bildet die Mehrheit eines Denkkollektivs den exoterischen Kreis. Hierzu gehören die Laien und die MitläuferInnen. Sie haben ihre Bedeutung in der Annahme des vom esoterischen Kreis veröffentlichten Wissens und in dessen Bewertung.“ (Brühe/Theis 2008)

Bei dieser Unterscheidung nach Kreisen von Denkkollektiven hat Fleck auch deren denksoziale Formen − in der linguistischen Terminologie die ‚Textsorten‘ − im Blick, die dem jeweiligen Publikum auf unterschiedliche Weise Wissen vermitteln. Die Textsorten wissenschaftlichen Denkstils, mit denen Fleck sich befasst hat, sind ‚Zeitschriftenartikel‘, ‚Handbuch‘ und ‚populäre Wissenschaft‘ (Fleck 1980: 148). Die ‚Zeitschriftwissenschaft‘ und die ‚Handbuchwissenschaft‘ bilden nach Fleck die denksozialen Formen des esoterischen Kreises. Ihre Inhalte sind für den Rest der Gesellschaft kaum verständlich. Erst durch die ‚populäre Wissenschaft‘ wird der exoterische Kreis der „allgemein gebildeten Dilettanten“ (ebd.) erreicht. Die Zeitschriftwissenschaft, sagt Fleck, trägt „das Gepräge des Vorläufigen und Persönlichen“ (ebd.: 156). Das heißt, der Autor befindet sich noch im Prozess der Erkenntnis. Für alles ist er allein verantwortlich. Nicht alles ist schon abgesichert. Vielmehr: Nichts wird je völlig abgesichert sein. Das äußert sich u.a. in der Vorsicht bei Formulierungen. „Fast immer“, so Fleck, will der Autor „seine Person verschwinden lassen“ (ebd.: 157), indem er sich unpersönlich ausdrückt. Zur Zeitschriftwissenschaft gehören die Texte, die in diesem Aufsatz betrachtet und von denen drei analysiert werden. Es zeigt sich u.a. in den Arbeiten von Brommer (2018) und Klammer (2017), dass diese Haltung auch heute noch gilt. Bei Fleck heißt es:

„Die Zeitschriftwissenschaft trägt […] das Gepräge des Vorläufigen und Persönlichen […] Hierzu gehört […] die spezifische Vorsicht der Zeitschriftarbeiten; sie ist erkennbar an den charakteristischen Wendungen wie: ‚ich habe nachzuweisen versucht, daß …‘‚ ‚es scheint möglich zu sein, daß…‘, oder auch negativ: ,es konnte nicht nachgewiesen werden, daß …‘ […]

Das zweite Merkmal, das Persönliche der Zeitschriftwissenschaft, steht in gewissem Zusammenhange mit dem ersten. Die Fragmentarität der Probleme, Zufälligkeit des Materials (z.B. Kasuistik in der Medizin), technische Einzelheiten, kurz die Ein- und Erstmaligkeit des Arbeitsstoffes verbinden ihn unzertrennlich mit dem Verfasser. Dessen ist sich jeder Forscher bewusst und fühlt zugleich das Persönliche seiner Arbeit als ihren Fehler“ (Fleck 1980: 156f.; Hervorhebungen im Orig.).

Anders ist das in der Handbuchwissenschaft, die eine „kritische Zusammenfassung“ gesicherten Wissens vieler Forscherpersönlichkeiten „in ein geordnetes System“ verlangt, d.h. hier muss nicht mehr zögernd und abwägend geschrieben werden, sondern der Duktus kann, ja soll sicher und bestimmt sein. Termini werden festgelegt und verbindlich gemacht.

„Aus der vorläufigen, unsicheren und persönlich gefärbten, nicht additiven Zeitschriftwissenschaft, die mühsam ausgearbeitete, lose Avisos eines Denkwiderstandes zur Darstellung bringt, wird in der intrakollektiven Gedankenwanderung zunächst die Handbuchwissenschaft.“ (Fleck 1980: 157f.)

 

„Die entstandenen Begriffe werden tonangebend und verpflichten jeden Fachmann: aus dem vorläufigen Widerstandsaviso wird ein Denkzwang, der bestimmt, was nicht anders gedacht werden kann, was vernachlässigt oder nicht wahrgenommen wird.“ (ebd.: 163)

In populären Darstellungen dagegen geht es um „[v]ereinfachte, anschauliche und apodiktische Wissenschaft“ (ebd.: 149), um die zweifelsfrei erscheinende, an den exoterischen Kreis gerichtete Darstellung von Wissen. Charakteristisch sei, dass hier nicht strittige Meinungen gegeneinander gehalten werden, sondern dass „eine künstliche Vereinfachung“ (ebd.) erreicht werden muss, die nicht der Einführung in die Wissenschaft entspricht. „Gewöhnlich [besorgt nämlich] nicht ein populäres Buch, sondern ein Lehrbuch die Einführung“ (ebd.). Folgende Merkmale gibt Fleck außerdem für die an exoterische Kreise gerichtete Darstellung an: „künstlerisch angenehme, lebendige, anschauliche Ausführung“ und „apodiktische Wertung, das einfache Gutheißen oder Ablehnen gewisser Standpunkte“ (ebd.).

Was Fleck hier entwickelt, deckt sich auf verblüffende Weise mit dem, was wir heute zu Sprachgebräuchen in den Wissenschaften feststellen. Als Beispiel sei das wohl unreflektiert befolgte Stilprinzip der Geistes- und Sozialwissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für wissenschaftliche Texte genannt (vgl. dazu Fix 2014). Es lautete: weg von der ‚schönen‘, anschaulichen, metaphorischen, eleganten, auch subjektiven Sprache wissenschaftlicher Darstellungen, hin zu rationaler, eindeutiger, sachbezogener, expliziter, konsistenter, ökonomischer, entpersönlichter Sprache. In Anlehnung an Kretzenbacher (1994) spricht Drescher (2003: 56) in dem Zusammenhang vom ‚Ich-Tabu‘, ‚Erzähl-Tabu‘ und ‚Metaphern-Tabu‘. Die Sprache und damit der Autor sollen ganz hinter den Gegenstand zurücktreten. Damit wird Wissenschaft aufgefasst

„als ein vom historischen, sozialen und kulturellen Umfeld sowie vom Subjekt und seinem Erleben entbundener Raum. Dies lässt sich auch auf ihre [die der Wissenschaft, U. F.] sprachlichen Ausdrucksformen übertragen, denn aus dem geltenden Wissenschaftsverständnis, das Objektivität als höchstes forschungsleitendes Prinzip ansetzt, ergibt sich unmittelbar die Forderung nach einer […] rationalen und sachbezogenen Sprache.“ (Drescher 2003: 55)

Vereinfacht könnte man diese Eigenschaften als Stilmerkmale des auch gegenwärtig noch vorherrschenden Gruppenstils der Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland betrachten.1 Bezieht man Textsorten ein, d.h. spezifiziert man seinen Blick, wird die Sache komplizierter, aber − mit Fleck − auch wieder einfacher; denn die von Drescher beschriebene Situation trifft tatsächlich auf Zeitschriftenbeiträge2 völlig zu, nicht aber auf Handbuchliteratur. Untersuchte man erstere nach ihrem Stil, fände man in vielen Fällen eine Situation vor, die sich nach wie vor mit Flecks Beschreibung deckt.3 Es zeigt sich, dass es sich lohnen würde, diese Auffassung in Beziehung zu setzen zu dem kulturell und sozial bestimmten Wissenschafts- und Denkstil-Begriff von Fleck. Woran sich ein eher objektiver oder subjektiver Stil, ein esoterischer oder exoterischer sprachlich festmachen lässt, kann die Sprachwissenschaft zeigen. Was haben Textlinguistik und Stilistik zur Wissenschaftssprache, speziell zur Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ zu sagen?