Stilwechsel und ihre Funktionen in Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

3 Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘

Ebenso wie Fleck betrachtet die Textsortenlinguistik Texte als soziokulturelle Phänomene, als Instrumente der Bewältigung lebensweltlicher Probleme. Es ist aus beider Sicht gleichsam lebensnotwendig, dass Kultur- und Kommunikationsgemeinschaften mit ihren Textsorten über Handlungsmuster verfügen, mit deren Hilfe sie auf die Wirklichkeit zugreifen, sie gestalten und bewältigen können. So gibt es Textsorten, die der Lösung lebenspraktischer Probleme dienen, und es gibt solche, die für die emotive Bewältigung von Lebenssituationen (Trauer, Freude) geeignet sind, sowie andere, die die reflexiv-rationale Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, also die Wissenschaft, ermöglichen. Bedingung für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und den Austausch darüber ist, dass es kollektiv vereinbarte Textmuster mit ihren Gestaltungs- und Verbreitungsformen gibt, wie z.B. den wissenschaftlichen Zeitschriftenaufsatz, die Thesen zu einer wissenschaftlichen Arbeit, das Abstract, die Monographie, die Disputation – Textsorten, die eben der reflexiv-rationalen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit dienen. Im Anschluss an Berger/Luckmann (1966) hat Adamzik mit der Einführung der Kategorie der ‚Welt‘ im Sinne von „Bezugswelt als Referenzsystem“ (Adamzik 2016: 116) eine grundsätzliche Klärung für den Umgang mit Texten herbeigeführt, indem sie die verschiedenen Welten, in denen Texte gebraucht werden und „in der die Interaktanten sie situieren“ (ebd.: 114), benennt und erörtert. Es sind die ‚Standardwelt‘, ‚Welt des Spiels/der Fantasie‘, ‚Welt der Sinnfindung‘, ‚Welt des Übernatürlichen‘, ‚Welt der Wissenschaft‘. Wir haben es in unserem Fall mit der Welt der Wissenschaft zu tun. Textsorten existieren zunächst unhinterfragt, als lebensweltliche Selbstverständlichkeit mit ihrer typischen Form, mit ihrem vereinbarten Weltbezug und mit ihrer Funktion – immer gebunden an eine Gemeinschaft, sodass sich ihre Spezifik auch immer nur aus der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft mit ihrer bestimmten Kultur erschließen lässt. Selten werden sie einmal reflektiert: Die Fachsprachenforschung wie die Wissenschaftstheorie und -geschichte und ansatzweise die Textlinguistik und -stilistik aber tun das.1 Durch die analytische Erfassung der Textsorten und ihrer Stile wird deutlich, über welche Möglichkeiten der praktischen wie reflexiven kommunikativen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit wir verfügen. Hier knüpfe ich wieder an Fleck an. Seine Beschreibung des Denkstils, z.B. in der Zeitschriftwissenschaft als „Gepräge des Vorläufigen“ und „Vorsichtigen“ (Fleck 1980: 156), lässt sich auf Textsortenstile und deren Traditionen übertragen.

Aus welchem Grunde konzentriere ich mich auf die Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘? Die Antwort liegt zum einen in Flecks Charakterisierung dieser Textsorte, die zeigt, dass das Schreiben von Aufsätzen den Kern wissenschaftlichen Arbeitens ausmacht (s.o.). Zum anderen finde ich in der induktiven korpuslinguistischen Analyse Brommers (2018), die jüngere wissenschaftliche Texte hinsichtlich ihrer sprachlichen Musterhaftigkeit untersucht und dabei dem wissenschaftlichen Aufsatz den zentralen Platz einräumt,2 eine aktuelle linguistische Bestätigung der zentralen Rolle des wissenschaftlichen Aufsatzes, wie sie Fleck darstellt. Es heißt bei ihr:

„Ziel [des wissenschaftlichen Aufsatzes] ist das Verbreiten von neuem Wissen und das Überzeugen der Wissenschaftsgemeinde. Dies unterscheidet den wissenschaftlichen Aufsatz bspw. von der bewertenden Rezension, von dem vorhandenes Wissen ordnenden und zusammenfassenden Handbuchartikel, aber auch von allen didaktisierenden Textsorten wie dem Lehr‐ oder Einführungsbuch, bei denen die Vermittlung des vorhandenen Wissens im Vordergrund steht.“ (Brommer 2018: 72)

„[…] mit Blick auf die verschiedenen Realisierungsformen der wissenschaftlichen Kommunikation [lässt sich] festhalten, dass vor allem dem wissenschaftlichen (Zeitschriften‐)Aufsatz ein hoher Stellenwert im Wissenschaftsdiskurs zukommt, der sich auch in dem ihm entgegengebrachten Interesse zeigt. Denn im Allgemeinen wird neues Wissen zuerst in einer Zeitschrift publiziert, von Sammelbänden und Lehrbüchern wird dies nicht gleichermaßen erwartet (vgl. Graefen 1997: 100) – auch wenn sich die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen in diesem Punkt (nach wie vor) unterscheiden“ (ebd.: 34).

„Hinsichtlich der Kommunikationsteilnehmer ist der wissenschaftliche Aufsatz der Experten‐Kommunikation zuzurechnen. Er dient der Information und dem Austausch unter Fachkollegen oder mit Kollegen verwandter Wissenschaftsgebiete. ‚Wissenschaftlicher Aufsatz‘ meint also genauer ‚akademisch‐wissenschaftlicher Aufsatz‘.“ (ebd.: 73)

4 Diskurslinguistisches Vorgehen: EIN-Text-Diskursanalyse1

Mein Vorgehen, drei einzelne Aufsätze als Repräsentanten dreier Denkstile zu betrachten, wirft natürlich Fragen auf. Vor allem die, ob man einen Einzeltext zum Gegenstand von Analyseverfahren für Texte machen kann, die repräsentativ für eine ganze Wissenschaftsrichtung stehen sollen. Wie kann man durch die diskursstilistische2 Analyse eines einzelnen Textexemplars zu verallgemeinerbaren Ergebnissen kommen wollen? Meine Überlegung dazu: Ein Einzeltext kann dann als selbständige Erscheinung Gegenstand der Diskursstilistik sein, wenn er genügend zentral, d.h. von exemplarischer Bedeutsamkeit ist. Also dann, wenn er allein schon eine gesellschafts- und wissenskonstituierende Funktion erfüllt (vgl. Warnke 2003).3 Es geht um Texte, die in sich selbst bereits eine so ausgeprägte intertextuelle ,Ladung‘ aufweisen, dass es in solchen Fällen gerechtfertigt scheint, das Erkenntnisinteresse von der Menge der Texte auf den Einzeltext und auf seine Geschichte zu verlagern, z.B. auf Zeitgebundenheit, Urheberschaft, Entstehung, Verbreitung, Intention, Rezeption und Form. Während man bei der Untersuchung von Textmengen, besonders bei Korpusuntersuchungen, in die Breite geht (vgl. Brommer 2018), sendet man bei der Betrachtung eines Einzeltextes eine Sonde in die Tiefe. Wie kommt man zu exemplarischen Texten? Zwei Möglichkeiten sind denkbar.

Die erste ist das Aufgreifen eines Schlüsseltextes als repräsentativer exemplarischer Text. Verdichtet ist in einem solchen alles (ansatzweise) schon da, was die Leistung von Textmengen ist. Er trägt in sich selbst einen umfassenden „kommunikativen Zusammenhang“, wie ihn sonst eine Menge „singuläre[r] Texte auf der Diskursebene“ (Warnke 2002: 136f.) herstellt. Man kennt aufgrund des eigenen Weltwissens, der eigenen Lektüre-Erfahrung exemplarische Texte von unumstrittenem Gewicht. Zu denken ist hier z.B. an Verfassungstexte, an programmatische philosophische und politische Texte sowie an wissenschaftliche und publizistische Texte, die in der gesellschaftlichen Diskussion einen besonderen Stellenwert haben und im allgemeinen vortheoretischen Verständnis Schlüsseltexte genannt werden. Das heißt also, man findet einen a priori als exemplarisch zu verstehenden Text, der in einem gesellschaftlichen, politischen, historischen, kulturellen Zusammenhang von Bedeutung ist.

Die zweite Möglichkeit, einen exemplarischen Text zu finden, ist das Deklarieren eines beliebigen Textes zum exemplarischen Fall, zum Repräsentanztext. Man sucht also nicht nach einem vorher schon von der Diskursgemeinschaft als besonders bedeutsam aufgefassten Text, sondern greift nach eigener Entscheidung einen Text heraus. Man ,macht‘, man ,definiert‘ seinen exemplarischen Text selbst, indem man ein Textexemplar auswählt und als exemplarisch betrachtet − als Zeugnis dessen, was in einer Textwelt vorliegt und möglich ist. Man erfährt auf diesem Wege zwar nicht wie bei den als Schlüsseltexten vorgefundenen Äußerungen, was zur vermeintlichen Leitkultur der Gesellschaft gehört, aber man erkundet einen gesellschaftlich möglichen Fall. Der Repräsentanztext, z.B. eine politische Rede oder ein Zeitungskommentar, lässt Aufschlüsse darüber zu, wie Einzelne oder wie Kollektive Wirklichkeiten sprachlich-diskursiv bewältigen. Im vorliegenden Text sind es drei nach bestimmten Kriterien (s. u.) ausgewählte wissenschaftliche Aufsätze. Bei der Betrachtung dieser Texte wird sich zeigen, dass auch sie für ihre jeweilige Kultur von Bedeutung sind, wenngleich sie nicht das Gewicht eines Schlüsseltextes haben. Auch bei der Analyse solcher Texte erkundet man, indem man alle Textzusammenhänge erschließt, die Zeitgebundenheit, die aktuelle Einbettung dieser Texte und der mit ihnen in direkter Beziehung stehenden und legt damit diskurslinguistisch Relevantes offen.

5 Kommunikationsbereich / Funktionalstil

Stil und Text gelten mittlerweile über die eigenen Bereiche − Stilistik und Textlinguistik − hinaus als diskurslinguistisch relevante Phänomene (vgl. Spitzmüller 2013; Fix 2018). Wie aber kommt man mit einer linguistischen Analyse der sprachlich-stilistischen Bewältigung gesellschaftlicher Wirklichkeit auf die Spur? Wie vollzieht man also eine dem Anliegen gerecht werdende Text-Stil-Analyse? Mit der Betrachtung von Kommunikationsbereichen bzw. Funktionalstilen hatte man schon frühzeitig (Riesel/Schendels 1975; Fleischer/Michel 1975), wenn auch nur ansatzweise und unscharf, die ‚Welten‘ (Adamzik 2016) bzw. den „kommunikativen Zusammenhang singulärer Texte auf der Textebene“ (Warnke 2002: 136) im Blick. Das hat Analyseinstrumentarien hervorgebracht, die bis heute nutzbar sind. Trotz aller Einschränkungen − zu grobe und noch unvollständige Einteilung, zu wenig differenzierte Kriterien1 − bieten sie doch einen geeigneten Ansatz, so dass ich mich auf Erkenntnisse der Funktionalstilistik beziehen kann. Für sie gilt als grundlegend, dass es einen korrelativen Zusammenhang gibt zwischen Außersprachlichem (Kommunikationssituationen, Tätigkeitsbereiche, gesellschaftlich relevante Funktionen) und sprachlichen Gebrauchsweisen (typische Verwendungsweisen sprachlicher Mittel). Praktikabel ist die funktionalstilistische Einteilung der sprachlichen Wirklichkeit nach der Art der außersprachlichen Korrelationen in fünf Funktionalstile: Stil der öffentlichen Rede, Stil der Wissenschaft, Stil der Presse und Publizistik, Stil der Alltagsrede und Stil der schönen Literatur. Diese sind in Substile aufgefächert − so der Funktionalstil der Wissenschaft in Stil der Wissenschaft im engeren Sinne, Stil der populärwissenschaftlichen Darstellung und Stil der Wissensvermittlung im Unterricht. Die Funktionalstile selbst sind durch determinierende Stilzüge und Stilelemente gekennzeichnet. Mit Stilzug ist gemeint, dass Stilelemente aller Sprachebenen zusammen wirken, um dem Text einen für die Funktion des jeweiligen Kommunikationsbereichs typischen Charakter zu verleihen. Mit Stilelement werden die sprachlichen Mittel jeglicher Ebenen erfasst, die einem stilistischen Wollen, d.h. einem Stilzug folgen. Als Stilzüge der Wissenschaft werden angesetzt: abstrakt, objektiv, sachlich, differenziert, folgerichtig, klar, genau, dicht, unpersönlich. Ob und inwiefern diese Kategorien bei den folgenden Textanalysen hilfreich sein können, wird sich zeigen. Wir haben es mit drei wissenschaftlichen Aufsätzen, also mit dem Funktionalstil der Wissenschaft, zu tun. Hier dominieren Erkenntnisvermittlung und Erkenntnisfindung.2 Es werden nun Stilzüge des Funktionalstils der Wissenschaften mit typischen Stilelementen kurz vorgestellt.3

 

 Abstraktheit (Darstellung gedanklichen Gehalts ohne sinnliche Anschauung und Darstellung von Verallgemeinertem unter Absehung von Einzelfällen):abstrakte Substantive, deren Wesen es ist, nichtgegenständliche Erscheinungen zu bezeichnen, wie z. B. Erkenntnis, Problem, Fragestellung; Termini, da sie verallgemeinern und von unwesentlichen Merkmalen absehen, z.B. Texttyp, kognitionslinguistisch, Abstraktum. Für den Stilzug der Abstraktheit kann auch das gänzliche Fehlen von Elementen wie etwa differenzierender Attribute und anschaulicher Wörter von Bedeutung sein.

 Objektivität (Darstellung ohne Stellungnahme des Textproduzenten):alle Mittel unpersönlicher Ausdrucksweise wie Funktionsverbgefüge (s.o.); Sätze mit einem sachlichen Subjekt (und einem persönlichen Dativobjekt): Das Argument ist nicht stichhaltig. Das Argument leuchtet der Verfasserin nicht ein; Vermeidung der ersten Person: Verfasser meint, dass …; Gebrauch des Indefinitpronomens man: Man muss sich nun folgende Frage stellen …; Modale Infinitive: zu untersuchen sein, zu berücksichtigen haben; Passivkonstruktionen: das Problem wird in Angriff genommen

 Sachlichkeit (Darstellung ohne Wertung):überwiegend Verzicht auf Mittel der Emotionalität und Expressivität, mit Ausnahme der Fälle, in denen eine Aussage relativiert werden soll; Verwendung von Mitteln, die dem Ausdruck von subjektiven Einstellungen dienen, dann aber in knapper und neutraler Form: nach meiner Auffassung, nach Meinung des Verfassers, meines Erachtens / m. E., soweit ich sehen kann …

 Differenzierung (nach Bestimmtheitsgrad der Aussage) (s.o.):Mittel, die der Graduierung dienen, z.B. es ist anzunehmen, vermutlich, in der Regel, kann man mit Einschränkung sagen, es ist nicht sicher, eventuell

 Folgerichtigkeit (Mittel zum Ausdruck von Kausalität und Finalität):z.B. Konjunktionen wie weil, deshalb, um zu; Adverbien wie dann, darauf; Tempusstruktur des Textes; Wendungen wie aus diesem Grunde, nicht zuletzt deshalb, weil; Mittel der Gliederung des Textes: z.B. Kapitel- und Abschnittseinteilung, Nummerierung; auch lexikalische Mittel wie einerseits – andererseits im mikrostrukturellen Bereich – oder die Formulierung von Überschriften im makrostrukturellen Bereich, die der Verdeutlichung halber oft parallel gebaut sind

 Klarheit (Nachvollziehbarkeit):z.B. Termini, da sie eindeutig sind (s.o.); Gliederung, da sie eine Übersicht vermittelt; Mittel der Folgerichtigkeit (s.o.), da sie eine Gedankenentwicklung zeigen

 Genauigkeit (keine Interpretationsmöglichkeiten):z.B. Termini (s.o.); Fachwörter; Arbeit mit authentischen Texten, wie z.B. Zitate und Belege (die immer nachgewiesen sein müssen)

 Dichte (umgekehrt proportional, wenig Raum für viele Informationen):z.B. Mittel der Nominalisierung wie Funktionsverbgefüge (s.o.); Gebrauch deverbaler Substantive, z.B. der Derivate auf -ung; alle Mittel der syntaktischen Verdichtung, z.B. durch komplizierte, in sich gestaffelte Satzverbindungen (Perioden)

 Unpersönlichkeit (alle Mittel, die geeignet sind, die Nennung des Textproduzenten zu vermeiden, s.o. Objektivität, Sachlichkeit):Mittel des Unpersönlichen; Verzicht auf die mögliche Anrede der adressierten Personen: Der Leser wird sich fragen, es wird darauf hingewiesen, Gegenargumente lassen sich entkräften …

6 Charakterisierung der Denkkollektive und Denkstile

Die drei im folgenden Kapitel behandelten Texte, deren jeweiliges Umfeld nun beschrieben wird, sind zum einen nach ihrem Repräsentanzcharakter als typische Texte ausgewählt worden und zum anderen danach, dass sie Stilanalysen vorstellen. Das heißt, ihr Vorgehen hat inhaltlich etwas Gemeinsames und ist daher vergleichbar. Was an dieser Stelle ermittelt werden soll, entspricht der transtextuellen Ebene und der Akteursebene der Diskurslinguistik (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011: 201).

6.1 Neoidealismus: Immanente Werkanalyse und Stilistik

Das neoidealistische Denkkollektiv, um das es als erstes geht, stellt im Fleck’schen Sinne ein lockeres Miteinander dar. Es gibt keine räumliche bzw. institutionelle Zusammengehörigkeit und keine gemeinsamen Projekte, sehr wohl aber ein von allen geteiltes Interesse. Der Kontakt wird vor allem durch Korrespondenz hergestellt und aufrechterhalten. Im Zentrum steht in diesem Beitrag Leo Spitzer (1887–1960), der Autor des Aufsatzes Matthias Claudius’ Abendlied. Neben ihm sind zu nennen Oskar Walzel, Karl Vossler und auch Benedetto Croce. Walzel, Vossler und Spitzer übten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem zu dessen Beginn, heftige Kritik an der positivistisch orientierten Literaturwissenschaft, die sich von der Textarbeit gelöst hatte. Dazu sagt Jauß mit Blick auf die Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts:

„Ich komme zum dritten großen Paradigma der Literaturwissenschaft […], das im Heraufkommen und im Siegeszug der Stilistik zu Beginn unseres Jahrhunderts zu sehen ist. Ein Hauptimpuls dieses Paradigmenwechsels war zweifellos das wachsende Ungenügen an der positivistischen Askese, das literarische Kunstwerk allein aus der Summe seiner historischen Bedingungen zu erklären.“ (Jauß 1968: 49)

Außerdem geht es den Autoren dieser Richtung um die Kritik am sprachwissenschaftlichen („metaphysischen“) Positivismus. Wie Vossler entwirft auch Spitzer eine Gegenvorstellung.

„Der Protestcharakter der neuen Methodik ist charakterisierbar durch ihre herausfordernde Prämisse, daß die historische Erklärung eines Werkes nicht mehr, sondern weniger beibringen könne, als aus dem Werk selbst, als einem Ausdruckssystem von Sprache, Stil und Komposition zu erkennen sei. Diese Methode ist in Deutschland im Gefolge der sogenannten idealistischen Neuphilologie ausgebildet worden, in der Romanistik am eindrucksvollsten von Leo SPITZER […] Dasselbe Paradigma liegt aber auch der Methode Oskar WALZELs (‚Gehalt und Gestalt‘) zugrunde, die einen Ausgangspunkt der nach dem ersten Weltkrieg aufblühenden werkimmanenten Betrachtung der Literatur (des ‚Wortkunstwerks‘) in der Germanistik bildete.“ (Jauß 1968: 49; Hervorhebungen im Orig.)

Spitzer lehnt allerdings − übereinstimmend mit Vossler − den Positivismus nicht völlig ab, sondern kritisiert ihn nur dort, wo er als „metaphysischer Positivismus“ verstanden wird, wo der Forscher sein Ziel in den Dingen selbst und nicht im Finden eines Kausalitätsprinzips sieht. Positivismus als Methode hingegen wird von Spitzer explizit als Bestandteil seiner Position betrachtet. Er nennt seine Auffassung „positiven Idealismus“ oder „idealistischen Positivismus“. Das intuitive Vorgehen, die werkimmanente Sprachbetrachtung, gilt als die eigentliche Methode der Sprachwissenschaft. In ihr geht es um den ganzen Text, freilich nicht um dessen Texthaftigkeit, sondern um das Herausfinden der dichterischen ,Botschaft‘, die man aus den Elementen der Struktur des Textes in ihrer gegenseitigen Bedingtheit ermittelt. Das vom Autor Gemeinte/Gefühlte bzw. das, was der Text (,eigentlich‘) sagen will/soll/kann, soll herausgefunden werden. Das bedeutet, alle Elemente des Textes in ihrem Zusammenwirken analytisch zu erfassen und sich auf dem Weg über das Wahrnehmen der Form in einen Text erlebnishaft einzufühlen. Ein Ziel, auf das in vielen Fällen in der Personalunion von Literatur- und Sprachwissenschaft hingearbeitet wurde. Gemeinhin der Literaturwissenschaft zugeordnet, kann Spitzer genauso berechtigt als Vertreter sprachwissenschaftlichen Vorgehens gelten.

„Da auch nach Spitzer die Sprachschöpfung vornehmlich in der Dichtung in Erscheinung tritt, plädiert er wie Vossler für eine Annäherung von Sprach- und Literaturwissenschaft in der Stilistik, der nunmehr die sprachwissenschaftliche Untersuchung von literarischen Texten als vornehmliche Aufgabe angetragen wird.“ (Aschenberg 1984: 113)

Da Spitzer beide Disziplinen vereinigen will, kann das, was er zur Arbeit am Text sagt, auch zur Tradition der Sprachwissenschaft gerechnet werden. Es geht ihm darum,

„die Sprache der Dichter in ihren Kunstabsichten zu erfassen, zu charakterisieren und auf das Seelische, das die Dichter sprachlich ausdrücken, zurückzuführen, – denn diese dreifache Aufgabe muss doch wohl der kunstbeflissene Linguist lösen“ (Spitzer 1961: 4).

Spitzers Vorgehensweise besteht darin, durch intuitive, hermeneutische Analyse, durch das „enge Anschmiegen an das sprachliche Detail […] mit methodischem Ernst dem Ausdruckssinn und der „Spiegelung von Seelischem in Sprachlichem“ (ebd.: 501) auf die Spur zu kommen. Die Auffassung, man könne durch die werkimmanente Interpretation ein Kunstwerk adäquat verstehen, und es sei auf diesem Wege die Intention des Autors herauszufinden, ist immer wieder kritisiert worden − u.a. deshalb, weil das Verstehen des Lesers nicht durch die Lektüreeindrücke allein, sondern immer auch durch seine eigene historische, soziale, kulturelle Situation geprägt ist.