Stilwechsel und ihre Funktionen in Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation

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6.2 Strukturalismus: Der Text als strukturelle Einheit

Der Gegenstand ‚Text‘, der den Strukturalisten als geschlossenes System gilt, wird von ihnen strukturalistisch, d.h. hermetisch betrachtet. Das Interesse der Forscher ist nach innen gerichtet, auf die Struktur des zu untersuchenden Textganzen. Sie fragen danach, wie ein Text in seinen inneren Zusammenhängen möglichst exakt und umfassend beschrieben werden kann. Die Handelnden mit ihren Gegebenheiten werden dagegen nicht einbezogen. Das heißt, der Gegenstand ist zunächst durch diesen Textbezug innersprachlich festgelegt, auch wenn es viele Kooperationen mit anderen Disziplinen gegeben hat. Diese waren aber ebenfalls immer darauf gerichtet, die innere Struktur von Texten zu erfassen. Dies sollte möglichst genau auf dem neuesten Stand ,exakter Wissenschaften‘ geschehen. Diesem Ziel galt die Zusammenarbeit mit Vertretern der Literaturwissenschaft und Musikwissenschaft sowie die Kooperation mit Mathematikern, Kybernetikern und Vertretern der Ingenieurwissenschaften, programmatisch angesprochen in dem 1965 erschienenen, berühmt gewordenen Sammelband Mathematik und Dichtung und, ebenfalls programmatisch gedacht, mit der Gründung der Zeitschrift Literaturwissenschaft und Linguistik im Jahr 1971. Man sieht: Werkimmanente Interpretation und Strukturalismus haben das Absehen von außertextlichen Bezügen gemeinsam. Ihr Ziel ist jedoch verschieden: Der Vertreter der werkimmanenten Methode will sich, so im Fall Spitzers, das Werk durch Hineinversetzen in den Autor erschließen. Die strukturalistische Herangehensweise besteht darin, die von sich aus arbiträren Zeichen eines Textes auf einer Zweitebene zu decodieren, indem Strukturen und Bezüge eines Textes, durch die sie sich gegenseitig einen Sinn zuweisen, in regelgeleiteter und konsequenter Vorgehensweise aufgedeckt werden. Auf diesem Wege soll die textinterne Sinnhaftigkeit ermittelt werden, die sich, so die Auffassung, allein aus dem Bezug der Zeichen des jeweiligen Textes untereinander ergibt. Ein mathematisch-statistischer Zugang kann da gerade recht sein. Der Ansatz beruht auf dem relationalen Zeichenmodell de Saussures. Seine Unterscheidung zwischen der Form- und der Inhaltsseite der sprachlichen Zeichen und die von ihm als arbiträr erkannte Verbindung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem bringt es mit sich, dass die Bedeutung eines Zeichens aus seiner Situation innerhalb der Strukturbeziehungen des Textes erschlossen werden kann und muss. In der Sprachwissenschaft ist der strukturalistische Ansatz auch von Vertretern verschiedener Richtungen der Stilistik aufgegriffen worden.

Eine spezielle Richtung der strukturalistischen Textbetrachtung ist mit dem Stuttgarter Kreis um Max Bense als Gruppierung von Vertretern der Sprach- und Literaturwissenschaft, der technisch-experimentellen Intelligenz und verschiedener Künste entstanden. Benses Ziel für das sich um ihn scharende, lockere, auffallend interdisziplinäre Denkkollektiv − „international vernetzte[ ] Akteure[ ] in Wissenschaft und künstlerischer Praxis“ (Boatin 2014: 11), „eine interessante kulturelle Formation“ (ebd.) − war es, die „Geisteswissenschaft auf der Basis einer wesentlich technischen Intelligenz neu zu bestimmen“ (Walter 1994: 2). Hier hatte man sich offensichtlich Interdisziplinarität zum Prinzip gemacht. So war Wilhelm Fucks, einer der beiden Autoren des hier untersuchten Aufsatzes, den Bense’schen Gedanken nahe stehend, zur Zeit der Publikation des Textes Dr.-Ing., ordentlicher Professor und Direktor des I. Physikalischen Instituts der TH Aachen und Direktor des Instituts für Plasmaphysik der Kernforschungsanlage Jülich. Josef Lauter war Dipl.-Ing. und wissenschaftlicher Assistent am I. Physikalischen Institut der TH Aachen. Fucks hat zu der Zeit bereits eine beträchtliche Zahl statistischer Analysen von literarischen Texten und Musikwerken vorgelegt. Das lag ganz im Interesse der Herausgeber des Bandes Mathematik und Dichtung, in dem der vorliegende Text erschienen ist. Die Autoren wollen traditionelle Vorgehensweisen nicht verwerfen, sondern die neuen Möglichkeiten zu objektiver, d.h. präziserer, konsequenterer und umfassenderer Textanalyse ins Blickfeld rücken.

„In der offiziellen akademischen Literaturwissenschaft unseres Jahrhunderts führte insbesondere in Deutschland die dezidierte Abkehr von einem dichtungsinadäquaten Positivismus […] zu einer überspitzten Antithetik im Verhältnis zu den Naturwissenschaften, die auch den geisteswissenschaftlichen Charakter der Mathematik aus dem Blick verlieren ließ […]. Es geht hier nicht um eine Ablehnung der tradierten ideen- und formengeschichtlichen, stilkritischen und werkinterpretatorischen Betrachtungsweisen, deren Fruchtbarkeit und Notwendigkeit wir entschieden bejahen […] sondern um die Frage, ob noch andere Methoden der Textanalyse wissenschaftlich sinnvoll und für die bessere Sicherung und präzisere Formulierung wenigstens partieller Resultate der älteren Methoden nutzbar sind.“ (Kreuzer 1965: 10)

6.3 Pragmalinguistik: Der Text als kommunikative Einheit

Der strukturalistische Zweig der Sprachwissenschaft erhielt in den 1960er/1970er Jahren Konkurrenz durch eine pragmatische Richtung. Der Blick auf die Texte änderte sich. Aus Sicht der Pragmatik lag es nahe, den Text als das Mittel sprachlicher Kommunikation schlechthin zum Gegenstand der Forschung zu machen – dies nicht mehr als isoliertes Phänomen, sondern aus der Perspektive des Handelns und Wissens unter pragmatischem Aspekt als offenes und interdisziplinär zu beschreibendes. Der Text wurde zwar nach wie vor sprachbezogen betrachtet − es ging eindeutig um den sprachlichen Text − aber Perspektiven wie Handlung und später auch Kognition spielten eine bestimmende Rolle. Sie brachten Außersprachliches in die Betrachtung ein. Mit der Disziplin ‚Textlinguistik‘ wurden neue Probleme aufgegriffen, etwa die, worin der Textcharakter eigentlich besteht und welche Schlüsse sich daraus für den Rezeptions- und Verstehensprozess ergeben. Die zwei anfänglichen Forschungsfelder der Textlinguistik – Textualität und Texttypologie − wurden im Laufe der Entwicklung im Kontext von Kognitionslinguistik und Kommunikationswissenschaft um entscheidende Bereiche ergänzt, nämlich um die Prozesse des kommunikativ/sozial bestimmten Handelns mit Texten. In dem Zusammenhang entwickelte sich ein neues Konzept von Stilistik, nämlich das einer Textstilistik. Stil wird in dieser Zeit aus vielerlei Perspektiven als ein deutlich textbezogenes Phänomen betrachtet, so in den Funktionalstilistiken von Riesel/Schendels (1975) und Fleischer/Michel (1975), später auch in der Textlinguistik von Heinemann/Viehweger (1991). Dezidiert und theoretisch begründet wird die Textbezogenheit dann zu einem Kernstück pragmatischer Stilbetrachtung, zu der alles gezählt werden soll, was mit Gebrauch und Bedeutungsvermittlung von Stil in Verbindung zu bringen ist (Sandig 1978; 1986). 2006 legt Sandig dann sogar eine eigene Textstilistik des Deutschen vor, die das aktuelle Wissen über Text und Stil vereint und zeigt, dass beides nicht zu trennen ist: „Stil ist Bestandteil von Texten, er ist die Art, wie Texte zu bestimmten kommunikativen Zwecken gestaltet sind“ (Sandig 2006: 3).

Zwei Grundgedanken prägen die pragmatische Stilistik: Der erste Gedanke besteht darin, Stil in Anknüpfung an die Sprechakttheorie als intentionale Handlung zu betrachten. Stile werden als die Arten von Formulierungen bestimmt, die Sender Adressaten gegenüber intentional gebrauchen. Dieser Gedanke bezieht sich auch schon auf den zweiten grundlegenden Gedanken, nämlich den, dass Stil Bedeutung trägt − eine über das Wie, die Form, vermittelte Sekundärinformation vorrangig sozialer Art. Das heißt, Stil interessiert nicht als individuelle Ausprägung, sondern als Vermittler von sozialer Bedeutung. Stil, also die Oberfläche des Textes, ermöglicht die „sozial relevante Art der Handlungsdurchführung“ (ebd.: 9).

„Stile sind variierende Sprachverwendungen und Textgestaltungen, denen relativ zu bestimmten Verwendungszwecken und Verwendungssituationen von den Beteiligten bestimmte sozial und kommunikativ relevante Bedeutungen zugeschrieben werden können […].“ (Sandig 2006: 2)

Ob gewollt oder nicht, man vermittelt durch den Stil seiner Äußerungen zusätzlich zum ‚Primärsinn‘, der Sachinformation, einen ‚Zweitsinn‘, d.h. eine über die Form transportierte Information darüber, wie man sich selbst sieht, wie man von anderen gesehen werden möchte und wie die Beziehung zum Empfänger der Nachricht gestaltet werden soll. Diese Funktionen sind in Kommunikationsbereichen besonders ausgeprägt, in denen soziale Rollen einen hohen Stellenwert haben. Sandig (ebd.: 16) hebt daher die Bedeutung hervor, die Sprachstil für die Aufrechterhaltung bzw. Veränderung der sozialen Ordnung haben kann. Dies gilt aus ihrer Sicht ausnahmslos für alle Texte, so dass jeder Art von Text Stil zugesprochen wird. Als erste Stilauffassung überhaupt legt die pragmatische Stilistik ihren Schwerpunkt auf Sachtexte.

Das Denkkollektiv Sandigs ist eine lose Gruppe von Vertretern der pragmatischen und funktionalen Stilistik sowie der Gesprächsstilistik. TextlinguistInnen, ÜbersetzungswissenschaftlerInnen, MediävistInnen gehören ebenfalls dazu. Es sind Kolleginnen und Kollegen, die sich schon lange kennen, die ein gemeinsames Interesse und Netzwerk haben und bei Tagungen sowie beim Herausgeben gemeinsamer Sammelbände in engeren Kontakt treten. Der Sammelband, aus dem der hier untersuchte Aufsatz stammt, ist die Dokumentation eines Kolloquiums zum 60. Geburtstag von Barbara Sandig.

7 Textanalyse

Die drei im Folgenden analysierten Aufsätze wurden ausgewählt, weil ihre Autoren repräsentativ sind für eine bestimmte Wissenschaftsrichtung und weil es in jedem der drei Texte um Stilanalysen geht. Spitzers Aufsatz bietet durchgehend Analyse. Eine theoretische Fundierung fehlt. Bei Fucks und Lauter finden sich knappe einführende theoretische Gedanken. Danach folgen grundsätzliche methodische, mit der Analyse verknüpfte und durch sie bestätigte Überlegungen. Bei Sandig zeigt sich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Theorie und Analyse. Im Folgenden befinden wir uns, diskurslinguistisch gesehen, auf der intratextuellen Ebene: Textstruktur, Sprachhandlungen und Worteinheiten stehen im Zentrum.

 

Grundbedingung stilistischer Textanalysen ist es, so alle aktuellen Stilauffassungen, den Gesamttext zu analysieren. Nur lässt es der Umfang eines Aufsatzes nicht zu, die vorliegenden Gesamtanalysen auch vorzustellen. Wenn ich mich im Folgenden darauf beschränke, die Anliegen, Herangehensweisen und Strukturprinzipien sowie damit zusammenhängende einzelne Stilzüge und Stilmittel vorzustellen, geschieht das immer vor dem Hintergrund meines Gesamtüberblicks über den jeweiligen Text.

7.1 Spitzer: Matthias Claudius’ Abendlied

Spitzers Aufsatz wurde 1960 in Euphorion LIV zum ersten Mal veröffentlicht. Es handelt sich um einen seiner wenigen Texte, die sich deutschsprachiger Literatur zuwenden.1 Dabei weicht er in seinem Vorgehen von seinen sonstigen Analysen nur insofern ab, als der Einstieg einen Vergleich mit dem Aufsatz eines anderen Autors, nämlich Hermann Broch, darstellt. Spitzer bezieht sich auf dessen Text Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens (1955), in dem Broch auf Fragen des Übersetzens von Literatur am Beispiel der ersten Strophe von Matthias Claudius’ Abendlied eingeht. Spitzer stellt den Broch’schen Deutungen der Strophe seine eigenen gegenüber und erläutert sie. Er ist interessiert am Vergleich der dichterischen (Broch) mit der philologischen (Spitzer) Herangehensweise − so seine eher vagen Kategorien. Seine Kritik an Broch richtet sich darauf, dass dieser nicht den Gesamttext einbezogen und so, modern gesagt, die Textbezogenheit von Lexemen außer Acht gelassen habe. Indem Spitzer am Anfang den vergleichenden Ansatz vorstellt, gibt er seinem Text so etwas wie einen methodischen Rahmen, eben das Vergleichen als Methode. Eine theoretische Fundierung dagegen ist nicht erkennbar. Auch wird das Anliegen nicht explizit genannt. Man kann aber erschließen, dass es Spitzer − mit „Respekt vor dem Text“ − um dessen „handwerksmäßige Begutachtung“ (Spitzer 1961: 176) geht, bei der er prinzipiell einen hermeneutischen Blick auf die Gestaltung des Textganzen und die Person des Autors richtet.

„Das Einmalige eines Stils läßt sich daher nur dadurch beschreiben, daß wir ein Totalbild eines Stils geben […], alles stilistisch bei einem Autor Bemerkenswerte vereinen und mit seiner Persönlichkeit in Zusammenhang bringen.“ (Spitzer 1961: 513)

Was er auf den folgenden acht Seiten entwickelt, ist seine eigene Schritt-für-Schritt-Interpretation des Textes, die dem Prinzip des „engen Anschmiegen[s] an das sprachliche Detail“ folgt, in dem er „auch das einzig Neue“ sieht, das er „zu bringen habe“ (ebd.: 504). „Man braucht sich nur in die Seele des großen Sprechers, des Dichters hineinzuversetzen, um dem sprachlichen Schöpfungsakt beizuwohnen.“ (ebd.: 503)

Der Aufsatz endet mit dem Fazit einer durchaus überzeugenden hermeneutischen Analyse, die, so Spitzer, der Pflicht zur akribischen philologischen Kritik – dies als ein Seitenhieb auf Broch, den Nichtphilologen − genüge. Ein Literaturverzeichnis ist nicht enthalten. Zwischen Anfang und Schluss finden wir einen Text, der dem Ideal der ganzheitlichen Textbetrachtung und des Sich-in-die-Seele-des-großen-Sprechers-Versenkens entspricht. Es wird aber deutlich, dass seine Interpretation ebenso wie die Brochs auf den eigenen Empfindungen beruht, dass er davon ausgeht, was der Text ihm, dem Individuum Spitzer, sagt. Bei diesem subjektiven Ansatz ist es für uns natürlich unmöglich (und noch dazu auch nicht nötig) zu sagen, wessen Interpretation die ,richtige‘ ist. Spitzer hingegen ist davon überzeugt, dass sein hermeneutisches Vorgehen ihm die richtigen Erkenntnisse liefert, Broch daher die falschen vertritt.

Wie kann man das analysierend nachvollziehen, ohne subjektiv vorzugehen? Ein möglicher Ansatz ist die Betrachtung der Stilzüge des Textes. Zunächst: Wie sich Spitzers Text zu den Stilzügen wissenschaftlicher Prosa insgesamt verhält, kann hier nicht umfassend gezeigt werden. Es seien zwei dominante Stilzüge herausgegriffen, die den Text prägen, die man aber, folgt man Fleck und unserer Erfahrung mit wissenschaftlichen Aufsätzen, hier nicht erwarten würde.

Was Fleck als Charakteristikum des wissenschaftlichen Aufsatzes nennt, nämlich dass dieser eine Textsorte ist, in der noch ungesichertes Wissen mit Behutsamkeit und im Bewusstsein seiner Vorläufigkeit (vgl. 2) vorgetragen wird, bei der also Differenzierung von Bedeutung ist, findet sich bei Spitzer nicht. Bei ihm gilt statt des Stilzugs der Differenzierung der der strikten Bestimmtheit. Auch Brommers Feststellung (2018: 179), dass wissenschaftliche Aufsätze „Objektivität signalisieren“, trifft für den Aufsatz von Spitzer nicht zu. Vielmehr setzt Spitzer stattdessen den Stilzug Subjektivität um. Er stellt Ergebnisse seiner Introspektion undiskutiert und ohne Relativierung in den Raum. Sie sind richtig, weil sie von ihm kommen.

Es folgen nun Beispiele2 für die Umsetzung des Stilzugs Bestimmtheit. Ausdrücke, die diese Funktion haben, gibt es in großer Zahl. Die eigenen Analyseergebnisse stellt Spitzer gegenüber den Broch’schen als sicher und unumstößlich dar. Das geschieht zum einen durch die Wortwahl, z.B. etwas ganz ausschließen in Aber da ist […] anzumerken, dass eine Doppeldeutigkeit […] ganz ausgeschlossen ist. Sowohl das verstärkende Adverb ganz als auch die Semantik von ausschließen dienen dem Nachdruck, ja dem Feststellen von etwas Unumstößlichen. Auch Konstruktionen wie der modale Infinitiv sein + zu + Infinitiv vermitteln die Bestimmtheit der Aussage, z.B. … ist ebenso auszuschließen; ist zuzuschreiben (ebd.). Hier wird die Funktion des modalen Infinitivs etwas ist zu tun zum Ausdruck des Sollens, der Verpflichtung, der Anordnung genutzt (vgl. Grundzüge 1981: 537; Eisenberg 2004: 351).

Außerdem wird das Präsens zum Ausdruck des Konstatierens im Sinne von ,etwas ist so, wie es ist‘ gebraucht, z.B. Doch die Erde ist nicht gespenstisch oder dräuend, bezogen auf Claudius’ Darstellung. Die folgenden Beispiele bringen deutlich Spitzers sicher formulierte Meinung zum Ausdruck.

 Ich sehe also den Gegensatz zwischen der Himmels- und der Erdensphäre nicht als eine Spiegelung der Welt (wie Broch es tut).

 Dagegen hat Broch unbedingt recht, wenn ….

 Über den Ausdruck der Wald steht schwarz ist doch noch mehr zu sagen3 (als Broch es für nötig hält).

 Der Wald steht schwarz ist offenbar ein Gegenbild zu der Wald steht grün.

Die beiden Formulierungen ich weiß daher nicht (ob Broch recht hat) und ich bin auch nicht sicher (ob Broch recht hat) (ebd.) drücken nicht, wie man annehmen könnte, eigene Unsicherheit aus, sondern Zweifel an der Richtigkeit von Brochs Meinung. Sprachliche Mittel, die den Bestimmtheitsgrad der Aussage abschwächen oder Bedeutung differenzieren, sind wenig vorhanden (Ausnahmen: scheint mir; es scheint mir also).

Zum Stilzug Subjektivität: Der Text ist gekennzeichnet von Verfahren im Dienste der Subjektivität. Spitzer entwickelt die Analyse als subjektiv nachempfindendes Paraphrasieren. Er verwendet keine Termini und Fachwörter, obwohl ihm zumindest die Kategorien der Rhetorik zur Verfügung gestanden hätten. Stattdessen durchstreift er den zu analysierenden Text, indem er das, was er liest, Zeile für Zeile in seine eigenen Worte übersetzt und dabei interpretiert. So entsteht keine Analyse im eigentlichen Sinne, sondern eine interpretierende ,Übersetzung‘ des Textes. So z.B.:

Wieder ist es bewundernswert, wie er diesen Übergang herbeiführt: zuerst, in Str. 2, war die nächtliche Welt eine stille Kammer, in der wir unseren Tagesjammer verschlafen können. Mit der Ermahnung des Dichters an uns alle, vor dir [Gott] hier auf Erden, Wie Kinder fromm und fröhlich zu sein, wäre er eigentlich mit seinem Sermon zu Ende gekommen, und tatsächlich stehen drei Sternchen nach Str. 5. Aber durch die Aufforderung Laß uns einfältig werden ist ein zeitliches Element in das Abendlied gekommen, das ja bisher eine statische Betrachtung der abendlichen Natur war (nur das „Schwarz-Stehen des Waldes“ verriet Erwartung). Und da nun einmal der Blick auf das Werden des Menschen hier auf Erden gelenkt ist, liegt der Gedanke an sein Ende nahe (Wollst endlich … Aus dieser Welt uns nehmen) und an sein Schicksal im Jenseits. Nun herrscht im Gedicht eine ganz neue Bewegtheit: was nach den drei Sternchen steht, sind Erwägungen über die schwersten Prüfungen unseres endlichen Lebens, die Claudius immer die wichtigsten Probleme der Menschen schienen. (Spitzer 1961: 184)

Folgende Sprachhandlungen, die insgesamt der subjektiven Darstellung dienen, treten auf:

 Wieder ist es bewundernswert, wie er den Übergang herbeiführt. BEWERTEN

 Zuerst […] war die Welt eine nächtliche Kammer. FESTSTELLEN

 Mit der Ermahnung des Dichters […] wäre er eigentlich mit seinem Sermon zu Ende gewesen. FESTSTELLEN

 Aber [es] ist ein zeitliches Element in das Abendlied gekommen, das ja bisher eine statische Betrachtung der abendlichen Natur war. SCHLUSSFOLGERNDES FESTSTELLEN

 […] liegt der Gedanke an sein Ende nahe […] INTERPRETIEREN

Die beiden untersuchten Stilzüge, Bestimmtheit und Subjektivität, gehen ineinander über. Das im Text dominierende FESTSTELLEN ist immer sowohl Ausdruck von Bestimmtheit als auch von Subjektivität; denn immer ist es das Subjekt Spitzer allein − ohne Bezug auf andere Autoren bzw. auf die wissenschaftliche Situation seiner Zeit, ohne fachsprachliche Ambitionen und ohne eigentliche Argumentation −, das die Feststellungen trifft. Dass deutlich ein Individualstil4 vorhanden ist, entspricht dem Denkstil seines Denkkollektivs und dem Zeitgeist: Der Schreiber hat individuell zu sein. Insofern ist der Text in seinem Anspruch doch überindividuell.

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