Textland - Made in Germany. Erzählungen, Essays und Gedichte

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Literatur

Bondas, Irina: „Wir sind andere“. Unveröffentlichte Keynote für das Parataxe Symposium OSTPOL BERLIN am 23.11.2017 am Literarischen Colloquium Berlin

Campbell, Paul-Henri: nach den narkosen. Heidelberg 2017

Frisch, Max: Montauk. Frankfurt am Main 1975, S. 29.

Köhler, Barbara: 42 Ansichten zu Warten auf den Fluss. Wien 2017, S. 64.

Mohafez, Sudabeh: Gespräch in Meeresnähe. Hamburg/Zürich 2005

dies.: brennt. Köln 2010

dies.: Behalte den Flug im Gedächtnis. Dresden 2017

Seel, Daniela: was weißt du schon von prärie?, Berlin 2015

Saša Stanišić: „Three Myths of Immigrant Writing. A View from Germany“.

Words without Borders Magazine 2008

Steiner, George: „Von Nuancen und Skrupeln“. In: ders.: Im Raum der Stille: Lektüren. Berlin 2011, S 199.

Stolterfoht, Ulf: Neu-Jerusalem. Berlin 2015

Wolf, Uljana: „meine schönste lengevitch“. Berlin 2013


Dramolett in einem Akt

Marjana Gaponenko

Foto: Ekko von Schwichow

MARJANA GAPONENKO (*1981 in Odessa). Studium der Germanistik in Odessa, lebt heute in Mainz und Wien. Für den Roman Wer ist Martha? (Suhrkamp Verlag) wurde sie mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet. Im September 2018 erschien ihr Roman Der Dorfgescheite bei C. H. Beck.

Irgendwo in Europa. Eine antikisierte Gartenlaube in der Mitte der Bühne. Rundherum Blumenbeete, allerlei Pflanzen.

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: (mit dem Gesicht zum Publikum) Meine Damen, ich heiße Sie willkommen. Ihre Aufgeschlossenheit dem heiklen Thema unseres heutigen Kulturabends gegenüber spricht für Ihre menschliche Größe. Viele von Ihnen werden so wie ich Herrin eines prächtigen Gartens sein und vielleicht auch einen Garteneremiten haben. Den Anblick unserer sinnierenden und so herrlich weltentrückten Streuner wollten schon unsere Vorfahren nicht missen. Haben Sie aber jemals darüber nachgedacht, woher diese Sitte kommt? Sie hat ihren Ursprung im fernen 18. Jahrhundert in einem Land, das den wenigsten von Ihnen etwas sagen wird. England. (Raunen) Völlig richtig, untergegangen. Es ist total bedauerlich, doch so ist der Lauf der Geschichte. Kontinente verschwinden unter Wasser, Wüsten wandern kreuz und quer über das Angesicht der Erde. Was ist von Dauer, möchte man wissen. Es ist die Tradition, meine Damen. Eine solche Tradition möchte ich Ihnen heute in ihrem natürlichen Habitat vorführen und zu Wort kommen lassen. Meine Garteneremitin hat auf meine Bitte hin einen Vortrag vorbereitet. Sie gehört zu den ältesten noch lebenden Ureuropäern, darauf bin ich mächtig stolz. Natürlich hätte ich damals, als wir mit dem Gedanken spielten, unseren Garten zu verschönern, etwas Moderneres anschaffen können. Doch Sie kennen mich und müssen wissen, dass ich einen Hang zum Morbiden habe. Und so ist meine Wahl auf Maria gefallen. (Dreht sich um) Ist die Maria fertig?

STIMME HINTER DER BÜHNE: Sie wartet, Madame.

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Bitte, Maria, zeige dich der Gesellschaft. (Eine Frau in Lumpen und mit grauem zerzaustem Haar betritt mit einem Buch unter dem Arm die Bühne)

DIE DAMEN: Boah. Und das ohne Vorwarnung.

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Marias Anblick mag weh tun, doch sie ist ein Mensch wie Sie und ich, wenn auch nicht optimiert. So wie Maria hat man noch vor hundert Jahren ausgesehen, denn es gab kaum anständige Mittel, etwas gegen den Verfall zu unternehmen. Es war eine hässliche Zeit, meine Damen. Es muss bis zum Himmel gestunken haben. Total disaster. Das Erstaunliche an Maria ist, dass sie eine alte Kunstfertigkeit pflegt, geschätzte Freundinnen. Nämlich das Lesen.

DIE DAMEN: Au-a. Voll die Steinzeit.

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Es ist ein teures Vergnügen, doch was tut man nicht für seinen Eremiten, nicht wahr. Einmal im Jahr schicke ich meinen Laufburschen auf Auktionen, damit er Bücher ersteigert. Maria liest diese Papierdinger, es sind Buchstaben drin, so Zeichen, die zusammen Sinn ergeben. Schwierig, schwierig, aber ich brauche hier niemandem zu erklären, wie das funktioniert. Als gebildeter Mensch kann man sich das vorstellen. Das Zeitalter vor der Imagination ist Marias geistige Heimat – darüber wird sie heute zu uns sprechen. Liebe Maria, wir sind ganz Ohr. Meine Damen, muntern wir Maria auf, sie ist, wie es sich für einen Eremiten gehört, sehr schüchtern.

DIE DAMEN: (klatschen)

MARIA: (schaut verwirrt ins Publikum)

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Scheu wie ein, wie heißt das ausgestorbene Tier? Hund? Eh, egal. Wir haben Jahre gewartet, bis Maria gesprochen hat. Eines Tages war es dann so weit, und sie hat meinen Mann und mich mit einer flammenden Rede zum Thema Wasser auf dem Mond erfreut.

DIE DAMEN: Voll old school.

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Ich werde es nie vergessen, ihr erstes Wort war „Grüß Gott“. Grüß Gott, ich meine, hallo? Da hatten wir Gänsehaut.

DIE DAMEN: Klingt wie eine Drohung, wie: Ich mache dich kalt.

MARIA: Grüß Gott.

DIE DAMEN: Boah, voll der Flaschengeist, die Stimme!

MARIA: Geschätzte Vertreterinnen des Adels, ich heiße Maria Gaponius und bin 119 Jahre alt.

DIE DAMEN: Toll, toll.

MARIA: Wenn ich nicht Buch führen würde, wüsste ich das nicht. Buch führen, Buch lesen, Buch schreiben. Das sind die Tätigkeiten meiner Zeit. Wenn ich die Augen schließe und die Erinnerung an ein Ereignis herauskrame, das von Bedeutung für mein späteres Leben sein sollte, so sehe ich mich selbst über einem Kinderbuch gebeugt bei meinem ersten gelungenen Leseversuch.

DIE DAMEN: (lachen)

MARIA: Ich blättere mein Gedächtnis weiter durch und sehe lauter Bücher vor mir, Säulen von Büchern, Regale voller Bücher, Büchervitrinen und Bücherhallen. Ich sehe Menschen, die stundenlang still sitzen und schmunzelnd lesen, in der Bahn, im Café oder im Grünen, als es noch überall reichlich vertreten und frei zugänglich war. Diese seelenvollen Gesichter der Lesenden. Jeder für sich und mit den anderen vereint. Meine Zeitgenossen. Wie es bei uns zuging, können Sie sich vorstellen. Als Meisterinnen der Vorstellungskraft fällt es Ihnen sicher nicht schwer. Es wird Ihnen jedoch unmöglich sein, den Spaß nachzuempfinden, den wir hatten, den Gewinn, den wir aus den unsichtbaren Bücherwelten zogen. Um sich in etwas hineinfühlen zu können, muss man ja eine Luft atmen, meine Damen, und das geht bei Ihnen aus technischen Gründen nicht. Sie haben die Telepathie, wir hatten die Kunst. Wir haben für die Imagination gekämpft, Sie lassen sie genetisch an Ihre Eliten vererben. Worüber wir früher gelacht hätten, ist heute Wirklichkeit. Eine geschichtslose Generation von Analphabeten bestimmt den Lauf der Geschichte. Assoziationen statt Kontemplation. Mystik statt Empathie. Sie wissen selbst, heutzutage ist die Empathie nur in Fachkreisen verbreitet. An Akademien, unter lesekundigem Museumspersonal und selbstverständlich unter den Anhängern der verbotenen „Bibliophilen Gesellschaft der Neuen Tage“. Wenigstens diese Handvoll Menschen hält ihre Vorfahren nicht für primitiv. Doch ich will mich nicht beklagen. Ich muss weder hungern noch frieren, habe fließendes Wasser in meinem Gartenpavillon, ich lebe gut, wenn auch etwas wehmütig. Wehmut, muss ich das erklären?

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Das Wort habe ich noch nie gehört.

DIE DAMEN: Wermut?

MARIA: Nun, die Wehmut ist so etwas wie eine grundlose Sorge, gemischt mit zersetzender Heiterkeit. Für den Kulturkreis, aus dem ich komme, nämlich den osteuropäischen Raum, bedeutete sie einen Seelenzustand. Wir hätten fröhlich lachen und gleichzeitig wehmütig sein können. Nur sehr ungebildete Menschen schienen davon nicht betroffen. Die agrarisch geprägte Bevölkerung kannte übrigens keine Wehmut, sondern nur deren ältere und ernstere Schwestern: die Trauer und die Verzweiflung. Auf dem Land gab man aufeinander acht, und in den Städten hörte man einander zu. Gespräche und Gesten waren dafür bestimmt, dem anderen zu zeigen: Wir teilen gleiche Sorgen und Ängste. Wenn ich zum Beispiel eine alte, hochtoupierte, stark geschminkte und parfümierte Dame im Park sah, konnte ich davon ausgehen, dass sie mal Schauspielerin oder Opernsängerin gewesen war. Etwas zwang mich, sie im Vorbeigehen anzulächeln. Als Erwachsene suchte ich später mit solchen Diven das Gespräch. Viele erwiesen sich beim näheren Kennenlernen als geistig verwirrt, das heißt, ihre Wirklichkeit war dauernd auf Kollisionskurs mit der offiziellen. Überhaupt die sogenannten Verrückten, die machten, wie man damals sagte, die Suppe fett. Ohne Dorftrottel und Stadtverrückte wären wir arm gewesen. Geistig arm, so paradox es auch klingen mag. Und ohne Hundebesitzer, die mit ihren Hunden bei jedem Wetter ihre Runden drehten, hätten wir die Verbindung zur Natur im urbanen Raum viel früher verloren. Sie müssen wissen, Hunde galten bis zu ihrem Verbot in den Städten Europas als Freunde des Menschen.

DIE DAMEN: (lachen)

MARIA: Damals wollte ich unbedingt einen schwarzen Königspudel haben, passend zu meinem Lockenkopf. Es schien mir, nur mit einem Hund wäre ich interessant für das andere Geschlecht. Später hatte ich mehrere Hunde, und das andere Geschlecht wurde uninteressant für mich. Überhaupt das Geschlechtliche. Die Menschen fühlten sich dadurch erst recht zu mir hingezogen. Männer, Frauen, Alt und Jung. Flüchtige und langjährige Freunde, alle mausetot. Hätte ich sie damals nicht zu Literatur verarbeitet, ich wage nicht zu denken, was dann wäre. So aber strahlt mir ihre Nähe auch hundert Jahre später in alle Körperregionen aus. Eine Nähe wie ein dumpfer Schmerz … Manchmal glaube ich … Egal. Sie schauen mich gerade so groß an. Drücke ich mich rätselhaft aus?

 

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Zu was hast du deine Freunde zerhackt?

MARIA: Zu Literatur, zu Literatur habe ich sie verarbeitet. Das hieß damals so. In Schriftstellerkreisen. Vor meiner Anstellung bei Ihnen war ich Schriftstellerin. Das sagt Ihnen nichts?

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Nicht wirklich, aber wir können es uns vorstellen.

MARIA: (aufgeregt) Passen Sie auf, außer den Hundebesitzern gab es noch einen besonderen Menschenschlag, den sogenannten Straßenfeger. In meiner Heimat wurde er liebevoll Misthuhn genannt. Wegen der scharrenden Geräusche auf dem Asphalt, die sein Reisigbesen produzierte. Es waren raue Gesellen, die Straßenfeger. Für eine Flasche Wodka konnten sie einem den Kopf abbeißen, und waren sie betrunken, so ließen sie sich leicht durch ein gutes Wort erweichen. Ihre Wattestiefel, ihre speckigen Fellmäntel, ihren einzigen Besitz, hätten sie einem Fremden schenken können. Wenn ich um halb acht meinen Schulweg antrat, lagen sie schon mit erdigen Gesichtern dösend im Gebüsch, den Besen akkurat an einen Baum gelehnt. Dann gab es noch Kleinwüchsige, die im Zirkus zusammen mit den Affen im Partnerlook auftraten. Man konnte an ihrer Erscheinung weder ihr Alter noch ihr Geschlecht ablesen. Hunde bellten sie aus, Kinder lachten sie aus, Autofahrer hupten sie an, während sie, den Blick gesenkt, mit einem madonnenhaften Lächeln zur nächsten Vorstellung eilten. Immer hatten sie es eilig, und eines Tages trieben sie es zu doll und flogen einfach weg. Es gab alte Blumenmädchen an Straßenkreuzungen, reinliche Marktfrauen mit Porzellanteint und schlechten Zähnen, Imker, die Honig in bauchigen Fünf-Liter-Gläsern zum Verkauf anboten, in deren bernsteinfarbener Tiefe eine einsame Arbeiterbiene als Zierde schwebte. Eine Weltraumfahrerleiche, nach der jedes Kind verrückt war. Pilzverkäufer wanderten mit Pilzketten behangen schüchtern umher, als Schatten ihrer selbst. Pfifferlinge, Röhrlinge, Steinpilze, diese Stimmen aus der Unterwelt, beschwörend, sie hallen noch in meinem Ohr. Oh wie lang ist das her! Fast unwahr, doch es war wahr. Meine Damen, Sie wollen wissen, was es noch in meiner Zeit gab? Bäuerinnen gab es, die, Hühner rupfend, innehielten und sich mit der blutigen Hand bekreuzigten, wenn die Kirchenglocken zu schlagen begannen. Fischverkäufer gab es, die zappelnde Fische in die Höhe hielten, Gewichtheber, die dicke Mädchen durch die Luft wirbelten – vor einer Menge Gaffer, während Zigeunerfrauen einfache Knete in Kaugummiverpackung an gutgläubige Schüler verkauften. Diese kauten das Zeug, ohne mit der Wimper zu zucken, und schauten den Portraitmalern zu, die in schattigen Alleen ihre Staffeleien aufklappten, auf die sie Musterportraits von Schönheiten und pausbackigen Kindern platzierten. Es gab tanzende Bären, geschwätzige Papageien und anhängliche Affen, die für etwas Kleingeld ein Kunststückchen vorführten. Es gab falsche Blinde, die echten Blinden ein Bein stellten, falsche Regisseure, die den Fehler machten, echte Polizistinnen zu sich nach Hause auf einen Tee einzuladen. Es gab Schuhputzer und Messerschleifer, Wahrsagerinnen, die, mit den Augen funkelnd, jungen Frauen verlockende Prophezeiungen im Vorbeilaufen zuraunten. Leierkastenmänner mit einem Holzbein, Pfeife rauchend, Mundmaler ohne Beine und Arme mit einem Pinsel zwischen den Zähnen. Vor ihnen – ein Glas Wasser, Aquarellfarben und eine vorgefertigte Zeichnung mit einer rührenden Familienszene, die den Passanten offenbaren sollte, was für ein Drama sich in der Seele des Torsos abspielte. Stöhnend hackte der Maler an einem Detail herum, wenn jemand an ihm vorbeiging, während ein scheinbar unbeteiligter Zuschauer immer wieder die Blechbüchse mit dem Kleingeld leerte. Es gab Kapellen, die in Parkanlagen die Luft Abend für Abend mit süßlichen und schiefen Klängen erfüllten, so dass Verliebte sich aufgefordert fühlten, durcheinanderzuwirbeln, aber auch reifere Liebende mit schlohweißem Haar schwangen das Tanzbein. Wie welkes Laub raschelten die Chiffonröcke. Weiße Kapitäne tanzten, mit Epauletten klimpernd. Wolken von Schweiß und Parfüm schwebten unter den bunten Lichterketten, und irgendwo in der Nähe zogen verstaubte Hundefänger mit blutunterlaufenen Augen an ihren Zigaretten und schauten den Tanzenden durch die Stämme der Bäume zu. Manchmal glaube ich, sie müssen noch alle da sein, all diese Menschen. Ich brauche nur zurückzukehren, um sie an ihren Plätzen zu finden. Aber wie, wie kann ich dieses Kunststück zustande bringen?

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Das klingt so perspektivlos, oder wie sagte man das früher? Traurig?

DIE DAMEN: Sad, so sad!

MARIA: Seitdem ich bei der Familie von Swipsmalheur Zuflucht gefunden habe, sitze ich da drüben hinter der Orangerie in meiner Kunstgrotte und gehe meinen Eremitenpflichten nach. Ich flicke meine Lumpen, wasche sie, sammle Reisig und mache Feuer. Kurzum, ich veredele diesen Garten. Jeder sieht, dass das ewige Heil mein Lebensinhalt ist, dass alle meine irdischen Taten nach dem Zeitlosen ausgerichtet sind. Doch der Schein trügt. In Wirklichkeit schwelge ich nicht in apokalyptischer Furcht, ganz im Gegenteil. Ich muss immer wieder lächeln. Über dies und jenes. Wenn ich merke, dass die gnädige Frau die Terrasse betritt, tue ich so, als würde ich meine Hände am Feuer wärmen. In Wirklichkeit aber brauche ich das nicht. Etwas anderes wärmt mich von innen.

DIE DAMEN: Der Wermut!

MARIA: Zum Bespiel der Hundert-Rubel-Schein. Ich sah ihn, ich trat auf ihn und rutschte so in einer Schlange Richtung Kasse, während ein hagerer Mann sich in der Mitte des verspiegelten Saals verzweifelt drehte, Konditorei „Der goldene Schlüssel“. Oder die Bank mit der stacheligen abblätternden Farbe, auf der ich unter einem Nussbaum saß und mit meinem frisch angelegten Gipsbein Nüsse knackte, ein Brandopfer neben mir – seine Beine reichten kaum bis zum Boden. Der Garten eines Kinderhospitals. Die hundert Rubel wärmen mich und die stachlige Bank, aber auch der aus der Dunkelheit eines Gemüseladens herüberwehende Duft von Verwesung und Erde, das Glitzern der Lidschatten der Verkäuferin hinter dem Tresen. Der Bäckerladen mit den an Schnüren herabhängenden Gabeln, diese holzgetäfelte Höhle voller unfreundlicher Frauen. Die Brotlaibe. Diese Kruste mit den drei Einkerbungen, deren Sinn mir für immer verborgen bleiben wird. Die Telefonzellen mit der zerkratzten Wählscheibe. Magische Lichtinseln in der Nacht. Wie oft betrat ich sie und glaubte, ins Weltall zu fliegen. Leise singende Betrunkene in der Gosse, mit dem Gesicht zu den Sternen gewandt. Ging man an ihnen vorbei, erhoben sie die Stimmen. Der Barfuß-Lauf mit den Freunden über Glasscherben im Staubsamt, klebriges Harz aus einer Pflaumenbaumwunde – eine Kostbarkeit.

DIE DAMEN: Das ist nicht mehr lustig.

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Es wird mir ganz anders.

MARIA: Und dann kommt dieser Winter, der langersehnte schneereiche, in dem man plötzlich weiß: Etwas ist anders. Dieser Junge mit dem Meeresblick, dieser Junge mit dem Stoppelhaar, seine Halsadern schwellen an, wenn er schreit, Schneeballschlachten, blutende Nasen, der erste Kuss, salzig und rostig im Nachklang. Das wärmt. Das hält mich zusammen, das macht mich unsterblich. Glaube ich manchmal.

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: (betritt die Bühne, diesmal mit verweinten Tuschaugen) Sehr zermürbend so ein Vortrag.

DIE DAMEN: (beleben sich) Wir sind fix und foxy und bereit für einen Tee.

FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Im Namen des Adelsclubs danke ich dir für diese historische Exkursion, Maria. Erst wenn man dir so zuhört, wird einem klar, wie viel uns von deiner Zeit trennt.

MARIA: Gar nicht so viel, wie Sie glauben, gnädige Frau. (tritt an sie heran und betrachtet amüsiert das verweinte Gesicht) Ich sehe nichts, was uns trennen würde.


Kurzgeschichte

Doron Rabinovici

Foto: Lukas Beck

DORON RABINOVICI (*1961 in Tel Aviv) lebt seit 1964 in Wien. Seine Prosa umfasst Kurzgeschichten, Romane und Essays. Seine Romane Suche nach M. (1997), Ohnehin (2003), Andernorts (2010) und Die Außerirdischen (2017) erschienen im Suhrkamp Verlag.

Ich bin kein Schriftsteller, bin es im Grunde nie gewesen. Manche glauben, ich hätte das Schreiben erst nach dem Unfall aufgegeben. Ich weiß es besser. Meine einzige Veröffentlichung, die Erzählung Auf Widerruf, lag bereits viele Jahre zurück. Ich saß nur noch an schlechten Drehbüchern, die zumeist nicht verfilmt wurden. Wir lebten vornehmlich von Ediths Einkommen. Sie war Ärztin, Kardiologin, eine Koryphäe ihres Faches. Mein Schreiben wurde im Freundeskreis bloß als Hobby wahrgenommen.

Edith erwartete deshalb von mir, sie zumindest zu beruflich wichtigen Veranstaltungen zu begleiten. An jenem Tag im Mai verließ sie die Wohnung im Streit. Wochenlang hatte sie mich darum gebeten, zu einem Abendessen mitzukommen. Der Gastgeber war ihr Vorgesetzter, Professor Hehn. Wenige Stunden vor der Abfahrt sagte ich ihr, ich würde zu Hause bleiben, weil ich ein Skript fertigstellen wollte. Sie beschimpfte mich als Arschloch und machte sich über meine Texte lustig. Ich wehrte mich und schrie, nur ihretwegen könne ich nicht mehr schreiben. Sie sei an meinem Versagen schuld!

Nachdem sie gegangen war, versuchte ich sogleich, sie anzurufen, doch sie ging nicht dran. Als das Telefon Stunden später läutete, rannte ich hin und meldete mich mit: „Edith?“ Ein Polizist war am Apparat. Sie war mit dem Auto gegen ein anderes geprallt. Der Rettungswagen war bereits unterwegs ins Krankenhaus.

Sie lag auf der Intensivstation, unter Schläuchen vergraben. Die Sauerstoffmaske über Nase und Mund. Um sie piepste und fauchte es. Ich setzte mich ans Bett und suchte eine freie Stelle an ihrem Körper, die ich halten konnte. Ich streichelte ihre Schulter, dann die Wange, flüsterte ihren Namen: „Edith“.

Der Arzt, Doktor Grabner, erklärte, nach solch einem Unfall sei es nicht ungewöhnlich, wenn die Patienten noch Tage vor sich hin dämmerten. So verarbeiteten sie, was ihnen zugestoßen war. „Kein Grund zur Panik“, meinte er. Ich hörte zu und nickte bei jedem seiner Worte. Aber dann fragte ich dennoch nach: „Warum wacht sie denn nicht auf, Herr Doktor?“ Grabner knickte ein, flüsterte: „Ich weiß es nicht.“

Die Besprechung drei Tage später überraschte mich nicht. Grabner wiederholte immer wieder, es tue ihm so leid, aber sie seien auf eine Hirnblutung gestoßen. Er könne nicht versprechen, dass Edith je wieder aufwache. „Wir müssen in Betracht ziehen, dass sie nicht überlebt.“

Ich blieb an ihrem Bett, rührte mich nicht von der Stelle – allem Zureden der Verwandten, der Freunde und Ärzte zum Trotz. Jeden Morgen suchte ich Edith auf und kümmerte mich um sie, streichelte ihre Hand, rief nach dem Pfleger, sobald mich etwas beunruhigte, ihr Atem zu rasseln begann oder ein Gerät lospiepste. Ich sprach mit ihr, küsste ihre Wange und brachte ihr Lieblingsparfum mit, um ihr Bett damit zu besprühen.

In diesen Wochen versuchten alle, mich von Edith loszueisen – ihre Eltern, unsere Freunde, Doktor Grabner … Selbst Professor Hehn, der uns am Abend des Unglücks zu sich eingeladen hatte, wirkte einfühlsam und leise auf mich ein. Edith war verloren gegeben, aber sie setzten alles daran, mich, wie sie sagten, ins Leben zurückzuholen.

Für sie war Edith zu einer Pflanze geworden, aber zu einer, die nicht mehr wuchs, sondern verkümmerte. Das Verhalten der Krankenpfleger und Mediziner änderte sich. Ihre Gesichter leerten sich. Sie zogen an ihrem Arm, legten den anderen um, zerrten an ihr wie an einem Stück Fleisch, um einen Katheter zu legen. Zuweilen griffen sie so hart nach Edith, als wollten sie sie aus dem Koma reißen, sie grob aufwecken.

 

Ich saß bei ihr, nahm ihre Hand, folgte ihrem Rhythmus, atmete mit ihr die Luft ein und aus. Zwischen dem Heben und Senken ihrer Brust kommentierte ich, was immer ich tat: „Ich bleibe heute bei dir, Edith“, Pause: „den ganzen Tag“, und: „Jetzt halte ich deine Hand“, und: „Ich bin’s, Eric“. Ich fragte sie, ob sie das Zwitschern der Vögel, das Piepsen der Geräte, das Gluckern der Radiatoren vernahm. Ich erwartete keine Antwort.

War ich früher unfähig gewesen, ihr meine Gefühle anzuvertrauen, sagte ich ihr nun, was ich vor dem Unfall nie gewagt hätte auszusprechen. Sie war zwar reglos, gelähmt, aber ich konnte ihren Atem hören, ihr Schlucken sehen, ihren Puls fühlen. Für mich war sie nicht gestorben.

Zum ersten Mal seit Jahren verspürte ich den Drang zu erzählen. Eine Kurzgeschichte sollte es werden, eine Skizze über einen Popsänger und seine Geliebte, die im Heroinrausch lag. Aber anders als geplant wurde das, was ich begonnen hatte, immer größer. Aus dem kleinen Text, den ich vorgesehen hatte, keimte eine Novelle, und diese verzweigte sich wiederum zu einem Roman. Tagsüber, in den Stunden, da wir allein waren, trug ich Edith die Handlung vor und machte mir Notizen. Dabei horchte ich auf Signale, Laute, die nach Missfallen oder Zustimmung klangen; fragte, ob ihr der Fortlauf zusage. Wenn sie sich bewegte, sprach ich sie darauf an: „Ich habe das Zucken deiner Schulter gesehen, Edith“, und jeden Abend schrieb ich nieder, was ich an ihren Reaktionen abgelesen zu haben meinte.

Vor dem Unfall hatte ich gefürchtet, mich ihr in meinen Texten zu öffnen. Ein falsches Wort, und sie hätte durchschaut, wovon ich neben ihr träumte, was mich an ihr störte.

Die Ärzte erklärten, ich könnte ebenso gut zur Wand sprechen. Edith würde nichts von meinen Ausführungen mitbekommen.

Ich war mit der Arbeit bereits weit fortgeschritten, gab sie jedoch niemandem zu lesen. Ich ließ mich ganz darauf ein, den Verlauf der Handlung nur durch Edith bestimmen zu lassen. Sie sollte den Strom des Erzählens steuern.

Mit der Zeit veränderte sich ihr Aussehen. Ihr Gesicht gewann an Farbe. Ihr Fingerzucken wurde heftiger, ihr Stöhnen klarer, und ich war mir sicher, dass sie dabei auf mich reagierte und darauf, was in meiner Erzählung geschah. Eine Krankenschwester war es, die als Erste Ediths Metamorphose ansprach. Ich wagte nicht, davon zu reden, schließlich galt ich längst als Spinner. Doktor Grabner ordnete an, verschiedene Geräte heranzukarren. Saugnäpfe und Elektroden wurden an Ediths Körper angelegt. Dann bat er mich, ihr etwas vorzulesen: „Irgendetwas Aufregendes.“

Die Untersuchungen dauerten eine Stunde. „Ein medizinisches Wunder“, murmelte Grabner immer wieder und bat mich eindringlich, mit dem Erzählen fortzufahren. Ja, mein Roman wurde Edith zur Heilung verschrieben. Am nächsten Tag sollten noch weitere Tests durchgeführt werden.

In der Früh hatten sie mir einen neuen gefederten Polstersessel gebracht, sie fragten, ob ich Tee wolle oder Kaffee, schoben mir eine Ablage zu, auf der ich meine Papiere und Notizen ordnen konnte, und stellten weitere Apparate auf.

„Es war mir unmöglich, mich mit einem faulen Kompromiss zufriedenzugeben. Schlüssig war nur das Fiasko.“

Ich sah die Knöpfe und Pflaster an Ediths Kopf, auf ihrer Brust, an ihren Gliedmaßen. Auf ein Zeichen des Arztes begann ich zu erzählen und tatsächlich – Ediths Kreislauf, Herzfrequenz und Gehirnströme brausten auf, die Zeiger der Messgeräte schlugen aus, die Lichtwellen der Monitore brandeten hoch. „Jetzt verstehe ich“, sagte Grabner nachher, „so wie Sie vortragen … das kann Tote aufwecken.“

In dieser Woche wurden verschiedene Tomographien von Ediths Kopf angefertigt. Im Anschluss bat mich Doktor Grabner zu sich. Er sagte: „Es ist kaum zu glauben, doch der Zustand von Edith hat sich verbessert.“

„Danke, Herr Doktor. Danke.“

„Mir brauchen Sie nicht zu danken. Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen. Wir wissen noch immer nicht, ob und wie sie aufwachen wird. Ich kann Ihnen nicht sagen, woran sie sich erinnern wird. Aber ihre Chancen sind jetzt viel besser.“

Bei aller Freude über diese Prognose befiel mich eine gewisse Unruhe, da ich meinen Roman unbedingt abschließen wollte, ehe Edith zu Bewusstsein gelangte, denn wenn sie erst wieder aufgewacht wäre, so viel war klar, hätte ich sie zu pflegen, auf ihre Wünsche einzugehen, ihr womöglich Essen und Sprechen beizubringen. Noch verfügte ich über genug Zeit, doch schon war ich nicht mehr allein mit ihr und meiner Arbeit, suchten ihre Verwandten sie auf und feierten jede kleine Zuckung, jedes Schnaufen wie eine Auferstehung. Das Schlimmste jedoch war, dass Professor Hehn mein Manuskript lesen wollte. Ich verweigerte es ihm. Ich wollte unbehelligt weiterarbeiten und fürchtete, meine Kreativität könnte wieder verdämmern, sobald Edith erwachte. Hatte ich die letzten Monate gewünscht, meine Frau möge bloß wieder zu sich kommen, hoffte ich nun, sie möge nicht zu schnell genesen. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mein Schreiben als etwas Wichtiges und unbedingt Notwendiges angesehen.

Der Roman war beinah fertig, doch die wichtigste Entscheidung lag noch vor mir – wie er enden sollte. Alles, was bisher zwischen dem Popmusiker und seiner Geliebten geschehen war, rief nach einer ekstatischen Katastrophe. Eine glückliche Fügung würde verlogen wirken, doch fürchtete ich, ein tödliches Finale könnte Edith schaden. Ich war mittlerweile, nicht zuletzt durch das Urteil der Ärzte, von der Heilkraft meiner Literatur so sehr überzeugt, dass ich es für möglich hielt, Edith könnte an einem schlechten Ausgang zugrunde gehen. Ein guter Schluss, ein Happy End klang mir dennoch allzu schal.

Eines Morgens bemerkten wir, die Schwester und ich, es im selben Moment: Edith war nicht mehr abwesend. Ihr Gesicht tauchte aus der Wachsmaske der Ohnmacht hervor. Sie schlief noch, aber sie war wieder unter uns.

In der folgenden Nacht blieb ich bei ihr, um die Arbeit am Roman abzuschließen. Es war mir unmöglich, mich mit einem faulen Kompromiss zufriedenzugeben. Schlüssig war nur das Fiasko. Während ich Edith das Ende vortrug, beobachtete ich, wie ihre Augenlider zuckten und sie den Kopf hin und her rollte. Es war, als wehrte sie sich gegen meine Geschichte. Doch diesmal ignorierte ich ihre Signale, auf die ich monatelang gehört hatte. Sie durfte meine Handlung nicht stören. Als ich die letzten Sätze sprach, hörte ich sie wimmern. Sie bäumte sich auf und rang nach Luft. Es war grässlich.

Am nächsten Tag meinte die Krankenschwester, es ginge der Patientin schlecht, viel schlechter als gestern.

Krämpfe schüttelten ihren Körper, sie heulte schrill, und ihre Augäpfel jagten ununterbrochen von links nach rechts. Die Ärzte befürchteten das Schlimmste. Und ich war schuld daran, ja, ich war bereit gewesen, sie für meine Geschichte zu töten.

Drei Tage später schlug sie die Lider auf, blinzelte umher. Ihr Blick war fahl, dann schlief sie wieder ein. Später kam sie nochmals zu sich und schaute verkniffen zu mir hoch. Das Licht blendete sie. Sie betrachtete mich unverwandt, doch ich hielt ihr nicht stand, sah weg, zu Boden, ich konnte nicht anders.

In der Folge mied sie mich und wich meinen Blicken aus. Doktor Grabner erklärte, es sei nicht ungewöhnlich, möglicherweise leide sie unter einer temporären Amnesie. Was, so fragte ich ihn, wenn sie die letzten Jahrzehnte ihres Lebens vergessen hatte, wenn sie mich vergessen hatte. War das dann noch Edith? Welches Wesen hatte ich zum Leben erweckt?

In den folgenden Wochen übte eine Physiotherapeutin mit Edith die einfachsten Bewegungen, trainierte ihre geschrumpften Muskeln, lehrte sie essen und gehen. Es dauerte, bis sie den Stuhlgang wieder regeln und den Harndrang beherrschen konnte.

Ich fürchtete mich davor, mit ihr allein zu bleiben. Trotz meiner Versuche, ihr auszuweichen, geriet ich eines Tages ins Krankenzimmer, als niemand bei ihr war. Ich überwand mich, strich über ihre schwache Hand, küsste sie, doch sie vereiste. „Sie sagen, ohne dich wäre ich nicht mehr aufgewacht. Sie sagen, du liebst mich mehr, als sie es sich je hätten vorstellen können. Stimmt das?“

„Wenn du’s nicht weißt …“ Das antwortete ich ihr, als sie fragte, ob es wahr sei, was alle ihr erzählten. Ich konnte ihr nichts anderes sagen als: „Wenn du’s nicht weißt.“

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