Theorien der Literatur VII

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Symphonien

Instrumentalwerke als poetologische Modelle in Empfindsamkeit, Romantik und Moderne

Christine Lubkoll

In seinem Aufsatz über Symphonien, den Ludwig Tieck 1799 in den zusammen mit Wilhelm Heinrich Wackenroder verfassten Phantasien über die Kunst herausbrachte, findet sich folgende Charakteristik der musikalischen Gattung:

Diese Symphonien können ein so buntes, mannigfaltiges, verworrenes und schön entwickeltes Drama darstellen wie es uns der Dichter nimmermehr geben kann; denn sie enthüllen in rätselhafter Sprache das Rätselhafteste, sie hängen von keinen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit ab, sie brauchen sich an keine Geschichte und an keine Charakter [sic] zu schließen, sie bleiben in ihrer rein–poetischen Welt.1

Diese Überlegungen sind aus mehreren Gründen bemerkenswert. Erstens ist es zunächst nicht selbstverständlich, dass hier ein Dichter sich über die Symphonie äußert, dass er die musikalische Kompositionskunst überhaupt für diskussionswürdig erachtet. Verständlich wird dies erst, wenn man bedenkt, dass die Symphonie im 18. Jahrhundert eine relativ junge Gattung war und dann aber enorm schnell zu einer Hochblüte gelangte; außerdem beginnt um 1800 (im Spannungsfeld von Empfindsamkeit, Klassizismus und Romantik) eine intensive poetologische Reflexion, die den Stellenwert und das Ausdruckspotential der Literatur im Vergleich mit anderen Künsten zu bestimmen versucht.

Das führt zum zweiten Punkt: Auffällig an den Ausführungen Tiecks ist zudem, dass er die Symphonie mit einem literarischen Text vergleicht (dem Drama), dass er aber die Musik klar als eine überlegene Darstellungsform betrachtet. Dies ist durchaus erstaunlich, wenn man den Umstand berücksichtigt, dass die Musik im ästhetischen Diskurs überhaupt erst seit dem späten 17. Jahrhundert als eigenständige Kunst bewertet (und behandelt) wurde2; in den septem artes liberales wurde sie noch – im Quadrivium – in eine Reihe mit der Arithmetik, der Geometrie und der Astronomie gestellt. Allerdings ist die Formulierungsweise Tiecks durchaus ambivalent: Denn die Favorisierung der Symphonie (als musikalisches Kunstwerk) geschieht ja wiederum unter Rückgriff auf Begriffe aus der Dichtung: Zum einen wird die Musik als eine Sprache (und nicht etwa: eine Tonkunst) bezeichnet; zum anderen wird sie als eine quasi gehobene Form der Dichtung gefeiert: „in ihrer rein–poetischen Welt“.3

In diesem Sinne wird die Musik – und hier besonders die Symphonie – im poetologischen Diskurs um 1800 oftmals als Vorbild für die Literatur ‚instrumentalisiert‘. Die ‚rein poetische Welt‘, die sich nicht an die „Gesetze der Wahrscheinlichkeit“, an „keine Geschichte“ und an „keine Charakter[e]“ halten muss, wird zum Ideal schlechthin erhoben.4

Damit aber nicht genug: Die Nobilitierung der Symphonie zum poetologischen Modell ist nicht nur eine vorübergehende ‚Mode‘ um 1800, sondern sie prägt sich dem literarischen und kulturellen Diskurs derart ein, dass sich die Künste bis in die Moderne und Gegenwart daran abarbeiten.

Die Rezeptionsgeschichte des literarischen Symphonie-Diskurses soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Am Anfang stehen einige Überlegungen zur Verortung des Themas im komparatistischen Grenzgebiet ‚Musik und Literatur‘. Auch wenn hier der Bereich der musikliterarischen Forschung nicht allgemein, sondern exemplarisch vorgestellt werden soll, erscheinen doch einige theoretisch-methodische Grundlagen hilfreich. Zweitens werden im Vorfeld der musikwissenschaftliche Begriff der Symphonie und die musikhistorische Entwicklung der Gattung skizziert, bevor im Hauptteil dann die ‚Karriere‘ des Symphonie-Diskurses in der Literaturgeschichte in einem Dreischritt erläutert wird: Zunächst geht es hier um empfindsame Anverwandlungen im Rahmen der im späteren 18. Jahrhundert aufkommenden Ausdrucks- und Gefühlsästhetik (Wilhelm Heinse, Wilhelm Heinrich Wackenroder); sodann nehme ich romantische Perspektivierungen in den Blick: zum einen die wirkungsästhetischen Reflexionen, die die „verworrene“ Komplexität der Symphonie als Gefährdung des Subjekts beschreiben (Brentano/Görres), zum anderen deren Idealisierung als polyphones Strukturideal im Sinne der progressiven Universalpoesie der Romantik (E.T.A. Hoffmann). Drittens gehe ich dann auf die Frage ein, wie das kulturgeschichtlich wirksame Paradigma der ‚Symphonie‘ in der Moderne rezipiert wird: Dabei rückt einerseits ein literarischer Text in den Fokus: Thomas Manns Roman Doktor Faustus und das vom Protagonisten verfolgte Postulat der ‚Zurücknahme‘ von Beethovens 9. Symphonie. Andererseits gewinnen auch Transformationen des Strukturideals im Medium des Films an Bedeutung – dies wird am Beispiel von Walter Ruttmanns Film Berlin – Die Sinfonie der Großstadt kurz angedeutet.

1. Vorüberlegungen

Zunächst zu einer kurzen Verortung des Themas im Forschungsgebiet ‚Musik und Literatur‘: Stephen Paul Scher hat in seinem einschlägigen Handbuch Literatur und Musik folgendes Schema entwickelt:1


Abb. 1: Beziehungen zwischen Musik und Literatur (Scher 1984, S. 14)

Er unterscheidet zwischen den jeweils spezifischen Perspektiven der Musik- und der Literaturwissenschaft (demnach ist die Musikwissenschaft eher für den Bereich der ‚Literatur in der Musik‘ (symphonische Dichtungen, Programmmusik) und für Bereiche zuständig, in denen ‚Musik und Literatur‘ zusammenwirken (alle Formen von Vokalmusik vom Lied bis zur Oper). Die Literaturwissenschaft ist in diesem Bereich mit im Boot; außerdem kümmert sie sich vornehmlich um alle Formen der Thematisierung von ‚Musik in der Literatur‘. Hinzu kommt übrigens das ganz große Segment des Topos des Musikalischen in der Literatur: dazu gehören die Thematisierungen von Musikerfiguren, ästhetischen Reflexionen, kulturhistorisch bedeutsamen Epochen oder Gattungen der Musikgeschichte sowie spezifische Auseinandersetzungen mit Gesang oder auch mit bestimmten Musikinstrumenten und ihrer Wirkung.2 In dieses Segment fällt auch die Frage nach der poetologischen Funktion des Kompositionsmodells ‚Symphonie‘ in der Literatur.

Die neuere musikalische Forschung fordert eine intermedialitätstheoretische Fundierung. Vorreiter war und ist hier Werner Wolf.3 Auf ihn beruft sich auch Ina O. Rajewski, die in ihrem Standardwerk zur Intermedialitätstheorie die wichtigsten Kategorien bereitstellt.4 Sie unterscheidet zwischen Intramedialität (Bezüge innerhalb eines Mediums, z.B. Intertextualität oder Gattungstraditionen), Intermedialität („Medien überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“5) und Transmedialität (medienunspezifische Phänomene wie z.B. Topoi oder ikonographische Traditionen).

Innerhalb des Bereichs Intermedialität wird noch unterschieden zwischen Medienwechsel (z.B. Literaturverfilmungen), Medienkombination (z.B. alle Arten von Textvertonungen) und Intermedialen Bezügen. Hierunter versteht Rajewski „Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (= Einzelreferenz) oder das semiotische System (= Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit dem kontaktnehmendem Medium eigenen Mitteln“.6 In unserem Fall wäre dies die Bezugnahme auf das semiotische System Symphonie (im Sinne einer Systemreferenz) mit den Mitteln der poetischen Sprache. Im Einzelnen kann dies bedeuten:

 eine sprachliche Reflexion über die Struktur der Symphonie

 die Beurteilung ihrer ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten

 eine Diskussion über ihren kulturgeschichtlichen Stellenwert

 die Fokussierung/Favorisierung eines bestimmten Komponisten oder Werks

 den Versuch einer strukturellen Anverwandlung von Kompositionsprinzipien

 die Instrumentalisierung für eine poetologische Reflexion.

Einige Klärungen zum Begriff der Symphonie als musikalische Gattung erscheinen im Vorfeld der literaturwissenschaftlichen Betrachtung hilfreich.7 Zunächst ist festzuhalten: Wörtlich bedeutet ‚Symphonie‘ nichts anderes als ‚das Zusammenklingen‘. In der Musikgeschichte bezog sich die Bezeichnung aber von Anfang an auf Instrumentalmusik. In der frühen Neuzeit ist die Symphonie im Zusammenhang mit der Oper entstanden – in der neapolitanischen opera seria war sie als rein instrumentales Einleitungsstück konzipiert und bestand aus drei Teilen (schnell – langsam – schnell). Mit dem Aufschwung der Instrumentalmusik im 18. Jahrhundert verselbstständigte sich die Sinfonia und wurde zugleich strukturell ausgebaut bzw. mit spezifischen kompositorischen Vorgaben versehen: Dabei entwickelte sich der erste Satz zur Sonatensatzform. Nach dem zweiten langsamen Satz folgte meist ein Menuett oder Scherzo; der vierte Satz diente dann einem temperamentvollen Abschluss und der individuellen Ausdruckstiefe der Komposition. Nachdem die Symphonie schon durch die Wiener-, die Mannheimer- und die Berliner Schule etabliert worden war, prägte insbesondere Joseph Haydn mit seinen über 100 Symphonien die Erscheinungsform der klassischen Symphonie. Er ist es denn auch, dessen Kompositionskunst in der Literatur um 1800 zuallererst im Zusammenhang mit vollendeter Instrumentalmusik Erwähnung findet. Der nächste große Akteur ist bekanntermaßen Mozart, der Haydns Kompositionstechnik übernahm, aber sie an Raffinesse teilweise übertraf (so wurde es jedenfalls von den Zeitgenossen wahrgenommen). Eine eigene Tiefe und Individualität im Ausdruck verlieh schließlich Ludwig van Beethoven der Gattung. Seine Symphonien zeichnen sich aus durch „Größe und Prägnanz der Themen, Kühnheit der Harmonik, Dehnung der Form, Vitalität der rhythmischen Bildungen, Erweiterung des Orchesterapparats“ und vor allem die thematische Durcharbeitung bzw. dem Zusammenhang aller Partien.8 Die Komplexität der Beethovenschen Symphonik war es, die E.T.A. Hoffmann besonders faszinierte; in der späteren (musikwissenschaftlichen) Beethoven-Rezeption galt der Komponist dann als Vertreter einer vollendeten Klassik (von ‚Wiener Klassik‘ sprach man erst am Ende des 19. Jahrhunderts; E.T.A. Hoffmann klassifizierte Beethoven noch eindeutig als Romantiker9).

 

Im 19. Jahrhundert erlebte die Symphonie eine Hochkonjunktur; wobei der Bogen im deutschsprachigen Raum sich von Schubert und Schumann über Brahms und Bruckner bis zu Mahler und Richard Strauss spannt, im europäischen Kontext von Dvorak und Smetana über Tschaikowsky bis zu Berlioz und Saint-Saens. Wichtig und bemerkenswert ist, dass im 20. Jahrhundert eine durchaus ambivalente Rezeptionshaltung vorherrscht: Einige Komponisten knüpfen an die Vorbilder an (etwa: Prokofjiew, Schostakowitsch, Sibelius); andere experimentieren mit der Gattung und transformieren sie im Zeichen der modernen Musik (etwa: Reger, Hindemith, Schönberg, Webern). Nach der Jahrhundertmitte schwindet das Interesse an der Symphonie merklich.

2. Empfindsamkeit: Die Symphonie als Medium der Gefühlserzeugung

Damit komme ich zur Trias literarischer Beispiele und wende mich zunächst der Empfindsamkeit zu. Sie hat einen entscheidenden Anteil an der Nobilitierung der Musik als Ausdrucksmedium und an der Ausprägung der empfindsamen Musikästhetik. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beobachten wir eine radikale Subjektivierung der Musikanschauung (die Komposition, den Vortrag und auch die Rezeption betreffend); und seit den 1770er Jahren erscheinen etliche Romane, in denen die Musik als ‚Sprache des Herzens‘, als Kommunikationsform der Gefühle und als Auslöser sentimentaler Stimmungen behandelt wird (oft verbunden mit religiösen Schwärmereien).1 Zu nennen sind etwa Johann Martin Millers Siegwart. Eine Klostergeschichte (1776)2, Karl Philipp Moritz‘ Andreas Hartknopf (1786/90)3 oder Jean Pauls Hesperus (1795)4. Eine Sonderstellung nimmt der ebenfalls 1795 erschienene Roman Wilhelm Heinses ein: Hildegard von Hohenthal.5 Musik spielt hier nicht nur eine akzidentielle Rolle, dort, wo die ‚Sprache des Herzens‘ – in der Liebe, in der Religion – gefragt ist. Vielmehr handelt es sich um einen Text, der sich ausschließlich mit Musikreflexionen beschäftigt (und dabei en passant auch noch eine Liebesgeschichte erzählt). Er schließt dabei direkt an die zeitgenössischen Musikdiskussionen und musikgeschichtlichen Entwicklungen an und präsentiert in zahlreichen Gesprächen der beteiligten Protagonisten ein breites populäres Musikwissen (diese Konversationen machen zwei Drittel des umfangreichen dreibändigen Werkes aus). Sogar der Göttinger Musikwissenschaftler Johann Nikolaus Forkel benutzte den Roman als Quelle, auch Goethe hat sich hier informiert. Was die musikästhetische Positionierung betrifft, so markiert der Roman mithilfe einer raffinierten Komposition einen Übergang: Der Kapellmeister, Komponist und Musiklehrer Lockmann vertritt gewissermaßen noch eine barocke Position, indem er am Pythagoreismus und an der musikalischen Rhetorik festhält; der alte Reinhold ist ein Anhänger Rousseaus und steht für eine Auffassung der Musik als natürliche Empfindungssprache; und Hildegard von Hohenthal, die Titelfigur, eine bezaubernde junge Sängerin, vermittelt zwischen den Antipoden und entwirft dabei eine eigenständige Perspektive, die sich auf der Schwelle zwischen Empfindsamkeit und romantischer Musikästhetik bewegt. Dabei entpuppt sie sich als vehemente Befürworterin einer autonomen Instrumentalmusik – und genau deshalb ist der Text in unserem Zusammenhang interessant. Während Reinhold, der Rousseauist, die Instrumentalmusik als künstliche Konstruktion ablehnt und die Natürlichkeit des Gesangs favorisiert, plädiert Hildegard von Hohenthal für eine empfindungsästhetische Sicht auf die Sinfonie:

Wenn ich es wagen darf, auch noch ein Wörtchen hinzuzufügen: so scheinen Sie mir, Herr Reinhold, in Italien zu sehr von den schönen Stimmen verführt zu seyn und die Instrumentalmusik nicht nach Verdienst und Würden zu schätzen. Es läßt sich viel und Wahres zu ihrem großen Lobe sagen.

Sie verstärkt und bestimmt den Ausdruck der singenden Personen; drückt ihre stummen Gefühle aus, so wie die Gefühle der Nebenpersonen, und der ganzen Gesellschaft, und alles Leben der Natur, das sich durch merkliche Bewegung äußert.6

[…]

Für sich allein“, fuhr Hildegard ferner fort, „ist sie ein ergötzendes Spiel für die Phantasie, und schmeichelt dem Ohr durch Neuheit von Melodie und Harmonie und Fertigkeit des Vortrags, und rührt, erschüttert wohl noch das Herz mit unbestimmten Gefühlen und Ahndungen von Leidenschaften. Wenn Sie (Reinhold, C.L.) eben Symphonien und Quartetten von Haydn oder unseren anderen Deutschen Meistern gehört hätten, so würden Sie gewiß nicht, auch nur zum Scherz, so gering von ihr gesprochen haben.7

Schließlich deutet die Diskutantin sogar die romantische ‚Idee der absoluten Musik‘8 an, wenn sie die gänzliche Selbstbezüglichkeit der Orchestermusik betont:

Überhaupt aber hat man noch nicht einmal die Frage aufgeworfen, was unsere ungeheuern Orchester bey einer dramatischen Begebenheit eigentlich vorstellen und bedeuten. Etwa die harmonischen Wände der Scene? oder die Nebengefühle der singenden Personen? oder die Gefühle der mithandelnden? oder die Gefühle des zuhörenden Publikums? oder alles zusammen? […] Inzwischen will ich Ihnen die beste Antwort darauf ins Ohr sagen: das Orchester stellt, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge, vor – das Orchester!9

Damit bewegt sich die Protagonistin Heinses ganz nah an Tiecks Rede von der ‚rein poetischen Welt‘, wie dieser sie im Aufsatz Symphonien einige Jahre später entwickelt. Es ist allerdings zu Recht darauf hingewiesen worden, dass auch Tieck – und mit ihm sein Freund Wackenroder – mit einem Bein noch in der Empfindsamkeit stehen.10 Die empfindsame Ausdrucksästhetik wird nachdrücklich von beiden in den Phantasien über die Kunst vertreten – von Wackenroders Aufsätzen über die Wunder der Tonkunst und Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst und die Seelenlehre der heutigen Instrumentalmusik über den Brief Joseph Berglingers bis hin zu Tiecks Die Töne und Symphonien. Besonders ausführlich äußert sich auch Wackenroder über die Symphonie:

Und doch kann ich‘s nicht lassen, noch den letzten, höchsten Triumph der Instrumente zu preisen: ich meine jene göttlichen großen Symphoniestücke (von inspirirten [sic] Geistern hervorgebracht), worin nicht eine einzelne Empfindung gezeichnet, sondern eine ganze Welt, ein ganzes Drama menschlichen Affekten [sic] ausgeströmt ist. Ich will in allgemeinen Worten erzählen, was vor meinen Sinnen schwebt.11

Wackenroders Ausführungen über die Tonkunst ähneln den Beschreibungen der Hörerlebnisse, die dem Protagonisten Joseph Berglinger in der gleichnamigen Novelle widerfahren. Der Text erschien als letzte Erzählung in Wackenroders und Tiecks Sammlung Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, die 1796 (mit der Jahresangabe 1797) im selben Verlag und in derselben Aufmachung wie ein Jahr zuvor Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre veröffentlicht wurde.12 Schon der Titel verdeutlicht die offensichtliche Verwurzelung beider Autoren in der Welt der Empfindsamkeit. Die Berglinger-Novelle handelt jedoch von einem problematischen modernen Künstlersubjekt, das zwar bei der Rezeption von Musik größte Empathien erlebt, dann aber als Komponist (in der zweiten Hälfte der Erzählung) am „Käfig der Kunstgrammatik“13 und am mangelnden Kunstverstand des Publikums scheitert (auch wenn ihm am Schluss eine Passionsmusik gelingt, an der er aber zugrunde geht). Mit Blick auf das poetologische Modell der Symphonie interessiert hier nur der erste Teil, in dem die enthusiastischen Hörerlebnisse Berglingers beschrieben werden: Dieser favorisiert zwar in erster Linie die alte Kirchenmusik, gerät aber auch beim Erlebnis einer Sinfonie in Verzückung:

Wenn Joseph in einem großen Concerte war, so setzte er sich, ohne auf die glänzende Versammlung der Zuhörer zu blicken, in einen Winkel, und hörte mit eben der Andacht zu, als wenn er in der Kirche wäre, – ebenso still und unbeweglich und mit so vor sich auf den Boden sehenden Augen. Der geringste Ton entschlüpfte ihm nicht, und er war von der angespannten Aufmerksamkeit am Ende ganz schlaff und ermüdet. Seine ewig bewegliche Seele war ganz ein Spiel der Töne; – es war als wenn sie losgebunden vom Körper wäre und freyer umherzitterte, oder auch als wäre sein Körper mit zur Seele geworden, – so frey und leicht ward sein ganzes Wesen von den schönen Harmonieen [sic] umschlungen, und die feinsten Falten und Biegungen der Töne drückten sich in seiner weichen Seele ab.14

Bey fröhlichen und entzückenden, vollstimmigen Symphonieen, die er vorzüglich liebte, kam es ihm gar oftmals vor, als säh‘ er ein munteres Chor von Jünglingen und Mädchen auf einer heitern Wiese tanzen, wie sie vor- und rückwärts hüpften und wie einzelne Paare zuweilen in Pantomimen zu einander sprachen und sich dann wieder unter den frohen Haufen mischten. Manche Stellen in der Musik waren ihm so klar und eindringlich, daß die Töne ihm Worte zu seyn schienen. Ein andermal wieder wirkten die Töne eine wunderbare Mischung von Fröhlichkeit und Traurigkeit in seinem Herzen […]. Und mit welchem Entzücken hörte er ein solches Tonstück an, das mit einer muntern und heitern Melodie, wie ein Bach, anhebt, aber sich nach und nach unvermerkt und wunderbar in immer trüberen Windungen fortschleppt, und endlich in heftig–lautes Schluchzen ausbricht oder wie durch wilde Klippen mit ängstigendem Getöse daherrauscht. – Alle diese mannigfaltigen Empfindungen nun drängten in seiner Seele immer entsprechende sinnliche Bilder und neue Gedanken hervor: – eine wunderbare Gabe der Musik, – welche Kunst wohl überhaupt um so mächtiger auf uns wirkt, und alle Kräfte unsers Wesens um so allgemeiner in Aufruhr setzt, je dunkler und geheimnißvoller ihre Sprache ist.15

Auffällig ist hier eine doppelte Ausrichtung: Einerseits beschreibt der Erzähler die Symphonie als eine absolute Musik, eine geheimnisvolle Sprache in Tönen, die mit ihren schönen Harmonien nicht zuletzt ein erhabenes, vom Irdischen losgelöstes Gefühl im Rezipienten erzeugt. Andererseits aber werden konkrete Bilder phantasiert (tanzende Paare, rauschende Bäche, beängstigende Klippen), und dieses ‚inwendige Sehen‘ ist es auch, das die geradezu pathologische Gefühlschwärmerei ausmacht (in der zitierten Stelle erscheint Berglinger zumindest als Melancholiker; am Ende stirbt er an einem überreizten Gemüt und am Nervenfieber).

Eine solche doppelte Stoßrichtung – die Pathologisierung hier, die Idealisierung dort – bestimmt auch die romantischen Ausprägungen des literarischen Musikdiskurses, um die es im Folgenden gehen soll. Denn einerseits findet sich in der romantischen Literatur, die eine besondere Vorliebe für die Musik als ästhetisches Vorbild pflegt, eine deutliche Tendenz zur Verbindung von Musikleidenschaft und Wahnsinn (und damit auch eine ironische Persiflage des überzogenen empfindsamen Musikdiskurses) – es geistern verrückte Künstlertypen durch die Texte, die insbesondere durch Instrumentalmusik in phantasmatische Welten getrieben werden. Das Feuerwerk an Phantasien und inwendigen Bildern, wie es schon in der Berglinger-Novelle als wirkungsästhetischer Effekt der Symphonie beschrieben wird, ist oftmals verantwortlich für eine bedrohliche Lebensuntüchtigkeit der Subjekte. Die Palette reicht hier von Brentanos und Görres BOGS; der Uhrmacher über die zahlreichen spleenigen Musikerfiguren bei E.T.A. Hoffmann (Kreisler, Rat Krespel, Ritter Gluck und andere) bis hin zu nachromantischen Musiker-Erzählungen Grillparzers und Stifters. Andererseits ist es aber gerade die Romantik, die die Symphonie zum poetologischen Ideal erhebt – aufgrund ihrer komplexen Polyphonie, ihres thematischen Facettenreichtums und ihrer dynamischen Anlage gilt sie als Realisation der progressiven Universalpoesie schlechthin. Vor allem E.T.A. Hoffmann adaptiert und nutzt das Modell der Symphonie für eine genuin romantische Schreibweise.

Bevor Hoffmanns romantische Poetik der Instrumentalmusik ins Zentrum rückt, soll an dieser Stelle zunächst ein Text Beachtung finden, der das Erlebnis der Symphonie und den absoluten Wahnsinn eines übertriebenen (empfindsamen) Musikenthusiasten auf hintersinnige Weise persifliert. Es geht um die Gemeinschaftsproduktion der beiden Romantiker Clemens Brentano und Josef Görres: BOGS, der Uhrmacher (Der vollständige Titel lautet: „Entweder wunderbare Geschichte von BOGS, dem Uhrmacher, wie er zwar das menschliche Leben längst verlassen, nun aber doch, nach vielen musikalischen Leiden zu Wasser und zu Lande, in die bürgerliche Schützen-Gesellschaft aufgenommen zu werden Hoffnung hat, oder die über die Ufer der badischen Wochenschrift als Beilage ausgetretene KONZERT-ANZEIGE. Nebst des Herrn BOGS wohlgetroffenem Bildnisse und einem medizinischen Gutachten über dessen Gehirnzustand“).16

 

Der Name BOGS setzt sich aus den Anfangs- und Endbuchstaben der Nachnamen beider Verfasser zusammen: BrentanOGörreS. Der Titel enthält unübersehbar intertextuelle Anspielungen auf Christian Reuters Schelmuffskys Curiose und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Land17 sowie auf Gottfried August Bürgers „Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande […] des Freyherrn von Münchausen“18; die Erzählung weist sich selbst damit als Schelmenstück aus. Im Text findet sich übrigens ein wirres Durcheinander von Zitatfetzen aus den genannten Vorläufern.

An dieser Stelle kann nicht auf die reiche Polyphonie des Textes und seine programmatische intertextuelle Verfahrensweise eingegangen werden, im Fokus steht vielmehr die Pathologisierung des sinfoniebegeisterten Musikliebhabers. BOGS ist einerseits ein braver Uhrmacher, der seinen Ordnungssinn durch das Tragen unzähliger Uhren beweist und um Aufnahme in die bürgerliche Schützengesellschaft ersucht. Andererseits gerät er beim Hören von Musik derart außer sich und in einen Rauschzustand blühender Phantasien, dass die Gesellschaft und auch er selbst dies als höchst gefährlich ansieht. Deshalb „verordiniert“19 die Schützengesellschaft dem Bürger einen Konzertbesuch, den er genau protokollieren soll, erst dann kann der bürokratische Akt der Aufnahme vollzogen werden. Der Uhrmacher besteht die Prüfung natürlich nicht, wird in die Pathologie gebracht, wo ein Teil seines Kopfes, nach ärztlicher Untersuchung, explodiert und weggesprengt wird. Der anderen, der „zurückgebliebenen Hälfte“ wird am Ende die Aufnahme in die Schützengesellschaft höchst formell ‚bewilligt‘.

In dem von der Gesellschaft eingeforderten Selbstbekenntnis des Uhrmachers beschreibt dieser sein Musikerlebnis folgendermaßen:

Mein Herz pochte, alle meine Pulse schlugen, meine ganze Person knisterte von den gehenden Taschenuhren, die Musikanten stimmten, die Lichter blitzten, die Menge summte, man wich aus meiner Nähe, man hielt mich für eine geladene Flasche einer Elektrisiermaschine, der Saal drehte sich mit mir, aus allen Instrumenten brach ein Orkan von Tönen, ich drückte die Augen zu, die Knie zusammen, die beiden Hände in den Rocktaschen, meine Uhren fassend, adieu Welt! Der Sturm einer heidnischen Symphonie griff in meine dünnen Haare, mein Gehirn schlupfte mit allen seinen Fähigkeiten zu den Ohren heraus, tat sich auseinander wie zwei Segeltücher, die der Wind aufbauschte, der mich durch Himmel und Erde, Wasser und Feuer trug, und einigemale an Felsen schleuderte, ach, meine Uhren! Wehe! wehe! ein Leck, ein Leck, wir gehen unter, die Elemente drangen an allen Seiten herein, die Segel gerissen, und durch meine Ohren strömte ein Strudel Musik, ganz schmeckend wie der feurige zehnmal abgezogene Alkohol, stieg, stieg, füllte das Haupt, unter gieng die Welt, aus den Augen brannte, weinte ich.20

Im Anschluss an diese Selbstbeschreibung werden die auflodernden Phantasien des Rezipienten einer „heidnischen Symphonie“ geschildert, und es ist übrigens interessant, dass hier nicht nur Bilder aufsteigen wie bei Berglinger, sondern ganze Geschichten erzählt werden – mit einem vollen Sack intertextueller Anspielungen, die ausgeschüttet und wild durcheinandergemixt werden. Die Symphonie erscheint also als eine Phantasie-Erzeugungsmaschine, das Hörerlebnis des Orchester-Orkans wird aber wiederum in Literatur überführt, in ein ‚wahnsinniges‘ Text-Universum, das als ‚Polyphonie pur‘ inszeniert wird. Auch die Makrostruktur des Textes ist vielstimmig und polyperspektivisch organisiert – enthält er doch eine Zusammenstellung verschiedener Textzeugen, die um den Fall BOGS herum gruppiert werden: das Plakat mit der Konzert-Anzeige als Initiator, die Verlautbarungen der Schützengesellschaft, diverse Bekenntnisse und Berichte des Uhrmachers BOGS, ein medizinisches Gutachten, ein Dekret usw.

Auch in E.T.A. Hoffmanns Kreisleriana ist es so, dass das polyphone Modell der Symphonie auf der Ebene der Textorganisation als Strukturmodell erscheint; auch hier ist es ein wahnsinniger Musiker, der für eine übersteigerte Phantasie steht und diese – in Texten ebenso wie in musikalischen Kompositionen – zu Papier bringt. Das Besondere an den Kreisleriana ist allerdings, dass der Text neben beißenden Persiflagen auf das bürgerliche Musikleben eine explizite romantische Musikästhetik enthält – man kann auch sagen: eine ‚Symphonie‘-Ästhetik, die als poetologisches Modell fungiert und über allem steht: Ich meine den Aufsatz über „Beethovens Instrumentalmusik“21. Es handelt sich ursprünglich um Rezensionen über Beethovens 5. Symphonie und seine Streichtrios, die Hoffmann 1810 bzw. 1813 für die Allgemeine Musikalische Zeitung verfasst hatte. Die ästhetischen Kernaussagen führte er im Aufsatz „Beethovens Instrumentalmusik“ zusammen und fügte diese in die Kreisleriana ein – diese Textsammlung ist wiederum Teil der 1814/15 erschienenen Phantasiestücke in Callots Manier. Mitten hinein in einen bunten Reigen skurriler Geschichten setzt E.T.A. Hoffmann sein poetisches Manifest. Dieses beginnt folgendermaßen:

Sollte, wenn von der Musik als einer selbständigen Kunst die Rede ist, nicht immer nur die Instrumentalmusik gemeint sein, welche, jede Hilfe, jede Beimischung einer andern Kunst (der Poesie) verschmähend, das eigentümliche, nur in ihr zu erkennende Wesen dieser Kunst rein ausspricht? – Sie ist die romantischste aller Künste, beinahe möchte man sagen, allein echt romantisch, denn nur das Unendliche ist ihr Vorwurf. – Orpheus’ Lyra öffnete die Tore des Orkus. Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben.22

Entscheidend ist hier die Formulierung einer „Idee der absoluten Musik“23 – der Vorzug der Musik wird gerade darin gesehen, dass sie frei von referentiellen Bezügen ist, dass sie nichts Bestimmtes ausdrückt und gerade deshalb so ausdrucksvoll erscheint (eine Idee, die, wie wir gesehen hatten, schon bei Heinse und Tieck im Ansatz vorhanden war). Als Inbegriff eines solchen Ideals werden die Instrumentalmusik und insbesondere die Symphonie betrachtet. In seiner Rezension kommt Hoffmann alias Kreisler jedoch nicht gleich auf Beethoven zu sprechen, sondern macht zuerst – im Sinne einer Steigerung – eine Komponistenreihe auf: Haydn – Mozart – Beethoven. Alle drei versteht er übrigens, wie bereits erwähnt, als Vertreter der Romantik, allerdings in verschiedenen Entwicklungsstufen. Die Symphonien Haydns und Mozarts sind demnach noch an konkretere Vorstellungswelten gebunden, sie ermöglichen, so die Aussage des Textes, ein inwendiges Sehen von Bildern. Über Haydns Symphonien heißt es etwa:

Mozart und Haydn, die Schöpfer der jetzigen Instrumental-Musik, zeigten uns zuerst die Kunst in ihrer vollen Glorie; wer sie da mit voller Liebe anschaute und in sie eindrang, ist – Beethoven! – Die Instrumentalkompositionen aller drei Meister atmen einen gleichen romantischen Geist […], der Charakter ihrer Kompositionen unterscheidet sich jedoch merklich. – Der Ausdruck eines kindlichen heitern Gemüts herrscht in Haydns Kompositionen. Seine Sinfonien führen uns in unabsehbare grüne Haine, in ein lustiges buntes Gewühl glücklicher Menschen. Jünglinge und Mädchen schweben in Reihentänzen vorüber; lachende Kinder, hinter Bäumen, hinter Rosenbüschen lauschend, werfen sich neckend mit Blumen.24

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