Unterwegs zu einer Ethik pastoralen Handelns

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Unterwegs zu einer Ethik pastoralen Handelns
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Markus Graulich Martin Seidnader (Hrsg.)

Unterwegs zu einer Ethik pastoralen Handelns

Markus Graulich Martin Seidnader (Hrsg.)

Unterwegs zu einer Ethik pastoralen Handelns


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de› abrufbar.

© 2011 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de Umschlag: Hain-Team, Bad Zwischenahn Druck und Bindung: Druckerei Friedrich Pustet, Regensburg ISBN 978-3-429-03436-8 (Print) ISBN 978-3-429-04615-6 (PDF) ISBN 978-3-429-06020-6 (Epub)

Inhalt

Karl Kardinal Lehmann Geleitwort

Lothar Wehr Anspruch und Wirklichkeit. Der Umgang des Neuen Testaments mit den hohen Anforderungen der Ethik Jesu

Markus Graulich Salus animarum – suprema lex. Der Beitrag des Kirchenrechts zu einer Ethik der Seelsorge

Maria Widl Weltentheologie – Bausteine zu einer Ethik pastoralen Handelns in der Postmoderne

Heribert Wahl Pastorale Grundhaltungen als Beziehungsethik im Geist Jesu Christi. Skizzen zu einer Pastoralethik

Thomas Menamparampil Ethics in a Multi-religious Context

Martin Seidnader Societas imperfecta. Für ein pastorales Ethos der Geschichtlichkeit

Karl Hillenbrand Ethische Anfragen an die gegenwärtige Priesterausbildung

Wunibald Müller Sich der Wahrheit stellen. Schuldvergebung und Schuldverarbeitung am Beispiel des Priesters, der Minderjährige missbraucht

Andreas Müller-Cyran Notfallseelsorge: Seelsorge am Karsamstag

Christine Pöllmann Pastorales Handeln an der Grenze. Erfahrungen aus der Klinikseelsorge

Jürgen Erbacher Die Mediengesellschaft als Chance und Herausforderung für die Kirche. Die Rolle der Medien als Agenturen der Urgierung einer Ethik pastoralen Handelns

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Geleitwort

Das Volk Gottes bringt, wenn es betet und Liturgie feiert, die Welt, ihre Anliegen und Sorgen, aber auch die Hoffnungen der Menschen vor Gottes Angesicht. Vor einigen Jahren ließen die deutschsprachigen Bischöfe Hochgebete für besondere Anliegen zum Gebrauch in den Eucharistiefeiern zu. Im Hochgebet „Jesus, der Bruder aller“ steht die Bitte: „Mache die Kirche zu einem Ort der Wahrheit und der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit, damit die Menschen neue Hoffnung schöpfen.“ Zwar ist es Gnade und Geschenk, wenn das geschieht und wenn gelingt, worum hier gebetet wird. Aber die Liturgie bringt an dieser Stelle auch zum Ausdruck, wie eng das Band zwischen Glauben und Leben, Gottvertrauen und gutem Handeln in Wahrheit ist.

Das gilt in besonderer Weise, wo die Kirche selbst – gerade auch in den Männern und Frauen, die in ihrem Namen pastoral tätig sind – mit ihrer Ethik im Mittelpunkt steht. Die Kirche steht auch da im Focus, wo in ihr sittliches Fehlverhalten stattfindet oder geduldet wird. Im vergangenen Jahr 2010, einem wahren Krisenjahr für viele Ortskirchen, wurde uns das angesichts von sexuellen Missbrauchshandlungen an Kindern und Jugendlichen, die durch Priester, Ordensleute oder kirchliche Mitarbeiter geschehen sind, auf sehr schmerzliche Weise bewusst. Seither wurden vielfach Schritte der Aufarbeitung und Wiedergutmachung unternommen, die neue Hoffnung schöpfen lassen. Auch ist bei vielen, die in der Kirche Verantwortung tragen und mittragen, seien es Priester und Bischöfe, seien es Haupt- und Ehrenamtliche vor Ort, eine Bereitschaft zum ehrlichen Dialog gegeben. Gleichzeitig wissen wir heute mehr denn je, wie wichtig auch in der Seelsorge Maßstäbe sittlichen Handelns sind, die dem Einzelnen und dem gemeinsamen Dienst Orientierung geben. Gewiss sind auch die Konzepte und Programme der Visitation in den Bistümern noch stärker an diesem Erfordernis auszurichten.

Der vorliegende Sammelband stellt auf seine Weise einen Beitrag dazu dar. Die Autorinnen und Autoren vertreten unterschiedliche Fachrichtungen und haben in differenzierter Weise teil an der Verantwortung für die Pastoral. Die Artikel setzen, wie es Anliegen der Herausgeber war, einzelne Wegmarkierungen auf das Anliegen einer Ethik pastoralen Handelns hin. Das große Anliegen einer Vermittlung von Ethik und Pastoral(theologie) wird in den einzelnen Beiträgen offenkundig, und zwar sowohl in ihrer Notwendigkeit als auch in ihrer Fruchtbarkeit.

In einem exegetischen Beitrag erinnert Lothar Wehr an die bleibende Herausforderung, die in den Weisungen des Neuen Testamentes für ein Leben in der Nachfolge Christi gegeben ist. Ethische Konsequenzen für die Seelsorge der Kirche stehen immer auch unter dem besonderen Anspruch der Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft.

Markus Graulich stellt in seinem Beitrag heraus, dass die Verbindung zwischen der Ethik und den Rechtsnormen der Kirche in diversen Bestimmungen des geltenden Kirchenrechts deutlich zum Ausdruck kommt. Wo diese Normen unter dem Gesichtspunkt eines verantwortlichen pastoralen Handelns verstanden und umgesetzt werden, stehen sie im Dienst an der Sendung der Kirche und einer Ethik pastoralen Handelns.

Von den heutigen Bedingungen der Seelsorge in einer von der Postmoderne geprägten Gesellschaft nehmen die Überlegungen von Maria Widl ihren Ausgang. Sie formuliert aus pastoraltheologischer Perspektive, auf welch differenzierte Weise die Lebenswelt der Menschen von heute wahrzunehmen ist, wenn Impulse der Seelsorge zu einem glaubwürdigen Christuszeugnis wirksam werden sollen.

Eine stärkere Reflexion pastoralethischer Fragen setzte, wie Heribert Wahl herausarbeitet, im Bereich der evangelischen Theologie schon vor einigen Jahren ein. Sein eigener Beitrag legt das Augenmerk auf psychoanalytisch gesicherte Einsichten. Sie gestatten es, tragfähige pastoralethische Perspektiven zu entwickeln, welche am Leitbild gelingender, Leben spendender Beziehung orientiert sind.

Der indische Bischof Thomas Menamparampil öffnet den pastoralethischen Fragehorizont in die weltkirchliche Dimension hinein. Er ist seit Jahren im interreligiösen Dialog präsent, wobei es auch darum geht, in ihm und mit seiner Hilfe zukunftsfähige Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens herauszuarbeiten und zu fördern. Sein Einsatz wird über die Grenzen der großen Religionsgemeinschaften hinweg in seiner asiatischen Heimat anerkannt und führte zur Nominierung für den diesjährigen Friedensnobelpreis.

Unter der Perspektive der Geschichtlichkeit stellt Martin Seidnader Überlegungen an, die die Frage nach der gelebten Sittlichkeit in der Seelsorge auch vom Anspruch der personalen Erfahrung und des Dialoges her beleuchten.

Aus seiner langjährigen Erfahrung in der Ausbildung und Begleitung von Priesteramtskandidaten heraus formuliert Karl Hillenbrand konkrete Wahrnehmungen, Anfragen und Perspektiven. Die priesterliche Lebensform kann gelingen, wo immer auch ganzheitliche Persönlichkeitsbildung stattfindet.

Mit Blick auf Priester, die Minderjährige missbrauchten, beschreibt Wunibald Müller, wie Wege der Schuldvergebung und Schuldverarbeitung auch angesichts schweren Fehlverhaltens gesucht und begangen werden können. Dabei ist der Einzelne unter dem Anspruch, sich der Wahrheit zu stellen, auch auf therapeutische Hilfe angewiesen.

Notfallseelsorge ist eine spezifische Form pastoralen Handelns, welche an die in ihr Tätigen besondere Anforderungen stellt. Wie Andreas Müller-Cyran deutlich machen kann, ist ihr Grundanliegen, bei Menschen, die von einem tragischen Ereignis betroffen sind, in hilfreicher Weise präsent zu sein, so alt wie die Kirche selbst. Das führt uns auch die Frage vor Augen, welche Schwerpunkte wir im Seelsorgealltag setzen.

Aus ihren Erfahrungen in der klinischen Seelsorge berichtet Christine Pöllmann. Im professionellen Umfeld vor allem auch eines Universitätsklinikums bestehen an die in der Pastoral Tätigen hohe Erwartungen, die eine spezielle Ausbildung voraussetzen und nur in enger Vernetzung, etwa mit den Ärzten und Pflegekräften, eingelöst werden können. Ethische Fragestellungen fordern in dieser Umgebung auch die Seelsorge unmittelbar heraus.

 

Der Fernsehjournalist Jürgen Erbacher benennt einige Aspekte zum Verhältnis von Kirche und Medien, um dann den eigenen kirchlichen Anspruch auf gelingende Medienarbeit und Kommunikation in Erinnerung zu rufen. Wo die Zusammenarbeit gelingt und in der Kirche hilfreiche Impulse aus der öffentlichen Wahrnehmung aufgenommen werden, besteht die Chance, dass auch das Anliegen einer Ethik pastoralen Handelns gefördert wird.

Als Kirche zu einer Ethik pastoralen Handelns unterwegs zu sein, verlangt auch, aus dem Glauben Zuversicht zu schöpfen. Es geht um die verantwortliche Zuwendung zu einer Welt, der die Botschaft des Herrn immer neu glaubwürdig verkündigt werden muss. Das eingangs genannte Hochgebet legt uns in den Mund: „Öffne unsere Augen für jede Not. Gib uns das rechte Wort, wenn Menschen Trost und Rat suchen. Hilf uns zur rechten Tat, wo Menschen uns brauchen. Lass uns denken und handeln nach dem Wort und Beispiel Christi.“

Ich begrüße diesen Sammelband und danke den Herausgebern und allen Autorinnen und Autoren für ihre Initiative. Der intensive Dialog zwischen Pastoral und Ethik verspricht in Theorie und Praxis fruchtbare, weiterführende Einsichten. So wünsche ich dem wichtigen Gemeinschaftsband eine freundliche Aufnahme.

Mainz, im Juli 2011

Karl Kardinal Lehmann

Anspruch und Wirklichkeit. Der Umgang des Neuen Testaments mit den hohen Anforderungen der Ethik Jesu

Lothar Wehr

Kirchliche Positionen in ethischen Fragen treffen heutzutage in der Öffentlichkeit vielfach auf Unverständnis. Auch innerkirchlich wird teilweise heftig über sie diskutiert. Dies gilt für Fragen der Sexual- und Familienethik (besondere Wertschätzung der Ehe von Frau und Mann als Lebensbund, Unauflöslichkeit der Ehe), des Lebensschutzes vom ersten Moment der Existenz eines Menschen an bis zum natürlichen Tod, für das Festhalten an der priesterlichen Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen, für die besonderen Ansprüche an Mitarbeiter im kirchlichen Dienst und vieles andere. Nicht selten wird der Vorwurf erhoben, die Kirche vertrete einen ethischen Rigorismus.1 Nun entwickelt die Kirche ihre Moral nicht aus sich selbst heraus, sondern letztlich in Treue zur Ethik Jesu und der frühen Kirche. So verwundert es nicht, dass sich der hohe Anspruch der Ethik Jesu in der kirchlichen Moralverkündigung wiederfindet.

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie die ethischen Forderungen Jesu, die für sich betrachtet zum Teil rigoristisch klingen, in den Rahmen seiner Verkündigung und seines Menschenbildes einzuordnen sind und wie die neutestamentlichen Autoren mit diesem Teil der Jesusüberlieferung umgehen.

1. Die harten Forderungen Jesu angesichts der hereinbrechenden Gottesherrschaft

Am Anfang der Entwicklung zu einer spezifisch christlichen Ethik stehen die ethischen Forderungen Jesu. Soweit sie sich in den neutestamentlichen Evangelien – insbesondere bei den Synoptikern – erhalten haben, lassen sie ein klares Profil und einen hohen Anspruch erkennen. Wenn im Einzelnen auch strittig ist, welche Weisungen auf den historischen Jesus zurückgehen, so lassen sich doch einige Forderungen mit großer Wahrscheinlichkeit als authentisch erweisen. Das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44 par Lk 6,27f) zielt auf die völlige Entschränkung des Gebotes der Nächstenliebe (Lev 19,18) ab.2 Auch der persönliche Feind, derjenige, der mich in meinen Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt, der mich meiner Freiheit beraubt und mir womöglich nach dem Leben trachtet, soll nicht nur nicht gehasst, sondern aktiv geliebt werden.3 Jesus selbst hat diese Feindesliebe in seiner Passion bis zur eigenen Lebenshingabe gelebt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Mahnung Jesu, der Eskalation von Gewalt entgegenzuwirken und das Böse zu überwinden, indem man nicht nur auf das eigene Recht verzichtet, sondern sogar dem Bösen nachgibt: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“ (Mt 5,39). Auch diese Weisung stimmt mit dem Verhalten Jesu selbst überein, der sich ungerechter Gewalt nicht widersetzt hat.

Einen hohen Anspruch stellt auch das Schwurverbot dar (Mt 5,34.37; vgl. Jak 5,12). Es hat einmal die Heiligung des Gottesnamens zum Ziel, fordert zugleich zur Wahrhaftigkeit im zwischenmenschlichen Bereich auf.4 Der Jünger Jesu soll immer die Wahrheit sagen und nicht nur, wenn er unter Eid aussagt. Schwören wird dann überflüssig, ja sogar gefährlich, insofern es dazu verführt, die Ehrlichkeit auf den Schwur zu begrenzen.

Auch das Verbot der Ehescheidung (Mt 5,32 par Lk 16,18; Mk 10,11 par Mt 19,9), das von Jesus ursprünglich unter der Voraussetzung jüdischer Rechtsverhältnisse formuliert war und das dem Mann verbot, seine Frau zu entlassen, setzt sich über die jüdischen Gepflogenheiten hinweg, die die Trennung erlaubten. Man stritt zwar im zeitgenössischen Judentum darüber, aus welchem Grund ein Mann seine Frau entlassen darf (vgl. Mt 19,3); dass die Trennung aber grundsätzlich erlaubt ist, war nicht zweifelhaft. Auch in dieser Frage ist also der Anspruch Jesu höher.5

Mit dem Wort von den „Eunuchen um des Himmelreiches willen“ (Mt 19,12), das wegen fehlender direkter Parallelen im Frühjudentum, das sogar eine Pflicht zur Eheschließung aus der Tora ableitet,6 auf Jesus zurückgeht, hat Jesus auch seine eigene offenbar bewusst gewählte ehelose Lebensform begründet.7 Die Botschaft Jesu von der angebrochenen Gottesherrschaft fordert eine Antwort, die vieles relativiert, was im Allgemeinen als wertvoll und wichtig erachtet wird.

Auch in der Frage des Reichtums überliefern uns die Evangelien Jesusworte, die dem Menschen viel abverlangen. So dürfte wegen seiner auch sonst in der Verkündigung Jesu begegnenden Paradoxie und wegen der provokanten Radikalität, die kaum in der nachösterlichen Gemeinde entstanden sein kann, das Wort vom Kamel und dem Nadelöhr auf Jesus zurückgehen: „Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Himmelreich hineinkommt“ (Mk 10,25). Da Jesus nicht von allen seinen Jüngern den Verzicht auf jeglichen Besitz forderte, dürfte dieses Wort eher als Weckruf an die Reichen zu verstehen sein, denn als konkrete Anweisung, seinen ganzen Besitz abzugeben. Dadurch wird das Wort aber nicht wesentlich abgeschwächt. Da Reichtum daran hindern kann, ganz für Gott zu leben und sich ganz von ihm in Besitz nehmen zu lassen, beinhaltet die Nachfolge Jesu eine distanzierte Einstellung zum Besitz und unter Umständen, wie im Falle des reichen Mannes (Mk 10,17-22), sogar die völlige Aufgabe des eigenen Vermögens.

Die Interpretation dieser Forderungen und ihre Einordnung in eine Gesamtkonzeption der Ethik Jesu werden durch zwei Probleme erschwert. Erstens sind die ethischen Appelle Jesu in der Regel ohne ihren ursprünglichen Kontext überliefert; es ist also in den meisten Fällen nicht klar, aus welchem Anlass Jesus seine Forderungen formuliert hat. Zweitens ist es ein Kennzeichen der Verkündigung Jesu, dass er seine Ethik nicht systematisch darlegt; vielmehr hat er in der Regel spontan und veranlasst durch die Situation seine Forderungen formuliert.

Trotzdem lässt sich Folgendes feststellen: All die Forderungen Jesu verfolgen das Ziel, das Böse zu überwinden und dem Wohl des Menschen zu dienen. Sie sind nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. Der Anbruch der endzeitlichen Herrschaft Gottes im Wirken Jesu verträgt sich nicht mit menschlichen Verhaltensweisen und Verhältnissen, die dem Wohl des Menschen abträglich sind. Ja, die heilende und vergebende Zuwendung Gottes ist so groß und umfassend, dass ihr nur ein ethisches Verhalten entspricht, in dem der Mensch gleichsam über sich selbst hinauswächst.8

Seit Rudolf Bultmann hat man die Ethik des Paulus und letztlich des gesamten Neuen Testaments einschließlich der Ethik Jesu mit den Begriffen (Heils-)Indikativ und Imperativ umschrieben. Man meint damit, dass sich die Ethik aus dem ableitet, was von Gott her offenbart ist, d.h., dass die ethischen Forderungen des Neuen Testaments Antwort sind auf die Zuwendung Gottes zu den Menschen.

In den letzten Jahren ist in Frage gestellt worden, dass die Begriffe Indikativ und Imperativ für die Beschreibung der neutestamentlichen und auch speziell der paulinischen Ethik angemessen sind. So hält Ruben Zimmermann diese Terminologie sogar für völlig ungeeignet und plädiert für die Vermeidung dieser Begrifflichkeit.9 Eines seiner Hauptargumente ergibt sich aus der Beobachtung, dass sich Soteriologie und Ethik in den neutestamentlichen Schriften oft gar nicht trennen lassen. Was ethisch zu fordern ist, ist schon mit dem neuen Sein des Getauften gegeben. So verschränken sich Heilszusage und Paränese oft bei Paulus, wie man z. B. in 1 Thess 5,1-11 sehen kann. Hier wird das neue Sein mit den gleichen Begriffen oder dem gleichen Bildfeld umschrieben wie die ethische Forderung. Dieses Ineinander von Sein und Sollen zeigt sich beispielsweise in 1 Thess 5,4-6: „Ihr aber, Brüder, seid nicht in der Finsternis, so dass euch der Tag nicht wie ein Dieb ergreift. Alle seid ihr nämlich Söhne des Lichts und Söhne des Tags. Nicht gehören wir der Nacht und nicht der Finsternis. Also lasst uns nicht schlafen wie die übrigen, sondern wachsam und nüchtern sein.“ Weil die Getauften Söhne des Lichtes sind und dem Tag gehören, sollen sie sich so verhalten, wie es dem Tag entspricht, nämlich wachsam und nüchtern sein. Zimmermann verweist auch auf die in diesem Zusammenhang oft zitierte Stelle Gal 5,25 („Wenn wir dem Geist leben, wollen wir dem Geist auch folgen“), da hier Indikativ und Imperativ dicht beieinander stehen.10 Insofern ist die Klärung wichtig, dass die Rede von Indikativ und Imperativ nicht bedeutet, dass die neutestamentliche Ethik in einem eigenen Schlussverfahren aus den Glaubensinhalten entwickelt werden muss. Da die beiden Begriffe aus der Sprache der Grammatik stammen, könnte der Eindruck entstehen, dass Heilszusage und Heilserfahrung auf der einen Seite und ethische Forderung auf der anderen getrennte theologische Bereiche sind, die sich auch auf der Ebene der Grammatik voneinander unterscheiden lassen. Dies entspricht aber nicht den biblischen Texten, die schon im neuen Sein des Christen und in der Heilszuwendung Gottes die Maßstäbe und Inhalte der Ethik als gegeben ansehen. Trotzdem wird man nicht ganz auf die Begrifflichkeit von Indikativ und Imperativ verzichten können, da sie hilft, die neutestamentliche Ethik zu systematisieren. Sie macht deutlich, dass die ethischen Forderungen des Neuen Testaments und der Kirche das zuvorkommende Handeln Gottes voraussetzen, das den Menschen erneuert, ihn dadurch in die Lage versetzt, den Willen Gottes zu erfüllen, und das schließlich auch die Maßstäbe liefert, die für eine christliche Ethik konstitutiv sind.

Trotzdem ergeben sich aus diesen neueren Erkenntnissen über den engen Zusammenhang von Sein und Sollen des Christen bedeutende Konsequenzen für die Pastoral, wie später noch zu zeigen sein wird.

2. Veränderungen der ethischen Forderungen Jesu in den Evangelien am Beispiel des Mt – Verschärfung und Anpassung

Schauen wir unter diesem neuen Blickwinkel auf die Rezeption der Ethik Jesu im Matthäusevangelium! Der Matthäusevangelist hat vor allem über sein Sondergut und die Logienquelle viel von der Ethik Jesu in sein Werk übernommen. Gerade in der vom Evangelisten aus Überlieferungsgut zusammengestellten Bergpredigt, ist die Ethik Jesu noch gut zu greifen, insbesondere in den Antithesen (Mt 5,21-48). Das Gebot der Feindesliebe und die radikale Aufforderung zum Gewaltverzicht, ja sogar zum Nachgeben gegenüber der Aggression, werden von ihm unverkürzt übernommen. Allerdings lässt Matthäus an einigen Stellen auch erkennen, dass er Anpassungen der Forderungen Jesu an die Lebenswelt seiner Gemeinde für notwendig hält. So fügt er in das Ehescheidungsverbot seine Unzuchtsklausel ein (Mt 5,32; 19,9), die eine Ausnahme vom strikten Verbot darstellt. Matthias Konradt stellt in seiner Untersuchung zur matthäischen Ethik am Beispiel der Gemeinderede (Mt 18) fest, dass Matthäus einerseits sehr radikale, an ethischen Rigorismus heranreichende ethische Forderungen kennt, dass er andererseits aber auch um die Sündhaftigkeit der Menschen einschließlich der Jünger Jesu weiß.11 Beim ersten Evangelisten seien die ethischen Mahnungen in Verbindung mit den Erzählungen zu sehen, in denen vor allem von der Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit der Menschen die Rede sei wie z. B in der Erzählung vom erbarmungslosen Knecht (Mt 18,23-34). Konradt kommt zu dem Schluss: ″One could say that Matthew's approach is oscillating between a sect-like rigorism and the openness of a 'Volkskirche', a people's church.″12 Dies erweckt den Eindruck, als sei Matthäus in seiner Theologie gespalten, als zögen sich zwei Gedanken unverbunden durch das Evangelium. Aber gerade die Person des Petrus, auf den Konradt am Ende auch verweist13, zeigt doch, dass Jesus gerade in den Menschen mit seinen Schwächen große Hoffnungen setzt. Petrus wird zum Fels der Kirche eingesetzt, er ist mehrfach Adressat von Weisungen Jesu, die das rechte Verhalten des Menschen betreffen, und er wird in dem Zusammenhang sogar zur unbegrenzten Vergebungsbereitschaft aufgefordert (Mt 18,21-22), obwohl er von Jesus „Satan“ gescholten wird (Mt 16,23), weil er sich gegen das Leiden Jesu wehrt, und obwohl er am Ende seinen Herrn verraten wird (Mt 26,69-75), wie Jesus es zuvor angekündigt hat (Mt 26,34). Matthäus bewegt sich hier ganz auf der Linie Jesu, der seinen hohen Anspruch an die Menschen richtet, weil er um die zuvorkommende Zuwendung Gottes weiß und sie den Menschen vermittelt, obwohl ihm die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen bewusst ist.