VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik

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I Theoretische Perspektiven auf Variation(sforschung)
Derselbe Text, aber anders

Was können Variations- und Textlinguistik von- und miteinander lernen?

Kirsten Adamzik

Gliederung:

 1 Einleitung

 2 Variations- und Textlinguistik vs. Systemlinguistik?

 3 Die Notwendigkeit von Abstraktionen3.1 Abstraktionen auf verschiedenen Sprachebenen3.2 Wissenschaftshistorisches: Texteme und Allotexte, emische und etische Texte

 4 Virtuelle Einheiten auf der Textebene

 5 Fazit

1 Einleitung

Den folgenden Ausführungen sei ein sehr bekannter Text vorangestellt, allerdings in anderer als der gewohnten Variante. Es handelt sich um Goethes Erlkönig:

 [1] Kurzfassung1

  Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

  Is Papa mit Kind.

  Kommt böser Mann,

  Quatscht Papa an,

  Ob er den Bubi nicht haben kann.

  Papa verneint,

  Bubi weint.

  Am nächsten Morgen große Not:

  Papa lebendig, Bubi tot.

Solche Abwandlungen sind seit jeher übliche Arten des Umgangs mit vor allem literarischen Texten und unter Bezeichnungen wie Parodie, Travestie, Pastiche usw. bekannt. Diese Untertypen unterscheiden sich u. a. danach, ob der Inhalt des Ausgangstextes mehr oder weniger erhalten oder wenigstens wiedererkennbar ist oder aber wesentliche Merkmale der Form und eventuell sogar einzelne wörtliche Bestandteile mit dem Original übereinstimmen, der Inhalt aber gänzlich abweicht. Hierfür stehe das Beispiel [2], das eine Variation zum selben Originaltext darstellt.

 [2] Der Grünkohlverderber

  Wer hat denn so spät noch zur Mitternacht

  Den Kessel mit Grünkohl aufs Feuer gebracht?

  Es ist der Meister der Küchenkunst,

  Er werkelt geschäftig im Grünkohldunst!

 

  Er kocht ein gar köstliches Grünkohlgericht

  Und sieht wohl den Grünkohlverderber noch nicht.

  Der Grünkohlverderber, mit Paprika,

  Mit Curry und Minze, ist nämlich schon da!

 

  „Oh Meister, oh Meister, komm geh mit mir!

  Gar schöne Gewürze, die kauf ich dir.

  […]“ […]

 

  „Jetzt würz ich den Grünkohl, ihm fehlt noch Gehalt

  Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“

  Dann geht er zum Kessel und fasst ihn an,

  Jetzt hat er dem Grünkohl was angetan!

 

  Dem Meister grauset‘s, er betet zu Gott,

  Und blickt ganz entsetzt auf den Grünkohlpott,

  Er rühret und rühret in seiner Not,

  Der Kohl war mal grün und jetzt ist er – rot!2

Sprachspiele wie die genannten stehen in textlinguistischen Arbeiten nicht gerade im Vordergrund und werden dann unter dem außerordentlich breiten Themenfeld der Intertextualität abgehandelt (vgl. als Übersicht Adamzik 2016: Kap. 8). Zugleich sind sie ein besonders prägnantes Beispiel für funktionale Variation auf der Textebene. Von solchen Phänomenen ist aber auch in der Variationslinguistik selten die Rede. Überhaupt sind die Beziehungen zwischen den auf dieser Tagung zusammengebrachten Forschungsrichtungen wenig entwickelt. Im vorliegenden Beitrag geht es darum auszuloten, wo Berührungspunkte und Divergenzen liegen. Dabei ist das Ziel keineswegs, Kooperation zu forcieren, darin liegt m. E. kein Wert an sich. Es scheint mir aber geraten, Teildisziplinen näher miteinander bekannt zu machen, die sich allzu oft gegenseitig als fremd bzw. abgelegen empfinden. Zugleich kann der Blick von einer anderen Warte auch zur Selbstreflexion beitragen, denn sowohl Variationslinguistik (oder Varietätenlinguistik?) als auch Textlinguistik treten selbst in sehr verschiedenen Spielarten auf.

2 Variations- und Textlinguistik vs. Systemlinguistik?

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Variations- und Textlinguistik seien sozusagen natürliche Verbündete, die sich gleichermaßen die Untersuchung des Sprachgebrauchs zum Ziel setzen und sich damit gegen die sog. Systemlinguistik wenden; beide finden sich dieser auch regelmäßig entgegengestellt. Schon in den 1960er Jahren erschien die Textlinguistik allerdings den einen als Weiterentwicklung des Strukturalismus, den anderen dagegen als Gegenbewegung dazu (vgl. Adamzik 2016: 7). Und auch heute noch sind die Vorstellungen darüber, was aus der Sicht einer ‚Sprachwirklichkeitslinguistik‘ (vgl. Löffler 2016: 79) die Systemlinguistik eigentlich ausmacht, ziemlich vielfältig:

Eine erste besteht darin, dass die Systemlinguistik sich überhaupt nicht mit tatsächlichen Äußerungen, der Saussure‘schen Parole, beschäftige, sondern nur mit Regeln für den Gebrauch sprachlicher Einheiten. Bei gewissen Publikationen drängt sich dieser Eindruck auch tatsächlich auf. Allerdings ist so etwas natürlich grundsätzlich nur möglich, wenn wir es mit bereits beschriebenen Sprachen zu tun haben, der Forscher sich mit dem entsprechenden Datenmaterial begnügt und/oder sich selbst als kompetenten Sprecher betrachtet. Ansonsten kommt man um das ‚sprachliche Rohmaterial‘ natürlich nicht herum:

„[…] die aktuelle Ebene der Äußerung, des Diskurses/Texts, auf der die sinnlich wahrnehmbaren sprachlichen Materialien erscheinen, [ist] natürlich notwendig Ausgangspunkt für alle sprachwissenschaftlichen Fragen nach den sprachlichen Techniken von Einzelsprachen oder auch Dialekten, den Diskurstraditionen und der Sprechtätigkeit“ (Oesterreicher 2010: 29; Hervorhebungen im Orig.).

Zugleich wendet sich Oesterreicher aber sehr vehement gegen die „radikalen Korpuslinguisten und datenverliebten Variationslinguisten“, die „einem gravierenden wissenschaftstheoretischen Missverständnis“ (ebd.: 37) aufsäßen, wenn sie meinen, mit dem bloßen empirischen Material hätten sie schon irgendwelche linguistischen Fakten vor sich. Mit einem Motto unterstreicht Oesterreicher dieses ‚systemlinguistische‘ Credo, dass nämlich Einzeläußerungen nicht als solche interessieren, sondern nur als Grundlage für die Rekonstruktion sprachlicher Techniken: De singularibus non est scientia.

Im geraden Gegensatz zu dieser Auffassung, nach der Abstraktionen über Einzelfällen notwendige Aufgabe sprachwissenschaftlicher Forschung sind, steht die Annahme, dass nur das jeweils Realisierte in seiner Materialität wirklich sei, das Sprachsystem also einer Schimäre gleichkomme.1 Recht prominent ist eine solche Auffassung derzeit in diversen Ansätzen einer breit gefassten Textlinguistik, die neuen Formen der Multimedialität (oder Multimodalität) besonderes Interesse entgegenbringen und dabei die Bedeutung von Sprachlichem stark herabstufen oder gar die ,Existenz‘ abstrakter sprachlicher Einheiten bestreiten, die sich analytisch von ihrer Materialität trennen lassen:

„Sprache ist […] auf konkrete Realisierungsformen angewiesen […]: Sprachliche Kommunikation existiert nur in mündlicher oder schriftlicher Form, als Vokalisierung oder Visualisierung. Sprache muss materialisiert sein, um als Medium fungieren zu können.“ (Hagemann 2013: 41; vgl. dazu Adamzik 2016: 67 und insgesamt ebd.: Kap. 2.5.1.–2.5.3. und 4.4.1.).

Einer anderen Stoßrichtung entspricht das Argument, die Systemlinguistik beschränke sich auf Innersprachliches und lasse insbesondere die kommunikative Funktionalität von Äußerungen außer Betracht. Diese eng mit der sog. pragmatischen Wende verbundene Auffassung ist in textlinguistischen Ansätzen sehr verbreitet, da man sich hier (besonders im deutschsprachigen Raum) speziell an die Sprechakttheorie anlehnt (vgl. Adamzik 2016: Kap. 5.3. und 365ff.). Daraus ergibt sich eine Fragestellung, die selbst vor allem an Regeln und stark konventionalisiertem Sprachgebrauch interessiert ist. Es geht wesentlich um die Klassifikation von Textsorten als ‚konventionell geltenden Mustern für komplexe sprachliche Handlungen‘ (vgl. Brinker u. a. 2014: 139; zuerst Brinker 1985: 124), und zwar meist auf der Grundlage von Searles Sprechakttypologie. Textsorten ließen sich „als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben“ (ebd.). Wenn man sich darauf konzentriert, geläufige Muster zu beschreiben, blendet man aber die Variation gerade aus:

„Die Texte und Gespräche, die aufgrund signifikanter Ähnlichkeiten als zusammengehörend wahrgenommen werden, zeichnen sich auf pragmatischer Ebene durch konsistente Routinen [!] der Aufgabenbewältigung in bestimmten Lebenssituationen aus, also durch die prototypische Abfolge von Sprachhandlungen (z. B. beim Wetterbericht darstellende Sprachhandlungen über Ist-Zustand und Prognose). Ausdrucksseitig sind diese Routinen durch wiederkehrende Muster auf der Sprachoberfläche und ihre moderate [!] Variation gekennzeichnet.“ (Felder 2016: 34)

Man darf sich fragen, welchen Stellenwert diese Behauptung von der moderaten Variation von Texten hat. Soll damit unterstellt werden, dass dies für Textsorten schlechthin gilt? Dafür spricht, dass neben Fahrplanauskunft und Strafzettel u. a. auch die Vernehmung von Zeugen vor Gericht und Fachaufsätze als Beispiele angeführt werden. Es gehört allerdings schon zum Alltagswissen, dass die Bewältigung dieser doch recht ungleichen Aufgaben unterschiedlich anspruchsvoll ist und dementsprechend die Variationsbreite – oder anders herum gesehen: der Standardisierungsgrad – ganz verschieden ausfallen.

 

Selbst für Wetterberichte bedarf es keiner groß angelegten empirischen Untersuchung, um Folgendes feststellen zu können: Wetterberichte sind Serientexte, die von bestimmten Institutionen periodisch produziert werden. Ihre Gestalt hängt zunächst wesentlich davon ab, welche medialen Ressourcen zur Verfügung stehen, ob sie nämlich in Zeitungen, im Radio, Fernsehen oder im Rahmen von Internetauftritten erscheinen. Auch bei gleichen Ressourcen konkurrieren jedoch verschiedene Anbieter miteinander und versuchen, eine Rezipientenbindung herzustellen. Deswegen ist ihnen daran gelegen, sich (nicht nur beim Wetterbericht, aber z. B. auch durch dessen Gestaltung und Platzierung) jeweils ein eigenes, wiedererkennbares Gesicht zu geben. Es gilt daher nur für die Wetterberichte eines Anbieters, dass sie lediglich moderate Variation aufweisen – eventuell sogar mit Subtypen, z. B. je nach der Person, die den Wetterbericht präsentiert. Außerdem weisen sie diese relative Stabilität auch nur über eine bestimmte Zeit hin auf; für Medientexte ist es charakteristisch, dass gewisse Neuerungen abrupt erfolgen, man nämlich in mehr oder weniger großen Abständen das ganze ‚Design‘ umstellt.

Verbindet man die textlinguistische mit einer variationslinguistischen Fragestellung, so ist anstelle des Musterhaften gerade relevant, worin sich die Wetterbericht-Schemata verschiedener Anbieter und/oder eines Anbieters zu verschiedenen Zeiten unterscheiden und welche Funktionen den Varianten zugeschrieben werden können. Eine besteht gerade in der ‚Individualisierung‘ von Mustern; die periodische Neugestaltung soll u. a. das Bemühen um Modernität signalisieren. Beide Funktionen sind im Set der sprechakttheoretischen ‚Grundfunktionen‘ nicht vorgesehen und lassen sich am besten der Bühler‘schen Ausdrucks-/Symptomfunktion zuordnen, die ja grundsätzlich für gezielte Variantenwahl eine große Rolle spielt. Für Strafzettel kommt eine solche Zusatzfunktion natürlich nicht in Frage. Sie werden zwar auch periodisch modernisiert, es existieren hier aber (innerhalb eines Hoheitsgebiets) keine Varianten, die verschiedene Institutionen als miteinander konkurrierende Produzenten anbieten.

Auch in anderer Hinsicht bleiben viele Textlinguisten Denkweisen verpflichtet, die sich mit systemlinguistischen Konzepten zumindest problemlos vereinbaren lassen. Das geschieht vor allem, wenn man annimmt, die Analyse der kommunikativen Funktion müsse zur Beschreibung der sprachlichen Gestalt von Texten zwar notwendig hinzutreten, ändere aber im Kern nichts an den Errungenschaften der transphrastischen Ausrichtung der Textlinguistik. Dieser Ansatz müsse weiterverfolgt bzw. in ein Gesamtkonzept ‚integriert‘ werden. Aus Sicht der Transphrastik, die besonders die 1960er und frühen 70er Jahre geprägt hat, wurde an der strukturalistischen Linguistik kritisiert, dass sie bei der Satzebene stehengeblieben sei. Übernimmt man diesen Topos, dann kann man – in konsequenter Fortführung der Tradition – Texte als (nach bestimmten Regeln verkettete) Folgen von Sätzen präsentieren. Damit geht allerdings eine fast vollkommene Beschränkung auf die sog. (grammatischen) Kohäsionsmittel einher: Im Wesentlichen handelt es sich um Wiederaufnahme-Relationen, die durch Artikelwörter und Pronomina angezeigt werden, und Konnektoren. Tatsächlich steht die Beschreibung der Kohäsionsmittel – als Merkmale, die für alle Texte gelten – oft ziemlich unvermittelt neben den Ausführungen zu Textsorten, die Untergruppen des gesamten Textuniversums betreffen. Texte schlechthin gehören nach dieser Argumentation einer besonderen Beschreibungsebene an, und zwar einer, die oberhalb des Satzes liegt und die zugleich als höchste deklariert wurde (mit Diskursen als Mengen von Texten sollte die neue Grenze dann später noch einmal überschritten werden). Auf der Grundlage dieser Ebenen-spezifischen Betrachtungsweise kann man so weit gehen anzunehmen, dass tiefere Ebenen, „Syntax (und erst recht: […] Morphologie und Phonologie)“, in der Textlinguistik „nicht in anderem Gewand noch einmal beschrieben werden [müssen]“ (Hausendorf / Kesselheim 2008: 15f.).

Eine wohlverstandene Pragmatik sollte jedoch Texte nicht als regelgemäße Folgen von Sätzen betrachten, sondern als Vorkommen des Sprachgebrauchs. Diese stellen in erster Linie in sich strukturierte Ganzheiten dar, und wenn sie als solche beschrieben werden sollen, sind auch alle getroffenen Wahlen relevant, auf allen Ebenen. Gegen Regeln kann man im Übrigen auch mehr oder weniger massiv verstoßen. Bei literarischen Texten gilt dies als selbstverständlich, und diese sind wohl auch der dankbarste Gegenstand für die Untersuchung der gezielten Auswahl sprachlicher Varianten. Dabei kommt es bekanntlich gerade nicht auf die möglichst konventionelle, effiziente oder gar klare Signalisierung der kommunikativen Funktion des Textes an. Der Umstand, dass weder die Charakterisierung des kommunikativen Handlungszwecks noch die Untersuchung der Kohäsionsmittel ausreichen, um anspruchsvollen Texten gerecht zu werden, hat allerdings selten zur Infragestellung oder Revision der Grundannahmen geführt, sondern zum (weitgehenden) Ausschluss literarischer Texte aus dem selbst gewählten Gegenstandsbereich. Privilegiert sind in der kommunikativ orientierten Textlinguistik jedenfalls eindeutig die Gebrauchstexte.

Festzuhalten ist, dass Spielarten der Textlinguistik, die nur an konventionalisierten oder gar routinisierten Formen des Sprachgebrauchs interessiert sind, selbst einer systemlinguistischen Ausrichtung zugeordnet werden müssen. Insofern trifft auch sie, um die Übersicht über Einwände gegen die Systemlinguistik abzuschließen, der zentrale Vorwurf, den Variationslinguisten vorbringen. Die Systemlinguistik werde nämlich der Heterogenität der Sprache nicht gerecht. Diese Ausblendung tritt wiederum in verschiedenen Arten auf, von denen die folgenden hervorgehoben seien:

Im Extremfall wird Heterogenität tatsächlich abgestritten. Das scheint mir das Charakteristische an dem generativistischen Topos zu sein, es sei erklärungsbedürftig, wieso alle Kinder einer Sprachgemeinschaft in relativ kurzer Zeit ‚dieselbe‘ Grammatik erwürben, obwohl sie ganz unterschiedlicher Spracherfahrung ausgesetzt seien. Dass alle Kinder zur selben Grammatik kommen, wird im Allgemeinen präsupponiert, und nicht etwa behauptet – denn in diesem Fall bestünde ja die Gefahr, dass jemand nachfragt, wie sich das überhaupt empirisch belegen lassen sollte.

Völlig legitim ist es gegenüber einer solchen sprachtheoretisch (bzw. ideologisch) fundierten Annahme, die Heterogenität als für die eigene Fragestellung irrelevant auszuklammern. Das dürfte die häufigste Strategie sein. Ihr ist de Saussure mit seiner Als-Ob-Idee gefolgt, wir hätten alle dasselbe Wörterbuch im Kopf, und auch das Konstrukt des idealen Sprechers/Hörers lässt sich auf diese Weise rechtfertigen. Aber auch wer z. B. Textmuster zu Unterrichtszwecken beschreiben will, tut wahrscheinlich (zumindest auf elementaren Stufen) gut daran, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und die reale Heterogenität zunächst zu vernachlässigen. Mit der Ausblendung der Heterogenität realen Sprachgebrauchs ist also nicht notwendig eine bestimmte sprachtheoretische Position verbunden, eine solche kann auch aus rein pragmatischen Gründen erfolgen.

Interessanter sind freilich Kontroversen, die mit grundlegend unterschiedlichen Vorstellungen vom Funktionieren der Sprachen verbunden sind. Wie es nun in der Textlinguistik auch systemlinguistische Ausrichtungen gibt, so finden sich in der Variationslinguistik Strömungen, die dem Homogenitätspostulat verpflichtet bleiben. Dazu gehört insbesondere die Auffassung, die Gesamtsprache sei heterogen, weil sie eine Menge von Varietäten (auch Subsprachen genannt) umfasse. Diese könne man allerdings als in sich (weitgehend) homogen konzipieren; in einer anderen Fassung: die Heterogenität sei (sehr) geordnet. Es kehren bei diesem Ansatz dann dieselben Strategien wieder wie bei der elementaren Homogenitätsunterstellung: Äußerungen, die dem rekonstruierten (Sub-)System widersprechen, können als Performanzfehler eingeordnet oder Individuen zugeschrieben werden, die die Varietät (noch) nicht voll beherrschen. Dies geht dann leicht mit einer mehr oder weniger ausgeprägt normativen Haltung einher, speziell in Bezug auf die Standardvarietät, die sich ja dadurch definiert, das Variantenspektrum präskriptiv zu beschneiden.

Sehr eindeutig zu einer am Homogenitätspostulat ausgerichteten Sicht bekennt sich Ekkehard Felder:

„Das Erkenntnisinteresse der Varietätenlinguistik […] richtet sich auf die Abgrenzung der Subsprachen als Ganzes oder ‚Sprachgebrauchssysteme‘ (Dittmar 1997: 175) aus sprachstruktureller Sicht unter Berücksichtigung außersprachlicher Faktoren. Die Varietätenlinguistik ist also erkenntnistheoretisch vorrangig auf die langue-Ebene fixiert und betrachtet die parole-Ebene [sic] vor allem zum Zwecke der exemplarischen ‚Fütterung‘ der kontextabstrahierten Subsprachen (mit dem Erkenntnisinteresse der nachvollziehbaren Systemgenerierung).“ (Felder 2016: 44f.; Hervorhebung im Orig.)

Sehr entschieden spricht sich demgegenüber Jürgen Erich Schmidt gegen die auf Varietäten übertragene Homogenitätsannahme aus:

„[…] das Konzept einer homogenen Varietät [erweist sich] als empirisch leer und theoretisch als falsch. […] Den Gegenstand heterogene Gesamtsprache als Komplex homogener Varietäten zu fassen, stellt theoretisch eine Vervielfältigung des Gegenstandsinadäquaten dar“ (Schmidt 2005: 62).

Felder rekonstruiert diese gegensätzlichen Positionen als

„unvermeidbare Diskrepanz zwischen theoretischem Erkenntnisinteresse und empirischen Befunden der sogenannten [!] Sprachwirklichkeit (Löffler 52016: 79). Auf der einen Seite befindet sich das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse, nämlich eine plausible und Homogenität (Einheitlichkeit) implizierende Erklärungsfolie für Variantenvielfalt darzulegen. Auf der anderen Seite steht die empirische Feststellung, dass jegliche Klassifizierung und Zusammenfassung diverser Sprachvarianten doch nicht zur vollständigen und restlosen Einteilung aller empirisch feststellbaren Phänomene geeignet ist. Dieser Widerspruch ist insofern kein Problem (sondern im Gegenteil erkenntnisstiftend), als man sich die eigentliche Erklärungskraft von Kategorien vor Augen führt: Diese besteht nicht nur in dem wünschenswerten Ergebnis, möglichst viele Phänomene nach transparenten Kriterien in klar definierte ,Schubladen‘ (also Kategorien) einzuordnen, sondern auch darin, nicht kategorisierbare Phänomene möglichst genau zu beschreiben und ihre mangelnde Passfähigkeit in Bezug auf das bestehende Kategoriensystem präzise zu erfassen. Insofern lernen wir über die ‚widerspenstigen‘ (weil nicht 1:1 kategorisierbaren) Phänomene sehr viel – und zwar dank und trotz des unvollständigen Kategorienapparats, der unter Umständen eben nicht zur Einordnung eines bestimmten Phänomens in der Lage ist.“ (Felder 2016: 78f.)

Dieser Argumentation kann sich natürlich nicht anschließen, wer die Homogenität – sei es für Sprachen, Varietäten oder auch nur Idiolekte – als theoretisch falsch, als gegenstandsinadäquat, betrachtet. Das tun besonders diejenigen, die die Auswahl einer bestimmten Varietät oder auch einzelner Varianten nicht grundsätzlich als durch außersprachliche Faktoren bedingtes Sprachverhalten betrachten, sondern als teilweise gezielt eingesetzte Elemente. In dieser Sichtweise wird vor allem stilistische Variation (vgl. Fix 2009a), die oft aus der Varietätenproblematik ausgeschlossen wird, (wieder) zu einer zentralen Dimension (vgl. dazu u. a. die Beiträge von Dovalil und Androutsopoulos / Spreckels in Gilles u. a. 2010). Sie steht vor allem dialektalen Varietäten gegenüber, denen, wie Linke (2010: 256) es mit Peter Wunderli ausdrückt, Sprecher(gruppen) unterliegen; sie haben nämlich in der Regel nicht die Wahl, diesen oder jenen Dialekt zu benutzen. Ganz anders dagegen, wenn es der Sprecher ist, der mehrere (normalerweise nach der primären Sozialisation erworbene) Varietäten oder wenigstens Varianten beherrscht, diese also funktional heranziehen kann. Eine einfache Dichotomie wird sich daraus jedoch gewiss nicht ableiten lassen, da die Kompetenzen in Sprachen wie in Varietäten unterschiedlich ausgebaut sind und im Laufe des Lebens erweitert (oder auch abgebaut) werden können.

Bei ihrer Musterung verschiedener Disziplinen, die für die Variationslinguistik wichtig waren oder sind, nennen Lüdtke / Mattheier (2005: 20) die Stilistik den „Bereich der Sprachwissenschaft, in dem Sprachvariation am intensivsten und wohl auch am differenziertesten thematisiert worden ist.“ Von der Textlinguistik ist bezeichnenderweise nicht die Rede. Dazu passt, dass Ulla Fix (2009b: 13) in ihrer Bestandsaufnahme zur Textlinguistik Gestaltqualität bzw. Textstil als lange vernachlässigte Dimension ausgemacht hat. So ergibt sich als Fazit, dass Variations- und Textlinguistik allenfalls potenziell gemeinsamen Fragestellungen nachgehen. Zu vielfältig sind in beiden Disziplinen die theoretischen und methodischen Prämissen, als dass sich ein klarer Überschneidungsbereich hätte herauskristallisieren können. Das derzeit real existierende Gemeinsame liegt damit nur darin, dass in jedem Fall Texte das Objekt der Bemühungen darstellen: „Variation spielt sich auf der Diskursebene ab“ (Lüdtke / Mattheier 2005: 15).2 Und selbst das gilt nur dann, wenn die empirische Grundlage auch tatsächlich aus natürlichen Äußerungen als Ganzheiten besteht. Schon in Großkorpora erscheinen in der Regel nur Textfragmente. Greift man auf Befragungen oder elizitierte Äußerungen zurück, haben wir es nicht einmal mehr vordergründig mit demselben Gegenstand zu tun.