Weihnachtswundernacht 4

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3. Joes Erscheinung – Ein Engel im Chaos

(Bühne: Tisch und Stuhl. Josephs Mutter Martha kommt im Morgenmantel mit Kaffeetasse an diesen Tisch, setzt sich, nimmt einen Schluck aus der Tasse und beginnt Richtung Publikum zu sprechen.)

Martha: Meine Güte, war das eine Nacht! Jetzt brauche ich erst einmal einen starken Kaffee. Wahrscheinlich auch noch einen zweiten und dritten. Seit ein Uhr habe ich kein Auge zugemacht. Ich meine, es ist nicht das erste Mal, das ich nachts wach werde. Aber dann schlafe ich immer wieder ein. Nur diesmal … Ich kann es immer noch nicht glauben, was mir unser Sohn da erzählt hat. Was er mir und meinem Mann, also uns, antut.

Joseph, wir nennen ihn eigentlich Joe, stand auf einmal bei uns im Zimmer. Nicht, was Sie denken. Der hatte keinen Albtraum oder wollte sich zum Kuscheln zu meinem Mann Simon und mir ins Bett legen. Das hat er schon Jahre nicht mehr gemacht. Ist ja immerhin schon Ende zwanzig, das Bürschchen.

Aber was der mir da aufgetischt hat, das ließ meine Gedanken kreisen und mich kein Auge mehr zu bekommen.

Um ein Uhr also poltert Joe mit seiner Nachtlaterne in unser Schlafzimmer, rüttelt an unserem Bett und ruft:

„Mutter, Vater – hey, Mutter, Vater! Ich muss mit euch reden.“

Mein Mann Simon war wohl zuerst wach und stößt mich an:

„Hey, Martha, Joe will irgendwas von dir.“

„Nix“, sagt der ganz schnell, „ich muss mit euch beiden reden. Über Maria und mich und unsere Hochzeit.“

„Toll“, sage ich. „Den ganzen Abend sitzen wir zusammen und ausgerechnet jetzt willst du über dieses Thema reden. Was ist so dringend, dass du uns mitten in der Nacht wecken musst? Können wir nicht morgen früh reden?“

„Da war jemand bei mir im Raum, ein Besucher“, meint Joe auf einmal.

Sofort war ich hellwach. „Simon, ein Einbrecher, eine Gang“, sagte ich. „Wir sind ausgeraubt worden. Meine Juwelen. Joe, haben sie dir etwas getan, dich geschlagen?“

„Mam“, sagte er, „lass mich ausreden.“

„Ok“, sagte ich, „ich bin ruhig, erzähl mir von deinem Besucher.“

„Hm, es war ein Engel.“ Pause. „Ein Engel des Herrn.“

„Hatte ich doch richtig gerochen“, sagte ich, „der Lammbraten heute Abend roch nicht so wie sonst.“

Und Simon fragte: „Joe, wovon redest du?“

Und Joe wiederholte: „Vater, ein Engel des Herrn hat mich in meinem Raum besucht. Gerade eben.“

„Woher wusstest du, dass es ein Engel ist?“, erkundigte ich mich, „hatte er Flügel?“

„Flügel, ach Mutter, das hat man einfach gespürt“, sagte Joe, „seine Aura füllte den ganzen Raum. Er schien mir auf einmal so besonders. Irgendwie geheimnisvoll.“

„Deine Chaosbude?“, entfuhr es mir spontan. Fand Joe aber gar nicht so witzig.

„Ja, meine Bude“, sagte er, „und der Engel sprach über Maria und mich und das Kind, das sie gebären wird.“

„Wozu diese Eile?“, fragte ich, „ihr seid noch nicht einmal verheiratet.“

„Trotzdem“, meinte er, „sie ist schwanger.“

Ich dachte, ich hör’ nicht richtig. Was werden unsere Nachbarn sagen? Unsere Stellung in der Gesellschaft! Simon ist mit unserer Zimmerei doch von den Aufträgen abhängig.

„Joe“, sagte ich, „was hast du getan? Unmöglich. Du hast gesündigt.“

Und dann meinte Joe, er wäre gar nicht der Vater. Wurde ja immer besser.

Er berichtete, dass Maria ihm letzte Woche erzählte, dass sie schwanger sei. Und dass auch sie Besuch von einem Engel hatte.

Scheint ein Nest zu sein, dachte ich.

Na ja, jedenfalls hatte der Engel Maria wohl mitgeteilt, dass Gott sie dazu auserwählt hatte, die Mutter seines Kindes zu sein. Sie wird Gottes eigenen Sohn zur Welt bringen.

„Und das glaubst du ihr?“, habe ich ihn gefragt.

„So eine Blasphemie, so eine Gotteslästerung“, meinte Simon, „davon will ich nichts hören in meinem Haus.“

Aber Joe ließ nicht locker. „Vater, Mutter“, sagte er, „glaubt mir. Ich habe genauso reagiert wie ihr. Ich dachte wirklich, sie lästert Gott. Ich habe in den letzten Tagen an nichts anderes gedacht. Und heute Morgen habe ich entschieden, dass es das Beste wäre, wenn wir unsere Verlobung lösen würden. In aller Freundschaft.“

„Du fängst an vernünftig zu reden“, meinte Simon.

„Ich war mir meiner Entscheidung sicher“, sagte Joe, „bis zu dieser Nacht.“

„Der Engel“, fiel ich ihm ins Wort.

„Ja, Mutter“, erwiderte Joe. „Er sagte mir, dass alles, was Maria mir erzählt hatte, wahr sei.“

Er soll zu ihm gesagt haben: „Joseph aus dem Geschlecht Davids, habe keine Angst, Maria zu deiner Frau zu nehmen. Das, was in ihr wächst, ist vom Heiligen Geist. Sie wird einem Sohn das Leben schenken und du sollst ihm den Namen Jesus geben.“

„Was’n das für’n Name?“, fragte ich.

Und Joe wiederholte: „Der Engel sagte mir, ich soll ihn Jesus nennen, denn er wird die Menschen von ihren Sünden retten. Glaubt mir bitte. Ihr wisst doch, dass ich kein Lügner bin oder ein wilder Geschichtenerzähler. Bei meiner Ehre, ich erzähle euch die Wahrheit.“

„Hör auf, weiter so einen Blödsinn zu erzählen“, meldete sich mein Mann noch einmal sehr barsch zu Wort. „In diesem Raum will ich solche Gotteslästerung nicht mehr hören. Werd normal. Wenn du so weitermachst, wirst du deinen guten Ruf zerstören, deinen Platz in der Gemeinschaft verlieren. Du wirst ein Geächteter. Und für was? Für die Liebe einer Frau?“

„Nein“, unterbrach ihn Joe heftig, „für die Liebe meines Gottes.“

Und dann wandte er sich an mich: „Mutter, glaubst du mir?“

„Du verlangst im Moment zu viel, Joe“, antwortete ich. „Du bittest uns, etwas zu glauben, das unmöglich ist.“

„Basiert darauf nicht unser Glaube?“, warf Joe ein.

Und ich sagte ihm: „Wir brauchen Zeit.“

„Klar“, sagte Joe, „ich geh am Morgen zu Maria.“

Wahrscheinlich ist er jetzt schon bei ihr.

„Wir werden sehr bald heiraten“, meinte er, „ich hoffe sehr, dass ihr zur Trauung kommt. Ich hab euch lieb.“

Glauben Sie mir, dass ich danach kein Auge mehr zugemacht habe? Und jetzt sitze ich hier und frage mich, ob das wirklich passiert ist. Bekomme ich hier live mit, wie Geschichte geschrieben wird? Wie in der menschlichen Geschichte etwas passiert, das Einfluss auf viele, viele – wenn nicht gar alle weiteren – Generationen haben wird?

Ein Engel, bei uns im Haus, in Joes Chaosbude …?

(Mutter Martha geht langsam und kopfschüttelnd ab.)

THOMAS KLAPPSTEIN


4. Weihnachten mitten im November – wie wir im kalten Chicagoer Winter zu unserem Familienspruch kamen

Nach meinen ersten Jahren in Afrika – in Ghana, als Fußballtrainer und Missionar (in dieser Reihenfolge) – wohin ich damals in den 1950er Jahren vom CVJM in Deutschland ausgesandt wurde, um einen CVJM aufzubauen, zogen meine Familie und ich für ein Jahr in die USA, nach Chicago, um dort zu studieren. Meine Frau Karin, die finnische Zahnärztin, unsere beiden ersten Kinder (von später drei Kindern) und ich, Fritz Pawelzik, aus dem Herzen des Ruhrgebietes in Deutschland, aus Herne. Der CVJM hatte uns dafür ein Jahr Zeit gegeben und ein Stipendium für mich. Ich wollte in Amerika mehr über das menschliche Verhalten in Gruppen erfahren, während Karin gerne schwierige Kieferoperationen durchführen wollte. Sie hatte es nicht leicht. Mit ihr spezialisierten sich in einem kleinen Seminar ehrgeizige Zahnärzte, die sich in der Chicagoer Ambulanz eines Krankenhauses gegenseitig die schwierigsten Operationen nach Schlägereien und Autounfällen wegschnappten. Karin musste lernen, sich durchzusetzen. Morgens arbeitete sie in der Klinik und im Hörsaal, nachmittags in einem Hotel als Kellnerin. Zunächst wurde sie dort als Zimmermädchen angestellt, doch dann meinte ihre Chefin, sie könne mit ihrem freundlichen Wesen, ihren Sprachen und ihrer „Besteckkenntnis“ besser beim Servieren helfen. Also wurde sie dort tätig, wo sie mehr Trinkgeld als Lohn einnahm. Wenn sie am Abend nach Hause kam, wollte sie am liebsten ins Bett fallen. Doch da waren noch unsere Kinderchen, die nun endlich etwas von ihrer Mutter haben wollten. Tagsüber brachten wir sie im Hort und im Kindergarten unter.

Als ich nach Amerika kam, war ich eigentlich für ein Universitätsstudium gar nicht qualifiziert. Ich besaß kein Abitur. Doch ich hatte sehr viel gelesen und mich selbst weitergebildet. Als die Professoren mich abfragten und meinen IQ feststellten, meinten sie erstaunt: „Sie sollten eigentlich hier Ihren Master machen.“

Ich war sehr verblüfft. Voraussetzung für den Magister in Amerika sind mindestens fünf Jahre Studium, doch sie meinten: „Ihr Wissen und Ihre Erfahrung reichen schon. Wenn Sie sich voll einbringen, dann schaffen Sie es schon, und wir helfen Ihnen dabei.“

Ich versuchte es und besorgte mir Stapel von Büchern, die ich lesen musste. Ich saß in den Vorlesungen und verstand kein Wort. Erst einmal dieses amerikanische Englisch und dann auch noch die Fachausdrücke. Dauernd war ich mit meinem Wörterbuch beschäftigt, bei jedem Satz; denn ohne Nachschlagen bekam ich den Sinn nicht zusammen. Wenn ich den Satz verstanden hatte, dann musste der erst noch in den Zusammenhang des Kapitels, des ganzen Buches und des Faches gebracht werden.

 

Ich wollte schon aufgeben. Doch als ich sah, wie Karin sich für uns abschuftete, machte ich doch weiter. Arbeiten gehen musste ich aber auch. Im Schlachthof von Chicago, der nicht weit von uns entfernt lag, wurden Männer gesucht, die Rinderseiten aus den Kühlhallen in die Container schleppen konnten. Eine unangenehme und anstrengende Arbeit, aber sie brachte zusätzliches Geld.

Trotzdem reichte es nicht wirklich. Karin und ich nahmen bis auf die Knochen ab, doch für die Kinder hatten wir immer genug zu essen. Die Heizung konnten wir nur stundenweise anstellen, trotz des mörderischen Chicagoer Winters draußen, der bitterkalt bis in unser Zimmer kroch und Eisblumen über unsere Fenster zog. Eisblumen kennt man in den heutigen gut gedämmten Häusern und Wohnungen zumindest in Westeuropa kaum noch. Sie sind wie durchsichtige Bilder am Fenster. Sehen sehr schön aus. Aber in unserer Wohnung war es dabei so kalt wie im Kühlschrank.

Wir hausten als Familie zusammen in einem Zimmer, schliefen dort auf vier Matratzen. Außerdem gab es noch eine Kochnische mit einem Klapptisch. Dort arbeiteten Karin und ich abwechselnd und studierten. Ich war immer ganz früh morgens dran, während sie am liebsten am späten Abend ihre Aufgaben erledigte.

So rappelte auch an einem sehr frühen, eiskalten Novembermorgen mein Wecker.

Ich war natürlich noch nicht ausgeschlafen, wollte nicht aufstehen und es war bitterkalt. Trotzdem quälte ich mich hoch, stellte mich unter die eiskalte Dusche, um wenigstens richtig wach zu werden und einen klaren Kopf zu bekommen. Danach zog ich mich schnell warm an. Karin hatte uns bei einem Shop der Heilsarmee eingekleidet. Mit dem, was andere Leute aussortiert hatten – doch die Sachen waren noch sehr gut.

Wir wohnten in einem Studentenwohnheim der Baptisten. Um uns herum lebten fromme Leute, für die wir als Heiden galten, weil wir nicht ihre fromme Sprache redeten. Nicht die richtigen christlichen Vokabeln benutzten. Wer von den Studenten dort ebenfalls nicht so ganz dazugehörte, hielt sich an uns. Oft saßen bei uns welche herum. Besonders Schwarze, denen wir immer wieder von ihrer Urheimat Afrika erzählen mussten.

An diesem Morgen lag draußen dicker Schnee. Wie sollte ich Karin später zur Schule bringen, mit unserem uralten Auto, und rechtzeitig zur Klausur, die an diesem Morgen in Statistik geschrieben werden musste, in der Uni sein? Davor hatte ich sowieso Bammel.

Mit Frühstück war auch nichts. Das Brot, das noch da war, sollte für die Kinder sein.

Das Lernen für die Klausur wollte nicht gelingen. Ich wollte heulen, aber es kamen keine Tränen. Wo sollte Trost herkommen? Verzweiflung kroch in mir hoch.

Ich suchte nach einem leichteren Buch als die Unibücher. Dabei fiel mir ein kleines Heft in die Hand, das mir ein wohlmeinender Mensch in Deutschland geschenkt hatte: Die Losungen. Für jeden Tag des Jahres ein Spruch aus dem Alten und Neuen Testament und ein Liedvers. Dort hatte ich schon lange nicht mehr reingeschaut, weil ich es als zu simpel fand; es hatte keine Beziehung zu meinem Studium, meinte ich. Aber an jenem Morgen schlug ich die Losungen doch auf und suchte nach der entsprechenden Tageslosung. Und dann stand da auf einmal: „Siehe, ich habe vor dir gegeben eine offene Tür, und niemand kann sie zuschließen.“ (Zum Nachlesen im Neuen Testament: Offenbarung 3,8b.)

Ich schreckte auf. Das betraf mich, uns. Mich traf dieses Wort nicht im Kopf, sondern viel tiefer. Mensch, hoffte ich, wenn das wahr ist …

Auf einmal hatte ich das Gefühl: Das ist für uns geschrieben, für Karin, für die Kinder und mich. Dann sprang ich auf, lief zu Karin und weckte sie.

„Warum?“ Sie wurde böse. „Lass mich schlafen. Ich habe bis in den Morgen gepaukt, und Tina hat eine Erkältung, weshalb ich zweimal aufstehen musste.“

„Karin, wir haben eine Zusage. Es geht doch weiter!“, rief ich.

Sie verstand nicht. Aber sie kannte mich. Ich war immer der Optimist, der leicht zu Begeisternde in der Familie, bei dem auch schnell die Fantasie überschäumte. Deshalb war sie vorsichtig.

„Was ist denn nun?“, fragte sie.

Weil sie schnell weiterschlafen wollte und auch musste. Ich erklärte ihr das mit der Losung. Sie sah mich erstaunt an und begriff immer noch nicht ganz.

„Karin, ich werde mich darauf verlassen. Das ist eine Zusage. Du glaubst doch auch an Gott.“

„Aber nicht so“, antwortete sie.

Aber ich gab nicht auf: „Ich kann es nicht erklären. Aber wir machen es, wir verlassen uns darauf.“

Sie sah mich an und merkte, dass ich es ernst meinte.

„Ok“, antwortete sie.

Ich riss einen Zettel aus meinem Notizbuch und schrieb den Spruch in Druckbuchstaben darauf. Dann klebte ich ihn an die Wand vor mir, über den Klapptisch, und fing an zu pauken. Auf einmal ging es besser.

Der Tag und die Klausur verliefen gut.

Aber später, als wir gegen Abend zu Hause saßen, da fing es wieder an, trübe zu werden. Nicht nur draußen, sondern auch innen drin bei uns. Wir hatten wieder Hunger und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Wir saßen am Klapptisch, da wurde an unsere Tür geklopft. Sicher wieder einer von den Studenten, der etwas von uns wollte. Doch als ich öffnete, stand der Mann vor uns, der Beamte, der in New York die Sache mit dem Stipendium entschied. Seine kühlen Briefe, mit denen er eine Erhöhung abgelehnt hatte, hatten in uns keine angenehmen Gefühle geweckt.

Doch jetzt stand er in unserem Zimmer und trug zwei große Einkaufspapierbeutel im Arm, wie sie in den USA üblich sind. Er begrüßte uns freundlich, hatte aber keine Zeit, sich zu setzen, weil er gleich noch zu einer Sitzung der Universität musste.

„Ich bin nur mal eben hier vorbei gekommen“, sagte er, „auf dem Weg vom Flugplatz. Da habe ich auch noch etwas eingekauft, damit Sie sich einen netten Abend machen können.“

Auf einmal war es so wie Weihnachten. Und er war der Weihnachtsmann, mitten im November. Er stellte für mich eine Whiskeyflasche auf den Tisch und eine Flasche Sekt für Karin. Aber er hatte auch daran gedacht, dass wir Hunger hatten. Es gab Brot, Butter, Käse und Wurst. Für die Kinder Süßigkeiten. Sogar eine Kerze hatte er mitgebracht, damit es ein wenig feierlicher in unserer Wohnung werden würde. Ehe wir alles so richtig begriffen, war der Mann auch schon wieder weg.

„Das ist heute das zweite Geschenk“, sagte ich. Nun nickte auch Karin.

Wir wollten gerade mit dem Feiern beginnen, hatten den ersten Schluck schon intus und uns freundlich zugeprostet – Karin mit ihrem Sekt, ich mit dem Whiskey – da wurde wieder an unsere Tür geklopft. Aber dieses Mal kam nicht ein neuer Weihnachtsmann, sondern ein Student, der genauso wenig besaß wie wir. Der feierte mit. Dann holte er noch einen „armen Hund“, und bald war unsere Bude voll, die Flaschen leer und das Brot und der Belag in den Mägen verschwunden. Nachdem Karin noch reichlich für die Kinder reserviert hatte.

So haben wir also unseren Familienspruch kennengelernt. Den von der offenen Tür.

Und er hat sich immer wieder bewahrheitet. Türen sind immer wieder aufgegangen, hinter denen sich gute Wege und tolle neue Horizonte eröffnet haben.

FRITZ PAWELZIK


5. Torgaans Lieblingslied

Nieselregen, Anfang Dezember, schmieriger Belag auf den Straßen. Der Parkplatz ist überfüllt, aber es gibt noch eine winzige Lücke. Stefan Berger spannt den Schirm auf und hastet zu einem Gebäude: Backsteingotik in feuchtrot.

Warten vor dem Gittertor. Das elektronische Auge leuchtet auf, schickt sein Bild an die Pforte. Summton, Eintritt erlaubt. Die Tür öffnet sich.

Er geht ein paar Schritte weiter, während ein Rinnsal von seinem Schirm in die Schuhe tropft. Wieder eine Klingel und wieder der Summton. Ein Warteraum mit Glaswand in der Mitte. Bestimmt kugelsicher. Es riecht nach Leberwurst und Punsch.

„Guten Tag, ich möchte zu Ronald Torgaan. Ich heiße Stefan Berger. Mein Besuch ist angemeldet.“

Der Mann hinter der Scheibe nickt. Zwei neugierige Augen unter einer Schirmmütze.

„Schieben Sie bitte Ihren Personalausweis durch!“

Sein Gesicht wird geprüft.

„Gehen Sie quer über den Hof zu Gebäude B und klingeln Sie noch mal.“

„Und mein Perso?“

„Der bleibt so lange hier.“

Es kommt ihm seltsam vor, dass man ihm, dem unschuldigen Bürger, den Ausweis abnimmt, aber mit einem Achselzucken geht er ausweislos den vorgeschlagenen Weg bis zu Gebäude B. Von einer Platane tropft es auf den Kies. Zwei Männer stehen unter einem Dach und rauchen, blicken ihm nach. Einer grinst. Gebäude B ist ein Zementquadrat, das von grünen Gittertoren abgeschirmt ist. Sechs Meter hoch. Keine Chance, darüber zu klettern. Aber immerhin grün. Zum dritten Mal klingelt er. Es knattert.

„Ja?“ Die Stimme aus der Sprechanlage presst sich durch die Wand.

Er wiederholt seinen Vers.

„Warten Sie, der Pfleger kommt gleich.“

Zwei Minuten später kommt ein Mann. Normal angezogen, hätte genauso gut Busfahrer sein können. Schlüsselklirrend öffnet er.

„Na, dann kommen Sie mal mit!“

Wieder eine Tür, die aufgeschlossen werden muss, danach eine zweite.

Als ob man einen Raubtierkäfig betritt.

Endlich in der Cafeteria, eine Insel im Meer der Schlösser, in der noch andere Straftäter mit ihren Gästen sitzen. Fenster mit Gardinen im schwedischen Stil.

Ein Paar weiter hinten ist im Dauerkuss erstarrt. Der Pfleger nimmt ihm den Regenschirm ab.

„Nur zur Sicherheit. Sie bekommen ihn nachher wieder.“

Ein Mann steht auf und kommt auf ihn zu. Mittelgroß, mager, mit einem hungrigen Blick, schwarze Haare, glatt rasiertes Gesicht.

„Hallo, Herr Berger, ich bin Ronald Torgaan. Wir haben telefoniert.“

Berger erkennt die geschmeidige Stimme. Kurzer, trockener Händedruck. Sie setzen sich.

„Ich habe Kaffee für Sie gemacht. Sie … trinken doch mit?“

Berger nickt.

„Klar. Aber nur mit Milch, ohne Zucker.“

Torgaan gießt aus der Thermoskanne den zweiten Becher ein und sagt: „Schön, dass Sie gekommen sind. Sie sehen wie ein echter Sozialpädagoge aus: Dreitagebart, nachlässige Kleidung. Perfekt.“

Berger grinst.

„Bin aber mehr in der Verwaltung.“

„Also kein direkter Kundenkontakt nach draußen?“

„Ab und zu. Aber ich mache normalerweise keine Betreuungsarbeit vor Ort.“

„Liegt Ihnen das nicht?“

Der Mann ist sozial ausgehungert. Lechzt förmlich nach persönlichen Infos.

„Nein“, sagt Berger, „was ich auf dem Amt sehe, reicht mir.“

„Und ich?“, fragt Torgaan, „bin ich kein Kontakt nach draußen?“

„Ja, schon, ich … bin mehr als Privatperson hier. Hab mich jedenfalls am Telefon von Ihnen breitschlagen lassen, Sie einmal im Monat zu besuchen. Ich bin Ihr … sagen wir mal … Ihr Realitätsbezug, Ihre Verbindung zur Außenwelt. Mehr ist nicht drin.“

Torgaan lacht laut auf, sodass sich zwei Besucher umdrehen. Einer der Pfleger blickt zu ihnen herüber.

„Mehr ist nicht drin? Aber das ist mehr, als ich erwarten kann. Das ist fantastisch! Die meisten, die ich anrufe, um einen Kontakt aufzubauen, lassen mich abblitzen:, Tut mir leid’, sagen sie, ,Maßregelvollzug, das ist eine Nummer zu groß für mich.’ Mein letzter Kontakt war ein Pastor. Der ist weggezogen. Und Sie sind gekommen! Ich muss halt nehmen, was ich kriegen kann. Glauben Sie an Gott?“

Berger ist verblüfft. Diese Frage mitten aus dem Zusammenhang gerissen! Er wirft den Ball zurück.

„Glauben Sie an Gott?“

„Klar. Anders kann man diese Scheiße hier doch nicht ertragen, oder? Jedenfalls, ich finde es klasse, dass Sie da sind und mich nachher zum Gottesdienst begleiten.“

Sie trinken wie auf Kommando einen Schluck Kaffee. Berger fühlt sich etwas besser.

„Können wir nicht auf das Du übergehen?“, fragt Torgaan plötzlich. „Ich finde das auf die Dauer einfacher. Ich bin Ronald.“

 

Er streckt ihm die Hand hin.

Berger ist überrascht, fühlt sich überrumpelt.

Eben noch ein Kompliment bekommen und gleich danach: noch mehr Nähe. Ob das Strategie ist? Und wenn schon, früher oder später wären wir vermutlich doch beim Du gelandet.

Er schlägt ein. Halbherzig.

„Okay. Ich bin Stefan.“

Stefan sei vorsichtig! Der Kerl ist raffiniert. Du weißt, dass du zu weichherzig bist. Du bist nicht umsonst in der Verwaltung. Also, das Gespräch bestimmen.

Sie reden über alles Mögliche: Essen, Sport, Frauen, Politik. Stefan blickt unauffällig auf die Uhr.

„Ich glaube, es ist Zeit.“

„Ach ja, der Adventgottesdienst. Schön, dass du mitkommen willst. Obwohl ich immer noch nicht weiß, ob du an Gott glaubst.“

Berger lächelt.

„Ja, ich glaube schon an Gott, muss ja was geben, aber bin eher der nüchterne Typ. Mit den Wundergeschichten habe ich so meine Probleme. Man muss die Bibel so stehen lassen und kann nicht alles eins zu eins übertragen. Das finde ich naiv.“

„Hm, dazu fällt mir eine Menge ein. Ist aber egal. Gehen wir.“

Der Weg schlängelt sich an einem künstlichen See vorbei und endet an einer kleinen neugotischen Kirche. Drinnen riecht es nach nassen Haaren und nach etwas Süßem. Der Raum ist gut gefüllt. Es soll nachher Punsch und Kekse geben. Dezente Beleuchtung. Ein riesiger Adventskranz schwebt über dem Altar an einer Kette. Zwei Kerzen brennen. Die elektronische Orgel setzt ein. Der Organist, einer der Insassen, spielt I‘m dreaming of a white Christmas. Der Pastor im Talar geht nach vorne, begrüßt alle und sagt dann:

„Lasst uns das Eingangslied singen, es ist wohl das bekannteste Adventslied: Macht hoch die Tür.

Die Orgel variiert den Anfang, verliert sich in abstrusen Akkorden und findet wieder zurück. Dann fangen alle an zu singen. Nach den ersten zwei Zeilen wird es unruhig. Einige stoßen sich an, Gemurmel schwebt über den Bankreihen, ein paar Männer lachen verhalten, bis einer prustet. Eine Frau lacht schrill auf und gackert. Wie Wellen pflanzt sich das Lachen fort, bricht sich an den Wänden, schlägt zurück. Ein Meer aus Lachen.

Der Pastor ist konsterniert, macht stumm den Mund auf, schließt ihn wieder. Dann steht er auf, dreht sich halb empört, halb fragend um. Irritiert hört der Orgelspieler auf.

In das Schweigen hinein fragt der Pastor: „Ist irgendetwas passiert?“

Schweigen, das von ein paar leisen Glucksern durchsetzt ist.

Schließlich schiebt sich ein dicker, bulliger Kerl durch die Bankreihen und geht nach vorne.

„Also, das ist so, Herr Pastor. Nichts für ungut, aber dieses Adventslied ist spontan ab heute unser Lieblingslied geworden.“

Der Pastor hebt fragend die Schulter.

„Na ja“, sagt der Dicke und reibt sich die Hände. „Es ist ja nicht einfach, hier reinzukommen und auch nicht einfach, wieder rauszukommen – für uns. Nicht für Sie. Und dann lassen Sie heute das Lied singen: Macht hoch die Tür. Tja, das ist uns sozusagen aus dem Herzen gesungen. Wir wollen nämlich alle, dass die Türen endlich hochgehen und aufgehen und die Tore sich weit in den Angeln drehen und die Schlüssel in den Schlössern klingeln. Das ist Musik in unseren Ohren und das hat uns eben so … so fröhlich gemacht. Wir haben gar nicht gewusst, dass die alten Kirchenlieder von unseren Wünschen handeln. Und vielleicht hat dieser Typ, der das Lied gedichtet hat, nicht direkt an uns gedacht, aber der Song hat bei uns eingeschlagen. Und wir denken alle daran, dass irgendwann diese Tore für uns aufgeh’n werden, für den einen früher, für den anderen später. Stimmt doch, Leute, oder?“

Fast alle trampeln mit den Füßen. „Ja, und deswegen mussten wir alle lachen. Nichts für ungut, Herr Pastor.“

Der Gottesdienst nimmt seinen Lauf, aber er ist anders als sonst. Eine leichte, fröhliche Stimmung liegt über dem Ganzen, selbst die Kerzen scheinen heller zu brennen, als ob Gott beschlossen habe, dass die offenen Tore das Wichtigste im Advent seien.

Hinterher, nach dem Orgelnachspiel, das sich aus Macht hoch die Tür und Ins Wasser fällt ein Stein zusammensetzt, in einem anderen Rhythmus und mit seltsamen Akkorden, gibt es noch Kekse, Käsestangen und Punsch ohne Alkohol.

Stefan Berger macht auf Small Talk, fühlt sich unwohl und ärgert sich, dass Ronald Torgaan ihn als „meinen Sozialarbeiter“ vorstellt, und sich über sein neues Lieblingslied kaum beruhigen kann.

Sie verabschieden sich und Torgaan fragt gleich nach dem nächsten Termin. Stefan wiegelt ab: „Ich ruf dich an.“

Er geht zur Cafeteria und bekommt seinen feuchten Schirm zurück. Der gleiche Ritus beginnt von neuem, nur umgekehrt: verschlossene Türen, klirrende Schlüssel, offene Türen. Die Elektronik macht die Türen hoch und die Tore weit. Gang über den Hof, die Raucher sind verschwunden, Ausweis zurück, zweimal Summton. Die letzte Tür geht auf.

Noch nie ist ihm die Freiheit so groß geworden, als er jetzt über die Schwelle tritt. Die alten Texte! Das Lied ist eine Nachdichtung von Psalm 24, so hat es im Gesangbuch gestanden.

Sein Weltbild, in dem Wunder keinen Platz hatten, ist erschüttert worden. Und als das Tor hinter ihm ins Schloss fällt, denkt er: Vielleicht eine gute Erschütterung.

ALBRECHT GRALLE

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