Wir leben weiter ins Ungewisse

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Briefe von Annemarie Techand (1917–1996), Kunsthandwerkerin. Der erste Brief geht an ihre Mutter, der zweite an Mutter und Schwester. Im Februar 1945 aus Danzig geflohen, sind Mutter und Schwester in Lüchow bei Verwandten untergekommen, während Annemarie und ihre Freundin Friedel in Hildesheim, Niedersachsen, landeten.

Annemarie Techand ist 1945 achtundzwanzig Jahre alt.

Hildesheim, d. 4.3.45

Liebe Mutti!

Heute will ich mal an Dich einen Brief schreiben. Bis jetzt schrieb ich ja immer nur Hanna. Ja, heut ist Hannuschs Geburtstag und wir sagten schon vorhin, wäre alles so gekommen, wie man es sich dachte und wir hätten nach Hause fahren können, hättest Du heut sicher das letzte Glas Erdbeeren zur Torte aufgemacht. So knabberten wir zwei übriggebliebene Pfefferkuchen von Weihnachten und mussten auch zufrieden sein. Ob ihr euch einen Kuchen habt backen können? Ja, mit der Ernährung, das wird jetzt schwierig. Es gibt jetzt kein markenfreies Stammgericht mehr, Gas haben wir noch keins zum Kochen (haben es aber schon beantragt) und Kartoffeln haben wir auch keine, da hat Friedel die Marken dummerweise im Rosenstock abgegeben, wir wollen sie uns aber wiedergeben lassen. Sicher können wir noch von Frau Fezaruk welche erben, sie hat uns ja immer welche gegeben. Friedel hat immer dollen Hunger, mit mir geht’s. Und meine schönen Zusatzmarken fallen auch weg. Nur noch ein paar Liter Milch haben wir. – In unserer neuen Wohnung ist es sehr nett. Heute haben wir zwar sehr gefroren. Die Gasheizung ging erst nachmittags anzustellen, war vormittags ganz schwach nach den gestrigen Bombenabwürfen. Gut, dass uns Friedel vorgestern Nachmittag auf der Polizei anmeldete, gestern stand sie schon nicht mehr. Am 24., als wir entlassen wurden, schmissen sie paar dicke Bomben auf Hildesheim. Es gab dreihundert Tote und einige der schönsten alten Straßen sind hin. Ja, die Hildesheimer waren leichtsinnig. Jetzt sind die Stollen überfüllt, schon, wenn gar nichts los ist. Gestern Abend war es beängstigend, so wahnsinnig überfüllt, dass wir jetzt nicht reingehen wollen, sondern im Splittergraben4 vorm Haus bleiben, oder in den Wald gehen. Heute war nun den ganzen Tag kein Alarm, das ist wie ein Geschenk. Unsere Wäsche haben wir gar nicht trocken bekommen, d. h. die Bettwäsche schon, die haben wir heute aufgezogen, Friedel hat heut Vormittag geplättet, ich blieb im Bett und nähte. Bis jetzt schliefen wir zusammen in »roten«5! Man kommt sich so verwahrlost vor. Eine Zeitlang war kein Wasser, oft kein Licht! Meine Haare sind seit Danzig nicht gewaschen. Die Klamotten vom Umziehen verknüllt und nicht in Ordnung. Der ewige Schieß-Alarm. Jetzt ist auch noch mal solch ein scheußliches, kaltes Mistwetter! Friedel schimpft so wegen der Wäsche. Der Trockenplatz ist zwischen niedrigen Obstbäumen, dass die großen Stücke immer an die Zweige anschlagen und ganz dreckig werden. Wir haben uns so geärgert. Tante Dora hätte wohl nicht einmal Bettwäsche für mich zum Wechseln? Ihr lasst gar nichts von Euch hören. Schreib mir doch gleich, ob Du lieber dicke oder dünne Schlüpfer oder Strümpfe auf Deine Karte haben möchtest! Hat Vater mal geschrieben? Ich will mal jetzt an ihn schreiben. – Machst Du jetzt dort den Haushalt, Muttchen? Sicher doch. Aber Du hast ja Hanna zur Hilfe. Am liebsten möchte ich manchmal meine Sachen packen und auch zu Euch kommen. Aber ihr habt sicher schon knapp Platz und was sollte ich dort arbeiten? Ich bin so froh, dass ich mit Friedel zusammen sein kann und ihr seid wenigstens auch zusammen! Nun schreibt mir bloß bald mal. Hoffentlich sind die zwei Päckchen und Hannas Geburtstagsbrief schon da?

Nun allerherzlichste Grüße, mein liebes Muttichen, auch an Hanna und Familie und Onkel Ernst und Tante Dora von Deiner

Annemie.

Oedelum, d. 24.3.45

Meine liebe Mutti, liebe Hannusch!

Ich hab kein anderes Briefpapier hier, also nehmt mit diesem vorlieb! 6 – Ja, da kann man mal wieder Geburtstag feiern.7 Ihr habt doch bestimmt vom Groß-Angriff auf Hildesheim8 gehört und gelesen – und macht Euch nun Sorgen um mich. Ja, die wunderschöne Stadt haben die Schweine gestern völlig ausradiert. Es ist alles so traurig und schrecklich. Und was hatten wir für ein Glück!! Die Karte, auf der ich Euch schrieb, dass Krolls 9 am Sonnabend in Hildesheim ankamen, habt Ihr doch bekommen? Es war schlimm, mit den Kindern auf den Galgenberg und in den Stollen laufen bei dem vielen Alarm. Darum versuchten wir so schnell es ging mit ihnen rauszukommen. Gestern früh um ½ 6 (gleich nach dem Alarm) fuhren wir los. Die NSV10 hatte sie nach Oedelum verwiesen. Bis Garbolzum (12 km) fuhren wir mit der Bahn und mussten dann 5 km laufen. Wir hatten furchtbar viel zu schleppen. Es war solch ein wunderschönes Wetter wie selten. Krolls bekamen dann hier drei schöne Zimmer in einem großen Bauernhof. Die Bäuerin ist sehr nett. Eine richtige alte, weißhaarige Niedersachsen-Bäuerin, wie man sie sich vorstellt. Und ein Essen gibt es, fabelhaft!! Heute einen Pudding mit so viel Eiern und Schnee! Eben sind wir von einer Ausfahrt zurückgekommen. Frau Brandes musste zum Zahnarzt nach Hoheneggelsen und nahm Friedel und mich mit. Es war herrlich so durch die Felder zu fahren. – Ja, und als wir gestern Nachmittag wieder nach Hildesheim fahren wollten, erlebten wir um 14 Uhr den Angriff auf Hildesheim. Wir saßen ganz verstört auf der Landstraße unter einem Baum und sahen, wie sie das Rauchzeichen zum Angriff auf Hildesheim setzten. Die Flugzeuge machten einen weiten Bogen und flogen auf Hildesheim zu. Und dann gings los! Ganz schrecklich! Man konnte bis hierher sehen, wie es rauchte, und nachts den roten Himmel. Der Zug aus Garbolzum ging pünktlich los und wir mussten noch doll rennen. Wir wollten doch sehen, ob unser Haus noch steht, und, falls was zu retten ist, holen. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie das aussah, als das so brannte, der Zug fuhr bloß bis an den Stadtrand und wir rannten außen rum, in die Stadt kam keiner rein, alles ein Flammenmeer. Ganz verdreckt vom Rauch, Ruß und Löschwasser langten wir an unserm Haus an. Es stand noch! Bis auf Fensterrahmen usw. Wir borgten uns von unserm Nachbarn einen schönen Handwagen und packten schnell Krolls restliche Sachen in ihren Seesack und unsere Sachen in Rucksäcke und Taschen, so viel wie rauf ging, und hauten ab. Bloß raus aus dem Hexenkessel. Gut, dass wir noch umzogen, die Vio[unleserlich]str. ist hin. Wer weiß, wen wir noch von all unsern Bekannten wiedersehen? – Wir sind dann gestern um 18.30 aus Hildesheim raus und waren um 22 Uhr in Oedelum (22 km). 35 km Tagesleistung spüren wir erst heute. Morgen müssen wir nun noch mal rein und Zeug holen. Hoffentlich geht’s mit der Bahn. Friedel und Herr Kroll sind eben zur NSV, ob wir beide auch hier bleiben können, in Hildesheim ist doch keine Arbeit mehr. Wenns bloß klappt!

Sonntag: Gestern bin ich gar nicht mehr zum Schreiben gekommen. Friedel, Herr Kroll und ich fuhren mit einem Lastauto, das aus Hildesheim hier war, nach Hildesheim und nahmen den Handwagen mit. Dann luden wir dort den Handwagen proppenvoll und marschierten wieder nach Oedelum. Diesmal mussten wir uns mehr anstrengen. Die Last war zu schwer. Herr Kroll hatte mit dem Marschieren allein zu tun und konnte nicht mal schieben oder ziehen! – Wir bekamen in einer Groß-Sammelstelle einen Umquartierungsschein hierher, Flüchtlingsschein auch. Frau Brandes will uns ab Mittwoch hier auch ein Zimmer geben. Dieses ist aber nach Ansicht der anderen drei zu schön für uns. Lieber möchten wir ja auf einen anderen Hof, trotzdem es einfach herrlich ist, aber immer mit allen zusammen … Na, wir werden sehen. Schlimm ist es nur, wenn man keine richtige Arbeit hat. Friedel hatte so schön in Hildesheim angefangen. – Fr. Fezaruk hat alles verloren. Unsere Schule ist platt mitsamt unseren schönsten Arbeiten, die man uns wegnahm. Habt ihr das Paket für Karli11 bekommen? Vielleicht kann ich bald wieder mal was schicken. Jetzt brauche ich ja keine Marken mehr! Uns geht’s im Essen ja sooo gut! Noch kocht die Bäuerin für uns. Später soll das Christel12 machen. Nun seid allerherzlichst gegrüßt und geküsst von

Eurer Annemie.

Nach ihrer Ausbildung zur Werklehrerin in Hildesheim arbeitete Annemarie Techand als Grafikerin für Zeitschriften, später freischaffend als Keramikerin und Malerin. Sie zog nach Kiel, eine Stadt an der Ostsee wie ihre Heimatstadt Danzig.

T agebuch von Elisabeth Rautenberg (1899–1982), geborene Brandes, verheiratet mit Wilhelm Rautenberg (1893–1974), Superintendent. Das Tagebuch enthält ungewöhnlich viele Details und Namen, die nicht alle zugeordnet werden konnten. Sie zeigen das große Interesse der Autorin an ihrem sozialen Umfeld.

Elisabeth Rautenberg ist 1945 sechsundvierzig Jahre alt.

Aufzeichnungen für unsere Kinder

Karfreitag, den 30. März, mehren sich die Alarmnachrichten über den Vormarsch der Amerikaner, sie werden dicht vor Kassel gemeldet, und man rechnet mit einem baldigen Eintreffen, auch von der Weser (Holzminden) und Paderborn kommen beunruhigende Meldungen. Die Dorfbewohner13 suchen sich Verstecke für ihre Lebensmittel und Wertsachen. Wir haben noch nichts vorbereitet, abends wickeln wir das Silber noch ein.

 

Sonnabend, der 31. März, weicht doch schon ab von seinen Vorgängern der letzten Jahre. Grete14 fährt nach Northeim, um unser Fleisch zu holen. Nicht enden wollende Schlangen vor den Schlachtereien, Bäckereien und Lebensmittelläden, alle kaufen die Waren für ihre restlichen Marken. Tiefflieger greifen die Stadt an. Nachmittags roden wir auch Büchsen bei,15 eine Tonne im Gemüseloch draußen und einen alten Dämpfer hinter dem Pfirsich unter der Komposterde. Abends gegen 8 Uhr kommt regelmäßig ein Tiefflieger unsere Strecke entlanggeflogen, »U.v.D.«16 oder »Bacharach« nennt man ihn, er greift Züge und Lastwagen auf der Straße an.

Am 1. Ostertag, den 1. April, weckt uns um 6 Uhr schon das Telefon, Herr Missionar Scheile war zum Schanzen17 aufgerufen, kurz vor 8 Uhr meldet sich Herr Harnack, auch er muss zum Schanzen und kann seinen Gottesdienst nicht halten. Große Not, Vater hat den Gottesdienst in Moringen übernommen, absagen dort ist unmöglich, weil keine Verbindung zu bekommen ist. Was hilft es, ich muss mich schnell vorbereiten und Lesegottesdienst halten; schade, die Kirche war sehr gut besucht. Die Männer vom Volkssturm waren allerdings auch zum großen Teil zum Schanzen vor Northeim. Auf der Höhe von Fuchsbäumen wurde eine Panzersperre gebaut, an der Straße entlang im bebauten Acker Schützengräben. Vater fährt anschließend in Schnedinghausen vor. Der Tag ist, wie alle die Tage vorher, unterbrochen durch Fliegeralarm. Auf den Straßen reiht sich Auto an Auto, bei uns trinkt ein Wiener nachmittags Kaffee. Mutter und ich gehen noch kurz zu Kaufmanns, die ganz erstaunt sind, dass wir Zeit haben zum Besuche machen. Sie rechnen nach den neuesten Gerüchten damit, dass Hohnstedt – das seit einigen Tagen zum Kriegsgebiet gehört – Kampfgebiet wird und geräumt werden muss; sie verstauen in genähten Rucksäcken die nötigsten Sachen. Auf uns greift diese Unruhe und Aufregung nicht über.

Am 2. Ostertag hält schon früh ein Auto vor unserem Tor, das repariert werden muss. Die beiden Soldaten holen wir uns zum Kaffee und Mittagessen. Sie kommen aus einem Kessel bei Corbach. Ein Spieß ist der oberste Führer ihrer auseinander gesprengten Truppe. Das Dorf gleicht einem Heerlager, einzelne Autos und Kolonnen jagen hin und her, Flüchtlinge mit Karren, Wagen und Rädern kommen die Straße entlang, ein trauriger Anblick. Wir sahen nicht so viel davon wie die Anlieger der Straße. Nachts wachen wir auf von dem Geknatter der Tiefflieger, die die Kolonnen angreifen.

Der Dienstag sieht uns bei fleißigem »Beiroden«. Vater entdeckt unter dem Badezimmerfenster die Möglichkeit, unter dem Fundament eine Höhlung zu schaffen, in der wir Wilfrieds Offizierskoffer mit Silber, Schmuck, etwas Wäsche und Wollsachen stellen. Unsere Tonne aus dem Gemüseloch buddeln wir wieder los und verstauen sie mit noch einem Koffer und einem Schmalztopf im letzten Holzstall hinten an der Südwand. Der Volkssturm und alle Ausländer, auch die Arbeiter vom Zementwerk, müssen wieder zum Schanzen. Auf die Vorstellungen der Bauern, dass alle Bestellungsarbeiten liegen bleiben, kommt die Antwort: Schanzarbeit geht vor Feldarbeit, Northeim wird zur »Festung« gemacht.18 Friedel Albrecht muss mit seinem Motorrad als Melder zum Kampfkommandanten. Abends kommt Herr Harnack und erzählt von den ungeheuren Zerstörungen der letzten Luftangriffe auf Hannover. Alle Fabriken sind bis auf die Grundmauern vernichtet.

Am Mittwoch, dem 4. April packen wir Bücher, Betten, Wäsche ein und schaffen sie ins Archiv. Gegen Mittag kommt Auguste19 ganz aufgeregt, Albert ist verwundet. Er war mit zur Zuckerfabrik, wo noch Schnitzel20, die bei dem ersten Angriff nicht verbrannten, abgefahren werden sollten. Bei Voralarm kam ein Angriff auf den Bahnhof, bei dem auch die Zuckerfabrik wieder getroffen wurde. Es gab einige Verletzte, die wild gewordenen Pferde wurden z. T. erst in Moringen wieder aufgefangen. Die Schwellentränke21 diesseits des Bahnhofs brennt, der Zugverkehr ist wieder unterbrochen. Die Schanzer vor Northeim kommen mit dem Schrecken davon. Mittags kommt ein Brief von Wilfried vom 22. März. Diese Freude und doch gleich wieder das bange Fragen, wo mag der Junge nun stecken? Autos rasen hin und her, man kann sich gar kein klares Bild machen, die unmöglichsten Gerüchte über die Front an der Weser laufen durch das Dorf. Die meisten Dorfbewohner sind von einer manischen Aufregung und Unruhe erfasst.

Am Donnerstag, dem 5. April fährt Grete früh nach Northeim, um Fleisch zu holen. Tiefflieger greifen wieder den Bahnhof und Züge an, bei Schnedinghausen wird ein Munitionszug getroffen. Es wird weiter geschanzt. Wir schaffen auch die kirchlichen Nebenbücher und unser Zeug in den Keller, da die Möglichkeit, dass Hohnstedt auch Kampfgebiete wird, immer größer wird. Die Gemälde usw. kommen ins Archiv. Abends junge Mädchen [zur Aushilfe] im Wohnzimmer, der U. v. D. fliegt wieder seine Runde.

Am Freitag, dem 6. April neue Aufregung. Der Volkssturm muss am Nordeingang des Ortes bei Reuters Scheune eine Panzersperre bauen. Gegen Mittag kommt der Gegenbefehl: Abbrechen, bei Kirleis wieder beginnen. Große Aufregung in der Gemeinde, was hat das zu bedeuten? Die Spannung steigert sich ungeheuer. Die Nachrichten von Kassel und der Weserfront sind sehr dürftig, aber tolle Gerüchte schwirren hin und her. Gut, dass wir so wenig ins Dorf kommen.

Der Sonnabend bringt für Northeim und Einbeck schlimme Szenen. »Ausverkauf« in den Läden, Stoffe und alle möglichen Sachen, die bis jetzt nie zu haben waren, werden verkauft. Die Menschen drängen sich zu Tode, die Verpflegungsämter der Wehrmacht werden geräumt und gestürmt, wertvollste Lebensmittel bedecken die Straßen. Reis, Erbsen, Graupen, Zigarren, Zigaretten werden zertreten. Wein, Cognac werden in solchen Massen verteilt, dass Soldaten, Zivilisten, Polen sinnlos betrunken sind. Wertvollste Sachen, die bei zweckmäßiger Verteilung für lange Zeit reichen könnten, werden verschleudert und zum großen Teil sinnlos vernichtet. Mittags kreisen Zweirumpfmaschinen über Northeim und greifen die Stadt an, geringe Schäden. Nachmittags pflanzen wir Kartoffeln und beobachten dann kurz vor 18 Uhr, wie drei Mal sechs Bomber Northeim zwei Mal anfliegen, ohne Bomben zu werfen. Aber als sie dann zum dritten Mal ankommen, ausgerichtet wie beim Manöver in niedriger Höhe, krachen die Bomben. Sie verschwinden nach Westen, kommen wieder und wieder und laden ihre Last ab. Oben vom Boden konnten wir die ungeheuren Brände aufsteigen sehen. Die Amerikaner hatten Maßarbeit geleistet, wie wir nachher hörten: Der Bahnhof mit Gebäude, die Überführungen, die Schwellentränke nach Süden, die Strecke bis über Sudheim hinaus, und vor allen Dingen mehrere Munitionszüge auf dem Bahnhof waren zerstört, die vollen Eisenbahnwagen waren auf den Kopf gestellt. Die Stadt an und für sich blieb unversehrt bis auf die Nähe des Bahnhofs und zersprungene Fensterscheiben. Dieser Angriff brachte uns die Trennung von der Umwelt, kein Licht, keine Eisenbahn, keine Zeitung, keine Post mehr. Nun hören wir nichts mehr von unseren lieben Kindern, und wir können ihnen auch nicht mehr schreiben, wie schmerzlich. Durch den Wegfall des Stroms gibt es auch kein Radio mehr, jetzt sind wir nur noch auf Gerüchte angewiesen. Viele Menschen schlafen schon im Keller oder ziehen sich nicht mehr aus. Flieger brummen Tag und Nacht, Entwarnung gibt es nicht mehr. Wir sind ganz ruhig in der Gewissheit, dass Gott unsere Stunde bestimmen wird. Abends hören wir im Westen und Nordwesten Artilleriefeuer und sehen das Mündungsfeuer der Geschütze. Versprengte Soldaten kommen durch unser Dorf.

Der Gottesdienst am Sonntag wurde in aller Ruhe noch gehalten, mittags wird bekannt gemacht, dass nachmittags Zucker abgegeben wird, für die Person zehn Pfund. Um 3 Uhr hört man plötzlich unsere Klingel wieder im Dorf mit dem Ruf »Panzeralarm«. Auguste kam aufgeregt angelaufen, Boshusens und wir schaffen noch viel in den Keller, auch Stühle kamen jetzt nach unten. Aber es erfolgte nichts, alle möglichen Gerüchte tauchen auf: Die Panzer wären von Einbeck nach Gandersheim abgebogen und in Northeim nach Katlenburg. Die Panzersperre ist nicht fertig geworden, die Bauern sind sich alle einig, dass eine Verteidigung des Dorfes sinnlos ist. Um 6 Uhr schicken Steinhoffs, dass eine Sonderzuteilung ohne Marken erfolgt: Graupen, Erbsen, Kunsthonig, Kandis, Salz und Seife. In dieser Nacht gehen die wenigsten Menschen ins Bett, überall im Westen Artilleriefeuer.

Wir legen uns zu Bett und werden am Montagmorgen um 6 Uhr durch einen gewaltigen Knall geweckt, den wir uns nicht zu erklären wussten. Heftiges Reden und Schelten klang von der Straße her. Vater zog sich an und ging hin. Was war geschehen? In der Nacht hatten Unbekannte auf der Brücke über die Holze und vor Seeger-Frankens Hause eine Minensperre gelegt. Ein deutscher Lastwagen hatte eine der Minen berührt und war am Kühler beschädigt, ein Schutzblech fanden wir in unserem Garten. Es gab nur einige Verwundete. Kirleis Haus und Herr Kienes Bude büßten an der Westseite die Fenster ein, in den Giebel wurden Löcher gerissen. Alle möglichen Verdächtigungen wurden ausgesprochen, aber das Geheimnis ist nicht gelüftet. Von Northeim aus wurden die Minen fortgeräumt, wie viele Menschen hätten dabei zu Tode kommen können? Die Verpflegung von dem Auto wurde zum Teil an alle (Butter), zum Teil an die Evakuierten (Ölsardinen, Süßigkeiten usw.) verteilt. Emil Knoke hat sich gleich einen großen Käse beiseite geschafft. Die Austeiler: Ernst Weber, Denecke, Blumenhagen, Höltjen-Ludolph (der am Tage vorher seine Frau beerdigt hat) sind toll betrunken. Angeblich von »Essigsprit«, wie sie uns erklärten. Auto auf Auto, jetzt mit Infanterie, sausen den ganzen Tag über durchs Dorf, Richtung Ahls- und Eboldshausen. Die Kinder haben einen guten Tag, die Soldaten werfen Keks und Schokolade heraus, es wird ja alles geräumt. Flieger kreisen, um ½ 5 Uhr wieder Panzeralarm. Wir packen unsere Betten zusammen und legen uns unten auf die Diele. Überall nach Nordwesten Explosionen von Sprengungen. Wir gehen auch mal an die Straße. Soldaten über Soldaten, der Divisionsstab trifft ein und nimmt bei Albert Lüdeke Quartier, zwei Panzer stehen oben bei Kappeis. Plötzlich ein neuer Ruf durchs Dorf: »Verschärfter Alarm, alles sucht Keller oder das freie Feld auf, das Dorf wird verteidigt«. Wie ein Ameisenhaufen wimmelte alles durcheinander, das Oberdorf, das durch die Nähe des sehr aufgeregten Generals angesteckt war, wanderte zum größten Teil aus, [Familie] Heeres sogar mit dem Kuhwagen, auf dem sie ihre Habe verstaut hatten, andere mit Karren und Handwagen und verbrachten die Nacht draußen. Für uns stand gleich fest, dass wir zu Hause blieben. Die Bauern mussten ihre Höhlenwagen22 ins Oberdorf als Panzersperre bringen. Aber alle Aufregung war umsonst, der Ami kam noch nicht. Grete blieb noch draußen und erhaschte allerlei von der Unterhaltung der Offiziere. Um ½ 10 Uhr erschien sie plötzlich mit einem Oberleutnant und seinem Burschen, die wir gern als unsere Gäste aufnahmen. Vierzehn Tage hatten sie kein Bett gesehen. Nach einer gründlichen Waschung in der Küche und einer Rasur mit Vaters Apparat taten sie sich gütlich an Bratkartoffeln und Spiegeleiern. In Gedanken sah ich Euch liebe Jungen an unserem Tisch sitzen, wie weh wurde mir bei dem Gedanken an Euch. Ob Ihr auch ein Haus fandet, das Euch gastlich aufnahm? Schnell wurden die Betten gerichtet, für den Oberleutnant Janisch in Gretes Zimmer, für den Burschen im Esszimmer, alles mit Kerzenlicht und kleiner Sturmlaterne. Während des gemütlichen Beisammenseins hörten wir immer wieder Arifeuer23. Immensen, das verteidigt wurde, hatte viele Brände, man sah überall am Himmel die Feuer aufsteigen. Vor Northeim schossen die Garben eines explodierenden Munitionszuges in die Luft, den Tiefflieger in Brand geschossen hatten. Wir legten uns in dieser Nacht angekleidet ins Bett, weil wir damit rechnen mussten, dass unsere Gäste plötzlich geweckt werden würden. Aber das geschah nicht, nur das Arifeuer und die Sprengungen unterbrachen die Nachtruhe. Abends spät erfahren wir noch, dass die Amerikaner vor Northeim stehen, an der anderen Seite in Einbeck (Salzderhelden, nach Müllershausen).

Der Dienstagmorgen, 10. April, ist von großer Unruhe erfüllt. Zum Arbeiten im Garten haben wir keine Ruhe, da holen wir unsere Schwarzwurzeln – eine Wanne voll – zum Einmachen herein. Aber, oh Schrecken, wenn die beiden, Frau Boshusen und Oma, nicht zur Seite gestanden hätten, wären wir nicht fertig geworden. Es war ein dauerndes Kommen und Gehen. In aller Frühe erschien schon ein junger Leutnant mit einem Begleiter, um sich unseren Wagen anzusehen, der ihm natürlich nicht genügte. Sie stärkten sich erst mal und erwärmten sich durch heißen Kaffee, wie sahen die Armen aus. Dann erschienen unsere Leutchen allmählich, zu denen sich noch zwei Leutnants und ein Oberfeldwebel gesellten, sodass wir bald eine muntere Kaffeegesellschaft beieinander hatten. Alle Strapazen und das Niedergedrücktsein waren vergessen, Vater saß bei ihnen. Und es stellte sich heraus, dass sie zur motorisierten Flak gehörten, aber bei Polle ihr letztes Geschütz verloren hatten, sodass sie nun als Infanterie kämpften. Sie kamen seit ihrem Einsatz aus dem 6. Kessel.24 Keine Ruhe hatte ihnen der Ami gelassen, bei Polle – das sehr gelitten hat – hatten sie den letzten größeren Widerstand geleistet, seitdem befand sich die Truppe in Auflösung. Der Oberleutnant fuhr dann mit dem General los, in der Annahme wiederzukommen. Aber es wurde nichts daraus, wo er abgeblieben ist, wissen wir nicht. Sein siebzehnjähriger Bursche Franz Budde aus Duisburg verbrachte den Tag lesend, schlafend und wartend. In all die Unruhe hinein erscheint plötzlich eine fünfköpfige Familie mit einem Zettel vom Bürgermeister, der uns bittet, sie vorübergehend aufzunehmen. Für alles muss noch gesorgt werden, und es geht auch, wenn auch nur behelfsmäßig. Das Dorf lebt von Soldaten, überall Posten mit Panzerfäusten. Was wird wohl? Mittags die Parole: »Das Dorf wird nicht verteidigt, in fünf Minuten verschwindet der General.« Gegen 7 Uhr rings herum Schießerei: Ari, Pak, MG.25 Nach Müllershausen gehen einige Treffer, Engelkes Haus wird getroffen, Hans Vogt verwundet. Um 8 Uhr neue Aufregung, der General ist wieder aufgetaucht, mit mehreren Majoren und SS-Offizieren: »Das Dorf wird verteidigt!« Beim Kirchhof werden zwei Paks in Stellung gebracht, Infanterie geht bei Vogelbeck in Stellung. Die Bauern müssen Wagen, Eggen usw. als Panzersperre nach dem Friedhof schaffen. Das ist alles, was man dem Ami entgegenzustellen hat. Oben bei Lüdekes stehen noch zwei Sturmgeschütze, die wohl zum Stabe gehören. Mitten in diesen Vorbereitungen ist mit einem Mal keine Funkverbindung nach Willershausen mehr zu kriegen. Andere Alarmnachrichten treffen ein, der Ring wird immer mehr geschlossen, sodass es wohl nur eins gibt: schnell abrücken. Die führenden Leute des Dorfes, auch Vater, sind dabei und versuchen ihr Bestes, unser liebes Dorf vor der Verwüstung zu bewahren. Um 10 Uhr rückt der Divisionsstab mit den Sturmgeschützen Richtung Eboldshausen ab, sie hoffen, bei Kahlefeld noch durchzukommen. Die Pak steht am Kirchhof ohne Befehl, man hat sie wohl vergessen. Die Herzen gehen dorthin und erleben nun mit, in welcher Not solch ein junger Leutnant steckt, der Befehl zur Verteidigung hat und sich verlassen weiß. Endlich kommt noch ein Melder von der Division und bringt den Befehl zum Abrücken. Um 12 ½ Uhr verlässt das letzte Geschütz unser Dorf, ob es noch durchkam? Wohl kaum. Von der Infanterie bei Vogelbeck taucht am Freitagmorgen der junge Leutnant, der bei Ahrens im Quartier lag, auf. Sie sind nicht mehr durchgekommen, und er teilt nun das Los der vielen, vielen, die wie die Landstreicher über unsere Straßen ziehen, sich verbergen müssen und den Weg nach Hause suchen.26 Als Vater nach Hause kam, legten wir uns dankbar zu Bett.

 

Am Mittwoch, dem 11. April, wir tranken Kaffee und hörten dann ganz nahe Artillerie- und MG-Feuer. Schon rollten die ersten Panzer von Salzderhelden her in das Dorf. Vater, Grete und Hildegard beobachteten an der Straße den Einmarsch von 21 Panzern, einer Menge Panzerspähwagen, Munitions- und kleinen Personenwagen. Ausgeschwärmte Infanterie begleitete die Fahrzeuge. Fünf Mann kommen über den Kirchhof in unseren Grasgarten, sehen sich um und buddeln an jeder Seite ein Loch zur Verteidigung. Wie wir später hören, wurde aus den Leinewiesen noch geschossen, daher auch im Unterdorf Maschinengewehrnester in den Häusern und Panzer in Stellung. Es passiert aber weiter nichts. Plötzlich kommt Liesbeth mit einem Handwagen, auf dem alle mögliche Habe verstaut ist: Kaufmanns müssen in 30 Minuten räumen, die Schule soll Lazarett werden. Diese Entscheidung wird aber nach einigen Stunden wieder aufgehoben und Kaufmanns können zurück, finden aber vieles nicht mehr vor: Radioapparat, Schmuck, Lebensmittel. Auch Dolles, Ernst Weber und Illemanns müssen räumen. Die Amis überfluten nun das Dorf zur Durchsuchung. Zu uns kommen zwei Mann, die sich außerordentlich anständig benehmen. Sie sehen nicht einmal in jedes Zimmer, öffnen keinen Auszug. Am Schluss die Frage: »Gar keinen Schnaps?« Vater schenkt jedem einen ein, dafür wird ihm eine Zigarette angeboten und sogar danke gesagt. Drei andere, die Vater nachher vor dem Haus noch um Wein fragen, bieten ihm selbst auf die verneinende Antwort wieder eine Zigarette an. In manchen Häusern dagegen ist wüst gehaust worden. Vor allem die [Soldaten, die] bei Eichlers, Muhs usw. waren, nahmen, was sie kriegen konnten. Unheimliche Mengen von Eiern backten sie sich, auf die sie z. T. noch Marmelade oder dicke Scheiben von der gestohlenen Mettwurst vor den Augen der Leute legten. Ganze Schinken wurden mitgenommen, zwei bei Ewald Steinhoffs, einer bei Horns und Tiemanns. Schlachter Wieldts wurde auch sehr heimgesucht. Diedrichs Frauen oben waren aus ihrem Hause geflohen und fanden ein tolles Chaos wieder, alles aus den Schränken gerissen, Betten auf dem Fußboden, Schinken zerschnitten usw. Die Finger der Amis sind vollbesteckt mit gestohlenen Ringen, auch Trauringen, Armbänder trugen sie übereinander. Die Polen27 laufen in Sonntagskleidern herum, große Verbrüderung, unter den Amis auch Polen28, es regnet Zigaretten. Der Schweizer29 vom Bürgermeister gibt ihnen Fingerzeige, sodass sie dort auch alles nachsuchen. Die junge Frau muss zwei Stunden vor dem Küchenschrank stehen und mit ansehen, wie sie unter anderem wertvollen Schmuck mitgehen lassen, auch die Schreibmaschine. Vater und Grete gehen nachmittags noch einmal ins Dorf und erleben den kummervollen Anblick, dass über dreißig deutsche Soldaten und einige Offiziere als Gefangene auf dem Mühlenanger zusammengebracht sind. Man fand sie bei der Durchkämmung von Stollen und Hanneken30. Unter ihnen steht auch Ewald Kassau, der aus dem Lazarett auf Urlaub war und sich selbst stellte. Nachher kommt auch noch ein Major dazu. Im Laufe des Nachmittags ziehen die Amis nach Ahlshausen ab. Die ungeheure Spannung der letzten Tage weicht einer großen Müdigkeit.

Donnerstag, den 12. April: Immer noch durchrollende Truppen, dies Material! Ihr armen, armen Jungen, gegen was für eine Übermacht hattet ihr zu kämpfen! Tolle Gerüchte aus Northeim: Führende Nazis erschossen oder festgenommen. Der Kreisleiter bei Fredelsloh von den Amis erschossen (stimmt). Abends haben wir junge Mädchen [zur Aushilfe]. Viele deutsche Soldaten, teils in Zivil, kommen noch durchs Dorf. Hauptsächlich von der Leine31 her oder aus den Wäldern, wo sie sich verborgen hielten. Manche bitten um Zivilkleidung, die ihnen nach Möglichkeit gegeben wird. Sie haben alle nur den einen Wunsch, erst einmal nach Haus zu kommen. Gestern ist auch Karl Beismann mit einem Kameraden als »Holländer« erschienen.32 Als die Amis ins Dorf rollten, war er in Drüber. Wie sieht der arme Junge aus nach den Strapazen.

Freitag, den 13. April: Proklamation Nr. I ausgehängt: Ausgang von 7–19 Uhr. Wird von Grete als sehr unangenehm empfunden.

Sonnabend, den 14. April: Die Gemüter beruhigen sich, man geht wieder seiner Arbeit nach. Nur die Polen »feiern«, was man ihnen nicht verdenken kann. Ein Schwarzer mit Polizeibinde, von Wolpers Polen begleitet, geht in sämtliche Häuser und erklärt, dass die Polen nicht zu arbeiten brauchten, aber zu essen bekommen müssten. Nur Albert bei Auguste und Joseph bei Wolpers unten arbeiten doch. Alle möglichen Leute springen ein zum Helfen. Wir pflanzen Kartoffeln.

Am Sonntag gedenkt Vater im Gottesdienst der Ereignisse der letzten Woche. Was haben wir Gott zu danken, dass Er unsere Häuser beschützte und Euch Lieben die Heimat erhielt. Wann dürft Ihr sie wiedersehen? Mittags gibt es in Vogelbeck eine Sonderzuteilung von einem Pfund Fleisch je Person als Entschädigung für das Plündern der Amis. Grete und Luise wandern nach Stockheim, wo Strom ist, um einmal Nachrichten zu hören; wir wissen gar nicht, wie es in der Welt aussieht.

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