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Wortbildung im Deutschen

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4.2 Übersetzung lateinischer Fachbegriffe mit Substantivkomposita

Während die Beispiele (1) und (2) in Abschnitt 4.1 aus dem Psalter stammen, sind die folgenden Beispiele aus kanonischen Schultexten entnommen und spiegeln das Bemühen des Lehrers und Übersetzers um die adäquate, erklärende Wiedergabe auch von Fachbegriffen im DeutschenDeutsch wider. Bei Beispiel (3) handelt es sich hierbei um Notkers Übersetzung der Bezeichnung für den Inhalt des Schulunterrichts selbst, also für lat. septem artes liberales, für die Sieben Freien Künste.


(3)síben bûohlíste st. M. Pl. ‚die sieben Buchkünste = die Sieben Freien Künste‘ (Nb 54,23)

Das KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum bûohlíst st. M. findet sich im AlthochdeutschenAlthochdeutsch nur bei NotkerNotker III. von St. Gallen und ist auch bei diesem nur an zwei Stellen belegt. Ein Beleg findet sich in Martianus Capella (Nc 124,17), wo es in einem von Notker eingefügten, erklärenden Kommentar steht, den dieser wohl aus Remigius schöpft (cf. NL: Bd. 4A, 185, 187), und bezieht sich auf die in Büchern festgehaltene schriftliche Gelehrsamkeit und Bildung, was im Kompositum durch das Erstglied bûoh st. N. ‚Buch‘ deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Der andere Beleg findet sich in Boethius’ Consolatio Philosophiae (Beispiel 3). Dieser zweite Beleg soll hier näher betrachtet werden. Er steht in der folgenden Textstelle und zwar in Form einer Kontextglosse eingeleitet mit dáz chît ‚das heißt‘, die von Notker als Erklärung für den lateinisch stehen gelassenen Terminus septem liberalium artium gegeben wird.

QUID SIT RHETORICA. Rhetorica íst éin dero septem liberalium artium . dáz chît tero síben bûohlísto . dîe únmánige gelírnêt hábent . únde áber mánige genémmen chúnnen.

(Nb 54,21–24)

WAS IST [SEI] DIE RHETORIK. Die Rhetorik ist eine der sieben freien Künste, das heißt der sieben Buchkünste, die nur wenige gelernt haben und doch viele aufnehmen können.

Das KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum bûohlíste ist eine Lehnübertragung zum lateinischen artes liberales, bei der der Bestandteil lat. artes Pl. ‚Künste‘ der Vorlage wörtlich mit ahd. liste st. M. Pl. ‚Künste‘ wiedergegeben wird. Die artes liberales werden im Lateinischen so bezeichnet, um sie als die Künste der Freien gegenüber den praktischen Künsten als den Künsten der Sklaven und niedrigen Ständen, den artes sordidae ‚niedrigen Künsten‘ oder quaestus illiberales et sordidi ‚Gewerbe der Unfreien und Niedrigen‘, abzugrenzen und diesen als höherwertig gegenüber zu stellen. Diese sieben freien Künste, seit Cassiodor (ca. 485–580) aufgeteilt in Trivium und Quadrivium, sind in der klösterlichen Welt und vor allem in der Klosterschule die Künste, die mit Schriftlichkeit assoziiert werden und in und aus Büchern gelehrt werden.

Wenn NotkerNotker III. von St. Gallen sie also mit bûohlíste ‚Buchkünste‘ übersetzt, werden sie dadurch auch von den praktischen Künsten abgegrenzt, allerdings in einer weniger wertenden Weise als dies beim lateinischen Terminus artes liberales der Fall war. Vielmehr werden sie auf eine Weise abgegrenzt und bestimmt, die gut in die Umwelt und Kultur der klösterlichen Lebenswelt passt. Hier wird deutlich, wie Notker durch eine ReferenzReferenz auf den außersprachlichen, kulturellen Kontext eine verständliche und adäquate Übersetzung anstrebt und der Prozess der Rekontextualisierung lässt sich an diesem Beispiel gut nachvollziehen. Die lateinische Bezeichnung, die besser in die sozialen Gegebenheiten der römischen Antike passt, wird aufgegeben und durch eine Bezeichnung ersetzt, die besser in die Welt der frühmittelalterlichen Klosterschule passt. Den Klosterschülern wird eindrücklich verständlich gemacht, um welche Künste es sich handelt, nämlich um diejenigen die mit schriftlicher Gelehrsamkeit und dem alltäglichen Leben des Klosterschülers in Verbindung gebracht werden können. Auf diese Weise wird aber gleichzeitig auch bei der Rekontextualisierung des Begriffs der freien Künste eben dieser Aspekt der schriftlichen Gelehrsamkeit betont und so vielleicht auch als zentraler Aspekt der Klosterschule in der Wahrnehmung der Klosterschüler etabliert.1

Das letzte hier zu besprechende Beispiel (4) zeigt Notkers Versuch der erklärenden Übersetzung eines Fachbegriffs mithilfe zweier Substantivkomposita, wodurch dieser Fachbegriff durchsichtiger und verständlicher wird.


(4)a.óbeslíhtî st. F. ‚Fläche‘ (Nk 41,5)
b.féld slíhtî st. F. ‚Fläche‘ (Nk 43,10)

Beide KompositaKompositum stehen in Notkers Bearbeitung der Kategorien des Aristoteles und zwar in einer Textstelle, in der es um diskrete und kontinuierliche Quantitative geht. Für letztere nennt Aristoteles die folgenden Beispiele: die Linie, die Fläche und den Körper. NotkerNotker III. von St. Gallen übersetzt hier zunächst lat. superficies ‚(Ober-)Fläche‘ mit der Lehnübertragung óbeslíhtî. Das Erstglied dieses KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum), die Präposition obe ‚über, auf‘ (bzw. als Adverb ‚oben‘) ist eine Übersetzung des ersten lateinischen Elements super ‚über; oben‘. Das Zweitglied slíhtî st. F. ist ein deadjektivisches AbstraktumAbstraktum zu sleht ‚glatt, eben, einfach‘ (cf. Splett 1993: 3, 873) zunächst mit einer Wortbildungsbedeutung wie ‚Ebenheit; Einfachheit, Schlichtheit‘ (zur AbleitungAbleitung (siehe auch Derivation) von Eigenschaftsbezeichnungen aus Adjektiven mittels ahd. , cf. Wilmanns 1899: 252–259; Henzen 1965: 170–172). Dieses Zweitglied slíhtî wird im AlthochdeutschenAlthochdeutsch unter anderem auch bei Notker schon als SimplexSimplex in der Bedeutung ‚Fläche, Ebene‘ verwendet und zwar sechsmal im selben Textabschnitt der Kategorien-Bearbeitung im Anschluss an die beiden in Beispiel (4) genannten Komposita (Nk 43,25; 44,5; 8; 13; 46,6; 48,23b), wobei der letzte Beleg (Nk 48,23b) ein anderes lateinisches Lemma, nämlich das substantivierte Adjektiv planum ‚Ebene, Fläche‘, übersetzt, während die anderen Belege wie (4a) und (4b) für lat. superficies stehen (cf. NL: Bd. 5, 166–167).2Notker III. von St. Gallen

Est autem discreta quantitas ut numerus et oratio. Continuum uero . linea . superficies . corpus . […] Tíu únderskeidena quantitas . táz íst ter réiz . únde díu óbeslihti . únde diu héui.

(Nk 41,1–6)

Es gibt aber das diskrete Quantitative, wie Zahl oder Rede. Und das kontinuierliche [Quantitative]: die Linie, die Fläche, der Körper. […] Das diskrete Quantitative, das ist die Linie und die Fläche und die Hebung (Körper).

Interessant wird es aber vor allem, wenn NotkerNotker III. von St. Gallen zwei Handschriften-Seiten weiter unten im Text eine andere Übersetzung für superficies wählt und zwar diesmal keine Lehnübertragung sondern eine Lehnbildung: uéld slíhtî (Beispiel 4b). Im boethisch-aristotelischen Originaltext findet sich diese zweite Instanz von superficies sogar nur wenige Zeilen unter der oben besprochenen, der größere Abstand bei Notker erklärt sich durch die von ihm eingearbeiteten Kommentare und Erklärungen.

Et superficies lineam .s. potest sumere communem terminum. Plani namque particulę ad quendam communem terminum copulantur. Tiu uéld slíhtî . mág únder márchôt uuérden mít temo réize . […].

(Nk 43,7–11)

Und die Fläche (ergänze in Gedanken:) kann eine gemeinsame Grenze in der Linie finden. Denn die Teile der Fläche verbinden sich in einer gewissen gemeinsamen Grenze. Die Fläche kann durch die Linie unterteilt werden, […].

Das Zweitglied dieses KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum ist das gleiche wie bei (4a). Das Erstglied uéld, féld st. N. ‚Feld‘ wird wie slíhtî auch als SimplexSimplex schon in der Bedeutung ‚Fläche‘ verwendet. Die zweite Übersetzungsvariante (4b), die sich weiter von der Vorlage entfernt als (4a), scheint stärker darauf zu zielen, zu erklären, was mit lat. superficies gemeint ist. Die zweidimensionale geometrische Fläche wird durch die beiden Glieder des Kompositums in verständlicher Weise veranschaulicht, die ebene, nicht-dreidimensionale slíhtî wird zusätzlich in ihrer zweidimensionalen Ausdehnung als féld markiert.

Hier geht es weniger darum, den Rezipienten ein neues Konzept zu vermitteln, denn das Konzept der Fläche dürfte ihnen schon bekannt gewesen sein. Vielmehr zeigt sich in der Übersetzungsarbeit Notkers sein Bemühen um eine Kategorienbildung bei der Abgrenzung der geometrischen Form der Fläche von anderen geometrischen Formen wie Linie oder Körper. Hier zeigt sich, wie KompositaKompositum bei der Bildung eines geometrischen Fachbegriffs eine exaktere Ausdrucksweise ermöglichen und zur Kategorienbildung beitragen.3Kompositum Dass NotkerNotker III. von St. Gallen im Anschluss dann auf das SimplexSimplex slíhtî zur Bezeichnung der Fläche zurückgreift, lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass nach der Einführung des Begriffs und der erfolgten Kategorienbildung in Abgrenzung zu den anderen geometrischen Formen hier eine differenzierte ReferenzReferenz nicht mehr für nötig erachtet wird.

In den beiden Beispielen (4a) und (4b) zeigt sich das Bemühen des Lehrers um ein verständliches und erklärendes Übersetzen bei der Suche nach möglichen, passenden Bezeichnungen für bestimmte Fachbegriffe. Beide KompositaKompositum sind jeweils nur einmal im AlthochdeutschenAlthochdeutsch belegt, was ein weiterer Hinweis darauf ist, dass es sich um Adhoc-Bildungen handelt, die angesichts der Herausforderungen für den Übersetzer gebildet wurden. An der hohen Varianz der deutschen ‚Fachbegriffe‘ – NotkerNotker III. von St. Gallen verwendet drei Wörter (óbeslíhtî, féld slíhtî, slíhtî) für den lateinischen Terminus superficies in ein und demselben textlichen Zusammenhang – zeigt sich auch, dass es ihm wohl nicht darum gegangen sein dürfte, in seiner Übersetzung eine deutsche Fachsprache mit eigener Terminologie zu entwickeln, sondern dass seine Übersetzungen und Bearbeitungen wohl vielmehr auf das Verständnis des Originals hin ausgerichtet sind; die Fachsprache und Fachbegriffe bleiben Latein.

 

5 Zusammenfassung

Die Analyse der vier Beispiele konnte zeigen, wie Substantivkomposita als produktives Wortbildungsmittel bei der WissensvermittlungWissensvermittlung in der frühmittelalterlichen Klosterschule eingesetzt werden können, wo es beispielsweise gilt, Bezeichnungen für neue, zu vermittelnde Konzepte zu finden oder wo sie als didaktisches Mittel zur Kategorienbildung beitragen können.

Die Rolle der Substantivkomposita im Rahmen der WissensvermittlungWissensvermittlung und Übersetzung von Texten mit didaktischem Anspruch wurde hier exemplarisch für die beiden Bereiche theologischer Interpretationen (Beispiele 1 und 2) und Fachtermini der Sieben Freien Künste (Beispiele 3 und 4) gezeigt. Für erstere wurde dabei deutlich, wie Substantivkomposita bei der Vermittlung von neuen theologischen Deutungsmustern nutzbar gemacht werden können, für letztere wie sie bei der Suche nach adäquaten und verständlichen Übersetzungen für Fachtermini helfen können, indem sie diese zum Beispiel zum kulturellen Kontext und zur alltäglichen Lebenswelt der Rezipienten in Bezug setzen helfen (so bei Beispiel 3) oder wie sie als erklärende Übersetzungen zur Kategorienbildung beitragen können (Beispiel 4).

Durch die kulturanalytische Betrachtung von Substantivkomposita auf ihre Rolle bei der Vermittlung neuer Wahrnehmungs- und Deutungsmuster hin, konnte eine Perspektive auf KompositaKompositum in ihrem pragmatischen und kommunikativen Verwendungszusammenhang eröffnet werden, die über eine bloße morphologische Betrachtung hinausgeht, dabei aber doch die besonderen morphologischen und morphosemantischen Eigenschaften von Komposita berücksichtigt.

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WortbildungWortbildung und SyntaxSyntax von AbstraktaAbstraktum bei Friedrich Schiller1

Rosemarie Lühr

Abstract

The paper deals with the distribution of abstract nouns on –ung and substantivized infinitives by Friedrich Schiller. In contrast to the prevailing substantivized infinites nowadays, Schiller uses the ung-abstracts much more often. But there is already a competition between the two kinds of abstracts concerning prepositional phrases and adjective compounds on –würdig and –wert. The noticed differences inform about the aktionsart categories of ung-abstracts and substantivized infinitives. Finally, the morphological change is described, whereby reasons for the decline of the ung-abstracts are discussed.

1 Einführung

Das Schillerwörterbuch, das demnächst beim Verlag de Gruyter erscheint und von Susanne Zeilfelder und Rosemarie Lühr bearbeitet wird, behandelt den gesamten Wortschatz Friedrich Schillers. Neben Bedeutungsangaben, morphologischen und syntaktischen Analysen wird auch die WortbildungWortbildung dargestellt. Dabei fallen Übereinstimmungen wie auch Abweichungen vom DeutschDeutsch heute auf. Von besonderem Interesse sind hier die AbstraktaAbstraktum. So werden in bestimmten Kontexten ung-Abstrakta verwendet, die heute nicht mehr gebräuchlich sind:


(1)(a)Dein Gedanke nach Durchlesung der Stanzen war ganz auch der meinige. (an Körner, 28.1.1971, NA 26/113)
(1)(b)streifte er noch einen Ring vom Finger, den man nach seiner Verschwindung auf dem Fußboden liegend fand. (Geisters, 1. B., NA 16/85)

Im gegenwärtigen DeutschDeutsch würde hier der substantivierte InfinitivInfinitiv verwendet.

Petra Maria Vogel (1966: 250) führt diese Entwicklung auf „eine Tendenz zur generalisierten Imperfektivierung oder Neutralisierung [der Aspektopposition]“ zurück. Es gebe eine Verbindung zu „dem massiven Abbau des deutschen Aspektsystems“, der „zeitlich mit der Zunahme des substantiviertenSubstantivierung InfinitivsInfinitiv zusammenfällt“. Vor 200 Jahren war die Opposition zwischen imperfektivem und perfektivem Aspekt beim ung-AbstraktumAbstraktum und substantivierten Infinitiv anscheinend noch intakt, wie Stichproben aus dem Älteren Neuhochdeutschen zeigen. Zum Beispiel erscheint in Kontexten, die den Ausdruck des perfektiven Aspekts fordern, das Verbalabstraktum auf -ung und nicht der substantivierte Infinitiv; vgl. bei Heinrich von Kleist:

 

(2)bei Verlassung des Schauspielhauses (Berliner Abendblätter) (vgl. Lühr 1991: 153)

Die Aufnahme auch perfektiver VerbenVerb unter den substantiviertenSubstantivierung InfinitivInfinitiv scheint also erst in den letzten zwei Jahrhunderten produktiv geworden zu sein. Bei ung-AbstraktaAbstraktum und substantivierten Infinitiven ist demzufolge ein Sprachwandelprozess eingetreten. Dieser Vorgang vollzieht sich nicht bei allen Gebrauchsweisen dieser beiden Typen von Abstrakta gleichmäßig. Einige zeigen sich progressiver als andere. Genau dies belegt die Sprache Schillers. Auf welcher Entwicklungsstufe dieses Prozesses sie sich befindet, ist somit die Frage, um die es im Folgenden geht.

Nach einem statistischen Überblick (2) wird die Konkurrenz von ung-AbstraktumAbstraktum und substantiviertemSubstantivierung InfinitivInfinitiv in präpositionalen FügungenFügung beschrieben, da abhängig von der Präposition unterschiedliche Vorgänge, telische oder nicht-telische, ausgedrückt werden können. Je nach interner zeitlicher Struktur werden Zustände, Prozesse, Ereignisse (vgl. Ehrich/Rapp 2000: 251) bezeichnet (3). Dann werden adjektivische KompositaKompositum mit Abstraktum im Erstglied untersucht; adjektivische Komposita sind durch eine im Vergleich zu Substantivkomposita stärker ausgeprägte Reihenbildung gekennzeichnet1, wenn sie ein relationales Element im Zweitglied haben. Bei solchen Komposita herrscht also eine enge syntaktisch-semantische Beziehung zwischen den beiden Kompositionsgliedern. Diese erlaubt Aufschluss darüber, welchen Aktionsartkategorien die Abstrakta angehören (4). Schließlich wird der beobachtete morphologische Wandel dargestellt. Dabei werden Gründe für den Rückgang des ung-Abstraktums aufgezeigt (5).