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Wortbildung im Deutschen

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2.2 Untersuchungsgegenstand: Substantivkomposita

Diese im Schulkontext entstandenen Texte dienen also als Korpusgrundlage für die vorgestellte Untersuchung, in der die SubstantivkompositionSubstantivkomposition als eine sprachliche Strategie betrachtet werden soll, die nutzbar gemacht werden kann, wo neue Wissensinhalte und somit neue Begriffe vermittelt werden sollen. Der konkrete sprachliche Untersuchungsgegenstand sind also die Substantivkomposita.

Der Normaltyp der Substantivkomposita im DeutschenDeutsch sind die Determinativkomposita (Ortner/Ortner 1984: 11) und im NotkerNotker III. von St. Gallen-Korpus sind diese auch der einzige Typ, der begegnet.1 Determinative Substantivkomposita werden durch die Kombination zweier existierender, frei vorkommender Lexeme gebildet, von denen das zweite ein Substantiv sein muss, so dass auch das WortbildungsproduktWortbildungsprodukt ein Substantiv ist. Das Zweitglied (B-Konstituente) ist der Kopf der Bildung und wird durch das Erstglied (A-Konstituente) näher bestimmt.

Zur Abgrenzung von anderen komplexen Wörtern referieren Ortner/Ortner (1984: 11–39) insgesamt 16 Eigenschaften von KompositaKompositum, die in der Literatur genannt werden. Neun dieser Eigenschaften betreffen das KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum) als Ganzes (Ortner/Ortner 1984: 12–28), fünf sind Eigenschaften einzelner Konstituenten (Ortner/Ortner 1984: 28–38) und zwei Eigenschaften kommen dem Kompositum als Textelement zu (Ortner/Ortner 1984: 38–39). Meineke (1991) bespricht die Kriterien von Ortner/Ortner (1984) und hierarchisiert sie. Zuoberst ordnet er die Eigenschaften an, die dem Kompositum als Ganzem zukommen. Lediglich vier der dort genannten neun Kriterien sieht er als uneingeschränkt gültig an (primäre Kriterien), alle anderen Kriterien sieht er als sekundäre oder tertiäre Kriterien oder verwirft sie ganz (Meineke 1991: 73–76, passim). Diese vier zentralen Eigenschaften von Komposita sind die Binarität, die Subordination der Konstituenten, die allgemeine Strukturbedeutung (in Verbindung mit der nichtexpliziten Konstruktionsbedeutung) und die Kompatibilität der Konstituenten in sachlogischer Hinsicht. Auf diese vier Kriterien soll im Folgenden kurz eingegangen werden, wobei zunächst die beiden für die vorgestellte Untersuchung wichtigsten Eigenschaften vorgestellt werden sollen (s.u. Abschnitt 3.1).

Das Kriterium der Binarität besagt, dass jedes Substantivkompositum sowohl morphologisch als auch semantisch binär strukturiert ist (Ortner/Ortner 1984: 16–17; Meineke 1991: 38–45). Die Zweigliedrigkeit von KompositaKompositum ist laut Meineke (1991: 39) die Folge einer Determinans-Determinatum-Struktur, die wiederum die Widerspiegelung einer menschlichen Denkstruktur ist, die Meineke (1991: 39) mit „[e]twas wird durch ein anderes näher bestimmt“ angibt. Der Ausgangspunkt eines jeden KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum) sei demnach seine Funktion, ein binäres Konzept zu bezeichnen. Eine Funktion, für die einzelsprachlich verschiedene Mittel zur Verfügung stehen, neben der KompositionKomposition etwa Konstruktionen mit Genitiv- oder Adjektivattributen oder Präpositionalphrasen.

Die zweite für diese Untersuchung zentrale primäre Eigenschaft von KompositaKompositum nach Meineke (1991: 51–55) ist die nichtexplizite Konstruktionsbedeutung.2 Das heißt, dass die semantische Relation zwischen den Konstituenten eines KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum) auf morphologischer Ebene nicht ausgedrückt wird. Die Konstruktionsbedeutung eines Kompositums (also die jeweils im Einzelfall existierende semantische Relation zwischen den Konstituenten)3 lässt sich zurückführen auf eine allgemeine Strukturbedeutung von Komposita: „B, das mit A zu tun hat“ (Meineke 1991: 73). Die allgemeine Strukturbedeutung in Verbindung mit der Tatsache, dass die Konstruktionsbedeutung in Komposita nicht expliziert wird, hat zur Folge, „daß das Kompositum als wortbildungstechnisches Universalwerkzeug einsetzbar ist“ (Meineke 1991: 73).

Die beiden verbleibenden primären Kriterien besagen, dass das, was im KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum zusammengebracht werden soll, außersprachlich kompatibel sein muss („sachlogische Kompatibilität der Konstituenten“, Meineke 1991: 68–71), und dass die Reihenfolge der Konstituenten im Kompositum auf Determinans vor Determinatum festgelegt ist, was das semantische Funktionieren des Wortbildungsprodukts gewährleistet („Subordination und Unvertauschbarkeit der Konstituenten“, Meineke 1991: 45–50).

Nach diesen Ausführungen zu den strukturellen Eigenschaften von KompositaKompositum soll nun noch kurz auf die Funktion von Substantivkomposita eingegangen werden. Die beiden hauptsächlichen Funktionen von Substantivkomposita sind Nomination und Typisierung. Als Benennungs- oder Nominationseinheiten kommt ihnen primär eine Nominationsfunktion zu, weshalb sie sich eignen, wenn neue Bezeichnungen für Begriffe gefunden werden müssen (cf. Barz 1988: 13–14, 46–57; Klos 2011: 28, 235–236). Als komplexen Einheiten kommt ihnen aber gleichzeitig eine Typisierungsfunktion zu (Klos 2011: 85–87). Durch die spezifizierende Bezeichnung von Unterbegriffen tragen Determinativkomposita zur Kategorienbildung bei und sie ermöglichen die Einordnung neuer Erfahrungstatbestände in den Kontext bekannter Erfahrungstatbestände als Spezifizierungen derselben, wobei gleichzeitig das den Erfahrungen gemeinsame als das Kategorielle abstrahiert wird (Solms 1999: 240). Solms (1999: 240) verdeutlicht dies anhand des Beispiels der WortbildungWortbildung Morgenland, die bei Luther anstelle von bisher verwendetem Osten bzw. auffgang der sunnen tritt:

Luther bezeichnet in seiner WortbildungWortbildung einen in der Vorstellung lokalisiebaren Raum, sein Morgenland ist kein ‚Nicht-Ort‘, kein ‚ou tópos‘, kein ‚Nirgendwo‘; sein Morgenland ist ein konkretes und in der Vorstellung von Territorialität bestimmbares Land. Und dieses Land kann sich der zeitgenössische Rezipient als eine Wirklichkeit vorstellen, so wie er z.B. ein Schwabenland, ein Engelland, ein Niderland oder Oberland kennt […].

(Solms 1999: 240)

Unter diesem Aspekt der Nominations- und Typisierungsfunktion von Substantivkomposita ist die Frage nach ihrer Rolle bei der WissensvermittlungWissensvermittlung neuer Inhalte interessant für eine kulturanalytische Betrachtung. Bevor dies aber vorgenommen werden kann, müssen zunächst noch einige theoretische Grundbegriffe geklärt werden.

3 Theoretischer Rahmen: Kulturanalyse

Die Substantivkomposita sollen hier, wie erwähnt, daraufhin untersucht werden, inwiefern sie im Rahmen der klösterlichen WissensvermittlungWissensvermittlung zur Sinngebung beitragen, das heißt, sie sollen auf ihre kommunikative Aussagekraft im damaligen klösterlichen Kontext hin überprüft werden. Dafür ist es notwendig, über den konkreten textlichen Kontext (den Kotext), in dem das einzelne Substantivkompositum überliefert ist, und über seine intratextuellen Beziehungen hinaus auch dessen intertextuelle Beziehungen und vor allem die außersprachliche Einbettung in den kulturellen Kontext mit in die Analyse einzubeziehen. Aus diesem Grund soll hier zunächst eine Bestimmung des der Untersuchung zugrunde liegenden Kulturbegriffs folgen.

3.1 Was ist Kultur? – Begriffsbestimmung

Der hier vorgestellten Untersuchung soll ein semiotischer Kulturbegriff zugrunde gelegt werden, der sich etwa so zusammenfassen lässt: Kultur ist unsere Wahrnehmung und Deutung von Welt. So definiert etwa Ward Goodenough (1964) Kultur als das geteilte Wissen, das die Mitglieder einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe dazu befähigt, in einer für eben diese soziale Gruppe akzeptablen Weise zu handeln. Kultur sind für ihn dementsprechend geteilte Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster:

As I see it, a society’s culture consists of whatever it is one has to know or believe in order to operate in a manner acceptable to its members, and do so in any role that they accept for any one of themselves. Culture, being what people have to learn as distinct from their biological heritage, must consist of the end product of learning: knowledge, in a most general, if relative, sense of the term. By this definition, we should note that culture is not a material phenomenon; it does not consist of things, people, behavior, or emotions. It is rather an organization of these things. It is the forms of things that people have in mind, their models for perceiving, relating, and otherwise interpreting them.

(Goodenough 1964: 36)

Ähnlich ist auch der Kulturbegriff von Clifford Geertz (1983) zu verstehen, für den die Zeichenhaftigkeit kultureller Phänomene im Mittelpunkt steht und der Kultur auf Max Weber rekurrierend als selbstgesponnene Bedeutungsgewebe bezeichnet, in denen der Mensch versponnen sei (Geertz 1983: 9). Die Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Deutungsmuster in den Köpfen der Menschen, von denen Goodenough (1964: 36) spricht, ihre Organisation und ihre Verknüpfung untereinander und Bezogenheit aufeinander, sind eben dieses Bedeutungsgewebe, in dem die Zeichenhaftigkeit und Aufeinander-Bezogenheit kultureller Phänomene zum Ausdruck kommt.

Wenn man die oben genannte Typisierungsfunktion von KompositaKompositum in Betracht zieht, mag es also plausibel sein, dass Substantivkomposita das Potential zukommt, kulturellen Sinn zu geben, indem sie die Möglichkeit eröffnen, etwas neues in der bekannten Welt zu verorten, es innerhalb der bestehenden Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in Beziehung zu setzen. Aufgrund der Zweigliedrigkeit von Komposita (s.o. zur Binarität) und ihrer grundsätzlich offenen, allgemeinen Strukturbedeutung kann also etwas zu etwas anderem in Beziehung gesetzt werden und somit in der bekannten Welt rekontextualisiert werden, wobei der Art dieser Beziehung von formaler Seite keine Grenzen gesetzt sind.

 

3.2 Kulturtansfer und Rekontextualisierung

Der Begriff der Rekontextualisierung wird zur Beschreibung des Prozesses des Kulturtransfers verwendet. Dieser Prozess vollzieht sich nach Peter Burke (2009: 93–94) wie folgt: Etwas, ein kulturelles Artefakt, wird aus einem kulturellen Kontext, aus seiner ursprünglichen Umgebung, herausgenommen (dekontextualisiert) und bei der Einfügung in seine neue Umgebung so verändert, dass es in diese passt (rekontextualisiert). In anderen Worten kann man sagen: Wenn etwas neues im eigenen, bekannten kulturellen Kontext rekontextualisiert wird, muss es innerhalb der Ordnung und Organisation der Dinge in unseren Köpfen verortet und in Bezug gesetzt werden, es muss in die Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die oben als Kultur definiert wurden, integriert werden.

So lässt sich auch die WissensvermittlungWissensvermittlung in der frühmittelalterlichen Klosterschule als eine Art von Kulturtransfer beschreiben. Wenn den Schülern neue Konzepte und Ideen vermittelt werden sollen, bedeutet dies, dass diese neuen Konzepte in der ihnen bekannten Welt integriert werden müssen und zu den bekannten Dingen in Bezug gesetzt werden müssen. Wenn NotkerNotker III. von St. Gallen aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, muss er neue Wörter für die neuen Konzepte finden, die er seinen Schülern vermitteln will. Ein sprachliches Mittel, das ihm hierbei zur Verfügung steht, sind wie erwähnt die Substantivkomposita. Sie ermöglichen es, diese neuen Konzepte der Sprachgemeinschaft im Einzelwort verfügbar zu machen und bergen somit die Möglichkeit zur Konventionalisierung und Sozialisierung (cf. Solms 1999: 241).1

Dies ist mit Bezug auf die WissensvermittlungWissensvermittlung auch besonders hinsichtlich eines Aspekts interessant, den Klos (2011: 161–162, 235, 249–251) in ihrer empirischen Untersuchung für Sprecher des Gegenwartsdeutschen bestätigen konnte: Unter dem Begriff der Existenzpräsupposition stellt sie fest, „dass Sprachbenutzer aufgrund ihres Bewusstseins über die Nominationsfunktion von Substantivkomposita bei der Dekodierung nach einem möglichen Referenten suchen, der durch das [KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum] benannt wird“ (Klos 2011: 249). Die Sprachbenutzer gehen also davon aus, dass ein Kompositum, wenn es existiert, auch etwas bezeichnet, also auch ein Referent existieren muss. Auch wenn man keine radikale humboldtianische Haltung einnehmen will und davon ausgeht, dass die Welt, in der wir leben, von unserer Sprache geformt wird und somit auch durch die Schöpfung oder Bildung neuer Wörter formbar ist, dass also etwa die Annahme von der tatsächlichen Existenz einer Entität (oder eines Konzepts) dadurch etabliert wird, dass eine Bezeichnung zur Verfügung gestellt wird, die auf dieses Konzept referiert, so kann man doch zumindest davon ausgehen, dass die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Rezipienten dadurch beeinflusst werden, dass eine Bezeichnung für ein bestimmtes Konzept besteht.

4 Beispielanalysen

Anhand von vier Beispielen aus zwei Bereichen soll im Folgenden gezeigt werden, wie man sich Substantivkomposita aus kulturanalytischer Blickrichtung nähern kann und welche Rolle diese bei der WissensvermittlungWissensvermittlung im frühmittelalterlichen Kloster spielen können. Konkret bedeutet dies, dass die KompositaKompositum unter dem Aspekt ihrer intra- und intertextuellen sowie ihrer außersprachlichen, kulturellen ReferenzReferenz betrachtet werden.

4.1 Metaphorische Substantivkomposita zur Bezeichnung theologischer Konzepte

Zunächst sollen zwei Beispiele aus Notkers Psalter-Bearbeitung analysiert werden, die unter Rückgriff auf etablierte MetaphernMetapher der zeitgenössischen Bibelexegese bestimmte theologische Konzepte vermitteln sollen, wobei in der Übersetzung über die lateinische Vorlage hinausgegangen wird.


(1)

Mit dem Substantivkompositum pérg fúgeli ‚Bergvöglein‘ übersetzt NotkerNotker III. von St. Gallen in der folgenden Textstelle das lateinische passer, das zunächst einen Sperling oder auch allgemein einen kleinen Vogel bezeichnet.3 An anderer Stelle übersetzt der Notker-Glossator das gleiche lateinische Lemma mit smalfogel st. M. ‚Kleinvogel: kleiner Vogel, Spatz‘ (Npgl 384,2), außerdem findet sich sowohl bei Notker (Np 383,20) als auch in anderen althochdeutschen Quellen noch das Nomen mit entsprechendem Adjektivattribut: smaliu gefugele st. N. Pl. ‚kleine Vögel, Spatzen‘. Zur Bildungsweise von pérg fúgeli ist hier außerdem noch anzumerken, dass es sich um eine doppelmotivierte Bildung handelt, das heißt als Bildungsweise kommt entweder eine KompositionKomposition aus pérg st. M. und fúgeli st. N. oder eine DerivationDerivation aus *berg-fugel st. M. mit dem Dimminutivsuffix -li. Auch wenn eine eindeutige Entscheidung aufgrund der fehlenden sprachlichen Kompetenz heute nicht mehr getroffen werden kann, so spricht doch die Beleglage dafür, dass es sich eher um ein KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum handeln dürfte, denn während die Basis einer möglichen AbleitungAbleitung (siehe auch Derivation) *berg-fugel im AlthochdeutschenAlthochdeutsch nicht belegt ist, so ist dies für das Zweitglied fúgeli st. N. (Np 34,13; 14) sehr wohl der Fall, und zwar in der gleichen Textstelle wie auch das Kompositum pérg fúgeli selbst (s.u.). Dort gibt Notker das Wortbildungsmotiv quasi in Form einer Wortbildungsparaphrase selbst an: „Passeres hêizent alliû fugeliû . dero uuónent súmelichiû ín gebírge“ (Np 34,13–14).

Das Substantivkompositum pérg fúgeli ist bei NotkerNotker III. von St. Gallen in der folgenden Textstelle aus seiner Psalter-Bearbeitung in Psalm 11(10) belegt:

IN DOMINO CONFIDO . QVOMODO DICITIS animę mee . transmigra in montem sicut passer? Ih getrûen an gót . der mîn bérg ist . ze démo ih flúht hábo . uuîo chédent ir heretici ze mír . fliûg hára ûf in berg also fúgeli? Passeres hêizent alliû fugeliû . dero uuónent súmelichiû ín gebírge . fóne diû sprechent heretici samoso déro eînemo zuô . daz pérg fúgeli ist. CHRISTVS ist der berg . dén uuânent siê mit ín uuésen . bediû lúcchent siê catholicos dára . unde bediû uuírt in sús fóne in geántuúrtet […].

(Np 34,11–18)4

ICH VERTRAUE AUF GOTT. WIE SAGT IHR zu meiner Seele, ziehe in die Berge wie ein Vogel? Ich vertraue auf Gott, der mein Berg ist, zu dem ich Zuflucht habe. Wie sagt ihr Häretiker zu mir, flieg herauf auf den Berg wie ein Vöglein? Passeres heißen alle Vöglein, von denen sämtliche im Gebirge wohnen. Daher sprechen die Häretiker so zu einem von denen, der ein Bergvöglein ist. Christus ist der Berg, von dem glauben sie, dass er mit ihnen sei, dadurch locken sie die Gläubigen dorthin und deshalb wird ihnen so von diesen geantwortet: […]. 5

Es wird deutlich, dass das Substantivkompositum pérg fúgeli in engem Zusammenhang mit dem direkten textlichen Kotext steht, in dem es belegt ist. Es kann nur richtig gedeutet und verstanden werden, wenn sowohl dieser Kotext als auch Informationen aus dem Kontext des theologischen Denkens in frühmittelalterlichen Klöstern berücksichtigt werden. NotkerNotker III. von St. Gallen integriert nämlich in seine kommentierende Übersetzung von Psalm 11(10) eine Deutung des Kirchenvaters Augustinus, dass der Berg für Christus stehe (cf. NL: Bd. 8A, 32). Für das Verständnis des KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum sind also vor allem intertextuelle Referenzen zu Augustinus als auch intratextuelle Referenzen in der entsprechenden Textstelle relevant. Notker integriert nämlich zunächst die genannte Interpretation Augustinus’ in seinen Übersetzungstext: Ih getrûen an gót . der mîn bérg ist und CHRISTVS ist der berg. Diese Erklärungen stehen nicht im hier kursiv gesetzten Psalmen-Text sondern werden von Notker aus Augustinus schöpfend hinzugefügt.

Aber NotkerNotker III. von St. Gallen erklärt Augustinus’ Konzept nicht nur in seinem Text, er konzentriert diese theologische Interpretation von Psalm 11(10) auch in einem Substantivkompositum, wenn er passer mit pérg fúgeli übersetzt. Das KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum ist also nicht einfach nur eine Übersetzung von passer in seiner wörtlichen Bedeutung, es ist vor allem auch eine MetapherMetapher für den Gläubigen.6 Auf diese Weise wird die enge Beziehung zwischen Christus und dem Gläubigen zum Ausdruck gebracht und Augustinus’ Interpretation des Psalms wird der Sprachgemeinschaft des Klosters prägnant in einem Einzelwort verfügbar gemacht. Auf diese Weise kann dieses Deutungsmuster der Welt – oder eben von Psalm 11(10) – der klösterlichen Sprachgemeinschaft verfügbar gemacht werden und in der Weltsicht und dem geteilten Wissen dieser Gemeinschaft integriert werden, das heißt in deren Wahrnehmungs- und Deutungsmustern und somit eben in der klösterlichen Kultur, wie sie oben definiert wurde.


(2)fínstir land st. N. ‚Finsterland, finsteres Land, Land der Finsternis: Ägypten‘ (Npgl 299,3)

Ähnlich wie bei Beispiel (1) so findet sich auch bei Beispiel (2) eine MetapherMetapher der Bibelexegese im KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum ausgedrückt, wenn der Notkerglossator das lateinische Aegyptus mit dem Kompositum fínstir land übersetzt. In der folgenden Textstelle aus Psalm 81(80) gibt der Glossator zunächst die Glosse finstri st. F. ‚Finsternis‘ für im NotkerNotker III. von St. Gallen-Text lateinisch stehengebliebenes tenebrae und dann die Glosse fínstir land zu lat. ęgyptus.

Qui eduxit te de terra egypti. Ih dir daz sceînda . unde dih lêita ûzer egypto . uzer tenebris (finstri).7 Háre hôren alle zûo . únsih unde sie gruôzet Got . er hábet unsih alle geleîtet ûzzer ęgypto (fínstir lande). Vuir háben alle durhkangen den rôten mére . in sanguine CHRISTI consecrato baptismate (mit christis pluôte geuuiêhtero toûfi) bín uuir getúnchot . unde dâr sint ze lêibo uuorden únsere fíenda . die unsih iágeton.

(Np 298,25–299,6)

Der ich dich führte aus dem Land Ägyptens. Der ich das zeigte und dich führte aus Ägypten, aus der Finsternis (Finsternis). Alle hören uns zu und sie nähert sich Gott, er habe uns alle aus Ägypten (Finsterland) geleitet. Wir haben alle das Rote Meer durchschritten, wir sind eingetaucht in das Blut Christi die heilige Taufe (mit dem Blut Christi der heiligen Taufe), und dort sind zurückgeblieben unsere Feinde, die uns jagten.

Wie bei Beispiel (1) müssen auch hier intra- und intertextuelle Referenzen für das Verständnis des KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum berücksichtigt werden. Schon NotkerNotker III. von St. Gallen schafft intertextuelle ReferenzReferenz, indem er seinem üblichen Verfahren der integrierenden Übersetzung und Kommentierung folgend Ägypten mit lat. tenebrae ‚Finsternis‘ erklärt, laut Tax (NL: Bd. 9A, 377) handelt es sich bei der Etymologie Ägypten = tenebrae um einen Gemeinplatz der patristischen Bibelexegese. Inhaltlich spielt dieser deutende Gemeinplatz von Ägypten als dem Land der Finsternis natürlich zum einen auf die neunte Landplage an, wie sie im 2. Buch Mose (10:21–29) beschrieben wird, zum anderen aber auch allgemeiner auf Ägypten als den Ort der Gefangenschaft bzw. des Exils des Volkes Israel.

Zusätzlich zu den von NotkerNotker III. von St. Gallen im Text gegebenen Erklärungen und ausgehend von dieser von Notker aufgebauten intertextuellen ReferenzReferenz übersetzt nun der Glossator Ägypten mit dem KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum fínstir land und macht auf diese Weise diesen exegetischen Gemeinplatz im Einzelwort greifbar, wodurch er erreicht, dass die entsprechende Deutung auch beim Rezipienten deutlich in den Vordergrund treten kann und in dessen Wahrnehmung und Deutung der Welt integriert werden kann. Wie schon bei Beispiel (1) pérg fúgeli können wir auch hier sehen, wie Substantivkomposita eine Rolle bei der Rekontextualisierung bestimmter theologischer Konzepte in der deutschen Sprache der Klostergemeinschaft spielen können.