Wörterbuch der Soziologie

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Auch die Makroergonomie (Organisatorische Ergonomie) gewinnt in Folge der Veränderungen der Arbeitswelt an Bedeutung (O’Neill; Hendrick, Kleiner). Hier werden Technik, Organisationen, Arbeitsgruppen und Individuen als Subsysteme im Wechselspiel untereinander und mit ihrer Umwelt betrachtet. Das deterministische Weltbild einseitiger [34]kausaler Wirkungen ist aufgegeben. Stattdessen gelten technische, psychosoziale, organisatorische Komponenten und Umwelt als interdependent, sie können nur gemeinsam optimiert werden. In Abhängigkeit von der Wandlungsgeschwindigkeit und der Komplexität der Umwelt der Organisation bewähren sich unterschiedliche Organisationstypen. Der Maschine-Bürokratie-Typ zeichnet sich durch hohe Arbeitsteilung, Hierarchisierung und Formalisierung aus. Die Effizienz-, Kontroll- und Stabilitätsvorteile dieses Typs gleichen die mangelnde intrinsische Motivation der Beschäftigten aus, wenn eine überwiegend gering qualifizierte Arbeiterschaft routinisierte Systemoperationen in einer stabilen einfachen Umwelt zu vollziehen hat. Steigende Qualifikationsniveaus der Beschäftigten und komplexere, dynamischere Umwelten haben jedoch zu einer wachsenden Bedeutung von professionellen Bürokratie-Typen und zu verschiedenen Formen des Adhocracy-Typs geführt. Letztere sind durch geringere Formalisierung sowie durch projekt- und problembezogene Dezentralisierungen gekennzeichnet. Den Vorteilen einer schnellen, effizienten und kreativen Reaktion auf dynamische Umwelten stehen Nachteile in Form von aus mehrdeutigen Verantwortlichkeiten resultierenden Konflikten, sozialem und psychischem Stress und sich aus geringerer Routinisierung ergebender Ineffizienz entgegen.

Die Arbeitswissenschaft ist konsequent anwendungsorientiert und interdisziplinär. Unter ihren Bezugswissenschaften spielt die Soziologie eine geringe Rolle, obwohl z. B. Max Weber mit seinen Studien zur Psychophysik der industriellen Arbeit früh Schnittstellen zwischen der Soziologie und der Arbeitswissenschaft hergestellt hat und obwohl es eine lange Tradition arbeits- und industriesoziologischer Forschung gibt. Die mit den heutigen Veränderungen der Arbeitswelt einhergehende, steigende Bedeutung der Makroergonomie bietet von der Problemstellung her erneut Anknüpfungspunkte für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Soziologie und Arbeitswissenschaft, insbesondere im Bereich der Industrie- und Organisationssoziologie.

Literatur

Cox, Tom et al., 2000: Research on work-related stress. European Agency for Safety and Health at Work, Luxembourg. – Fisk, Arthur D.; Rogers, Wendy A. (Eds.), 1997: Handbook of Human Factors and the Older Adult, San Diego. – Hancock, Peter A. (Ed.), 1999: Human Performance and Ergonomics, San Diego. – Hendrick, Hal W.; Kleiner, Brian M. (Eds.), 2002: Macroergonomics: Theory, Methods, and Applications, Mahwah. – International Ergonomics Association (IEA), 2000: What is Ergonomics? – Kirlik, Alex (Ed.), 2006: Adaptive perspectives on human-technology interaction: Methods and models for human-computer interaction and cognitive engineering, New York/Oxford. – Kumar, Shrawan (Ed.), 1999: Biomechanics in Ergonomics, London. – Osborne, David (Ed.), 1995: Ergonomics and Human Factors, 2 Vol., Aldershot. – O’Neill, Michael, 1998: Ergonomic Design for Organizational Effectiveness, New York. – Pheasant, Stephen, 1986: Bodyspace, London. – Rohmert, Walter, 1973: Psychische Beanspruchung; in: Schmidtke, Heinz (Hg.): Ergonomie, Bd. 1, München. – Salvendy, Gavriel (Ed.), 2006: Handbook of Human Factors and Ergonomics, 3rd ed., New York. – Schlick, Christopher et al. (Hg.), 2010: Arbeitswissenschaft, Berlin/Heidelberg. – Weber, Max, 1998: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit, Tübingen.

Reinhold Sackmann/Olaf Struck/Ansgar Weymann

Architektursoziologie

Gegenstand der Architektursoziologie (engl. sociology of architecture) ist das Gebaute, sind die architektonischen Artefakte in ihrem Bezug zu den Akteuren (deren Aktionen und Interaktionen) respektive zur Gesellschaft insgesamt (mit all ihren Teilsystemen und Institutionen). Darin eingebettet ist als weiteres Thema die Profession der Architekten.

Es handelt sich um eine junge Disziplin der Soziologie, die auf impliziten Klassikern aufbauen kann, sich aber vor allem aus neuen Theorieentwicklungen der Kultur- und Sozialwissenschaft speist: der Hinwendung zu Körper, Artefakten, Symbolischem, Affekten, Kreativem, zum Raum. Diese Architektursoziologie ist gesellschaftstheoretisch und diagnostisch angelegt sowie auf die interdisziplinäre Arbeit (v. a. mit der Architektur) angewiesen. Explizit kommt sie bisher vornehmlich aus dem deutschsprachigen Raum. Anders als die Stadtsoziologie geht sie davon aus, dass die Gesellschaft basal im Medium der architektonischen Artefakte zu beschreiben ist; anders als die Soziologie des Wohnens ist sie gesellschaftstheoretisch interessiert und umfasst alle Bautypen bis hin zur Infrastruktur (Verkehrsarchitektur, Kanalisierung); mit der Raumsoziologie hat sie Überschneidungen, wo diese sich den materialisierten Räumen widmet; mit der Artefaktsoziologie teilt sie[35] das Interesse für die Verschränkung von Artefakten und Akteuren. Anders als die Techniksoziologie berücksichtigt sie die Expressivität der Artefakte.

Entwicklung von Architektur und Gesellschaft

Die Entwicklung der Architektur ist so alt wie die Kultur – versteht man darunter auch alle nicht von Architekten entworfenen Gebäude, auch die gewebten und genähten Architekturen nichturbaner Gesellschaften. In modernen, funktional differenzierten Gesellschaften ist es die Architektur, die in ihrer professionellen Kreativität stets neue Lebenswelten und zugleich bleibende Gestalten der Gesellschaft schafft.

Entwicklung der Architektursoziologie

Seit Gründung der Soziologie gibt es implizite architektursoziologische Klassiker, insbesondere französische (u. a. Mauss, Halbwachs, Maunier, Tarde, Foucault, Augé, Bourdieu, Lefebvre) und deutsche (u. a. Simmel, Krakauer, Benjamin, Elias). Sie lassen sich danach sortieren, ob sie die Architektur als bloßen Ausdruck der Gesellschaft verstehen oder ihr eine aktive Funktion in der Vergesellschaftung zusprechen. Wegen der Gegenstandsbestimmung der Allgemeinen Soziologie, die das Soziale als Interaktion intentional Handelnder oder als ›Kollektivbewusstsein‹ fasste, blieb die Thematisierung der Architektur insgesamt aber marginal. Erst in den 1970er Jahren etablierte sich eine explizite Beobachtung in einer kapitalismuskritischen oder aber sich an der Planung beteiligenden Architektursoziologie. Die neue Soziologie der Architektur (seit etwa 2000) ist demgegenüber grundlegend gesellschaftstheoretisch und -diagnostisch interessiert, offen für verschiedene Perspektiven.

Forschungsstand

Die neue Architektursoziologie wird u. a. von der ANT, der Philosophischen Anthropologie, der Praxeologischen Theorie, vom Poststrukturalismus aus entfaltet. Angesichts der faktischen Untrennbarkeit von Architektur und Sozialem hält sie die ganze Komplexität der Architektur im Blick (vom Entwurf bis zur Destruktion, vom Einzelhaus bis zur übergreifenden Struktur, von der Fassade über den Grundriss bis zu Baurecht, Eigentumsfragen, Finanzierung, von Interaktions-, Struktur- bis zu Symbolperspektiven, diagnostisch historisch-genetisch arbeitend oder auf aktuelle Entwicklungen konzentriert). Auch die methodische Annäherung ist entsprechend vielfältig (von Diskursanalysen bis zu ethnografischen Methoden).

Literatur

Champy, Florent, 2001: Sociologie de l’architecture, Paris. – Delitz, Heike, 2009: Architektursoziologie, Bielefeld. – Fischer, Joachim; Delitz, Heike (Hg.), 2009: Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld. – Jones, Paul, 2011: The Sociology of Architecture: Constructing Identities, Liverpool. – Schäfers, Bernhard, 2006: Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen, 2. Aufl., Opladen. – Trebsche, Peter et al. (Hg.), 2010: Der gebaute Raum. Bausteine einer Soziologie vormoderner Architekturen, Münster.

Heike Delitz

Aristokratie

Aristokratie (engl. aristocracy; aus dem Griechischen: Herrschaft der Besten) bezeichnet eine Herrschaftsform, wird aber auch synonym für die Gruppe der Edelleute, insbesondere des Hochadels, verwendet. Die Aristokratie beruht in der griechischen Staatslehre (Platon, Aristoteles, Polybios) auf der Führung durch eine auf Grund von Tugend und Verdiensten ausgezeichnete Gruppe. Sie unterscheidet sich von der Oligarchie durch die Orientierung am Gemeinwohl. In der Geschichte lassen sich Ritteraristokratien, Priesteraristokratien und Plutokratien differenzieren. Gesellschaften durchlaufen meist eine Phase der Aristokratie mit Ausnahme jener, die despotische Herrschaftsformen ausbilden (z. B. Osmanenreich). Da die Aristokratie auf Grund von internen Kämpfen keine stabile Herrschaftsform darstellt, geht sie früher oder später in Monarchie oder Demokratie über, wobei in beiden Fällen aristokratische Strukturelemente erhalten bleiben können.

Als Stand entwickelte sich die Aristokratie in Europa erst im Zuge der Stärkung der zentralen Gewalt der Krone ab dem Hochmittelalter; davor waren die Vorrechte des Adels nicht generell erblich und auch nicht formell geregelt. Voraussetzungen der Anerkennung als adelig waren ein Vermögen aus Grundherrschaft und der über Generationen hinweg nachgewiesene [36]Status des Freien (Edelfreie). Der Adelsbrief enthielt die Genehmigung zum Ritterschlag, die Standesvertretung gegenüber der Krone und die Vorrechte des Adels, d. h. die Ehrenvorrechte (Adelsprädikate, Insignien etc.), rechtliche Privilegien, politische Rechte (auf bestimmte Ämter oder Ränge) und wirtschaftliche Vorrechte (Grunderwerb, Steuerbefreiungen, Jagdrechte etc.).

 

Die Aristokraten stellten eine gesellschaftliche Elite dar, die sich durch ihre Werthaltung und Lebensweise von der Masse des Volkes abhob, sich auf die ehrenvolle Abstammung ihrer Familie berief und daher auf Grund des »Blutes« bzw. der Geburt eine hohe Stellung beanspruchte. Grundprinzipien der Aristokratie sind die Ausschließung durch »connubium« und die interne soziale Kontrolle über Lebensweise und Handlungen der Mitglieder sowie die Kontrolle über den Zugang zum Adel. Immer aber kam es auch zu einer gewissen sozialen Mobilität durch den Aufstieg von Personen aus dem Volk auf Grund von Verdiensten bzw. durch Reichtum. Im 18. Jh. nahmen die Nobilitierungen von Bürgerlichen und der Ämterkauf zu, weshalb sich der alte Schwertadel von diesem Amtsadel stärker abzugrenzen suchte.

Der Adel weist eine interne Hierarchie zwischen dem Hochadel und den niederen Rängen auf. Zwischen Letzteren und dem Bürgertum bestanden oft kaum Unterschiede der Lebensweise, und der Übergang war, wie etwa bei der englischen »gentry«, fließend. Meist konnten die Adeligen aber von einem ererbten Vermögen, vorzugsweise an Grund und Boden, leben, ohne nicht ihrem Ansehen entsprechende Tätigkeiten ausüben zu müssen. Besondere Betätigungsfelder des Adels waren der Krieg, der hohe Staatsdienst, hohe kirchliche Ämter und das Mäzenatentum in Kunst und Kultur. Der auf Grund von Eheschließungen zwischen den Herrscherhäusern und Grundbesitz sowie Herrschaftsrechten in verschiedenen Regionen Europas stark internationale Charakter des Hochadels und seine Werte und Lebensstile sowie die »höfisch-aristokratische Kultur« prägten den europäischen Zivilisationsprozess (Elias).

Mit der Französischen Revolution kam es in Frankreich vorübergehend zur Abschaffung des Adels, dann zum napoleonischen Neuadel und schließlich zur Restauration. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Vorrechte des Adels in allen Ländern Europas, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, abgeschafft; die Aristokraten wurden einfache Staatsbürger, sozial und kulturell werden sie aber auch heute noch in der Öffentlichkeit als eine besondere Gruppe mit eigenem Lebensstil wahrgenommen.

Die Adeligen selbst sind sich einerseits ihrer Tradition bewusst, müssen sich andererseits aber der modernen Welt in Bezug auf Werte, Lebensformen und berufliche Tätigkeiten öffnen. Der aristokratische Habitus umfasst daher Strategien zur Reproduktion des sozialen und symbolischen Kapitals und seiner Rekonversion in ökonomisches und Bildungskapital (Bourdieu; Saint Martin). Noch immer ist auch die interne soziale Kontrolle in Bezug auf standesgemäßes Verhalten, Ehre und Würde der Familie relativ stark wirksam. Sie stellen daher in gewisser Weise einen »verborgenen Stand« dar, dessen Werte und Normen eine Art Gegenwelt konstituieren (Walterskirchen). Da der Adel noch über einen beträchtlichen Grundbesitz verfügt, ist er auch von wirtschaftlicher Bedeutung.

Als Herrschaftsform wird der Begriff der Aristokratie zur Kennzeichnung von neuen Elitebildungen auch in demokratischen Gesellschaften (»labor aristocracy«, »Finanzaristokratie«) oder von überstaatlichen Eliten verwendet. Eine Elite als Aristokratie zu bezeichnen, betont das Bestehen einer starken sozialen Distanz in der Gesellschaft sowie die Wirkung eines Gruppencharismas und die Kontrolle über die gemeinsamen Werte und Lebensweisen der Gruppe.

Literatur

Beck, Hans et al. (Hg.), 2008: Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ›edler‹ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, München. – Bourdieu, Pierre, 2004: Der Staatsadel, Konstanz. – Conze, Eckart; Wienfort, Monika (Hg.), 2004: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien. – Demel, Walter, 2005: Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München. – Elias, Norbert, 1969: Die höfische Gesellschaft, Darmstadt/Neuwied. – Roscher, Wilhelm, 1933: Naturgeschichte der Monarchie, Aristokratie, Demokratie, Leipzig, 57 ff. – Saint Martin, Monique de, 2003: Der Adel. Soziologie eines Standes, Konstanz. – Simmel, Georg, 1908: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin, 545 ff. – Walterskirchen, Gudula, 2010: Adel in Österreich heute. Der verborgene Stand, Innsbruck/Wien.

Gertraude Mikl-Horke

[37]Armut und Reichtum

Armut (engl. poverty) und Reichtum (engl. wealth) sind extreme Erscheinungsformen sozialer Ungleichheiten, deren Bestimmung immer von normativen Wertungen abhängt. Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Erscheinungen des Mangels oder des Überflusses als Armut bzw. Reichtum hängt dabei vom historischen, regionalen und sozialpolitischen Kontext ab. In modernen Gesellschaften ist der Begriff der Armut eng verbunden mit der Idee einer sozialstaatlich garantierten Mindestsicherung: Er verweist auf eine Schwelle, unterhalb derer Menschen nicht mehr in sozialer Würde leben können. Mit der Feststellung von Armut ist daher ein sozialpolitischer Handlungsimperativ verbunden: Armut ist zu bekämpfen. Wo jedoch diese Armutsschwelle liegt und wie sie abgeleitet werden kann, ist umstritten und bedarf grundsätzlicher normativer Entscheidungen. Von daher existiert eine Vielzahl an Armutskonzepten.

Noch stärker hängt die Bestimmung von Reichtum von normativen bzw. konventionellen Abgrenzungen ab. Im Unterschied zu Armut provoziert die Feststellung der Existenz von Reichtum keinen unmittelbaren sozialpolitischen Handlungsbedarf: Reichtum ist nicht prinzipiell verwerflich. Offenbar beziehen sich Armut und Reichtum aber auf ein gemeinsames normatives Koordinatensystem der Bewertung (extremer) sozialer Ungleichheit.

Armutsberichterstattung: Zwischen Sozialpolitik und Armutsforschung

Eine zentrale Rolle für die Verbreitung von Armutskonzepten spielt die Armutsberichterstattung, d. h. das regelmäßige Monitoring der Entwicklung und Strukturen von Armut (vgl. BMAS 2001, 2005, 2008). Aufgrund des normativen Charakters von Armutskonzepten werden in Armutsberichten in der Regel verschiedene Armutskonzepte bzw. Armutsindikatoren zu Grunde gelegt und auf dieser Basis untersucht, wie sich Armut im Zeitverlauf entwickelt, wie Armutsrisiken bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verteilt sind oder nach Regionen und Ländern variieren. Während das Niveau der Armut stark vom verwendeten Armutskonzept abhängt, liefert der Vergleich über die Zeit oder zwischen Gruppen und Ländern belastbare Informationen, die etwa zur Bewertung sozialpolitischer Maßnahmen der Armutsbekämpfung genutzt werden können.

Armutsberichte gibt es auf kommunaler, Länderund nationaler Ebene sowie darüber hinaus auf suprastaatlicher (EU, OECD) und globaler Ebene (z. B. Weltbank). Die Armutsberichterstattung steht dabei im Schnitt- und Spannungsfeld zwischen einer sozialpolitisch eingebundenen Berichterstattung und der wissenschaftlichen Armutsforschung. Die wissenschaftliche Armutsforschung reicht in ihren Zielsetzungen und Erkenntnisinteressen über die Berichterstattung hinaus, indem sie sich intensiver mit den methodischen und theoretischen Aspekten der Armutsmessung beschäftigt und Armut im Kontext von ökonomischen und sozialen Ungleichheiten sowie gesellschaftlichen Entwicklungen analysiert.

Armutskonzepte

Viele Sozialstaaten verpflichten sich selbst dazu, ein »Existenzminimum« zu gewähren, das als eine politisch definierte Armutsschwelle interpretiert werden kann (zur Übersicht von Armutskonzepten vgl. Andreß 1999; Groh-Samberg 2008; Groh-Samberg/ Voges 2013). Dabei unterscheidet man zwischen Personen, die Mindestsicherungen beziehen (»bekämpfte Armut«) und Personen, die zwar Anspruch darauf haben, faktisch aber keine Leistungen beziehen (»verdeckte Armut«). Bei der Verwendung politisch definierter Armut tritt jedoch eine Paradoxie auf: So führte eine Herabsetzung der Bedürftigkeitsschwelle zu einer Reduktion der Armut, während umgekehrt eine Heraufsetzung von Mindeststandards eine wachsende Zahl von Armen mit sich bringt. Ebenso ist umstritten, inwiefern der Bezug von Mindestsicherungen, die ja die Bezieher/innen über die politisch definierte Armutsschwelle heben sollen, als Armut zu bezeichnen ist (daher der Ausdruck »bekämpfte Armut«).

Faktisch greift auch die Sozialpolitik bei der Bestimmung von Armut auf wissenschaftliche Verfahren zurück. Das traditionelle sozialpolitische Modell besteht in einer durch Experten vorgenommenen Festlegung von Mindestbedarfen an Ernährung, Kleidung, Obdach etc., die in entsprechende Warenkörbe umgesetzt und auf Basis gängiger Marktpreise in monetäre Armutsschwellen umgerechnet werden (sog. Warenkorbmodell). Der Schwellenwert zur Bestimmung von Armut kann reichen von der Festlegung eines physischen Existenzminimums [38]bis hin zu einem darüber hinausgehenden »sozio-kulturellen Existenzminimum«, das am Wohlstandsniveau der Gesellschaft oder unterer Einkommensgruppen orientiert ist. Bei einem Schwellenwert, der die unmittelbare Bedrohung der physischen Existenz durch Hungern oder Erfrieren zum Kriterium erhebt, wird häufig von absoluter Armut gesprochen. Dahinter stand lange Zeit die Vorstellung, dass es ein zeit- und raumunabhängiges physiologisch bestimmbares Existenzminimum gibt; heute weiß man, dass dies unmöglich ist, da körperliche Mangelerscheinungen infolge von Armut in vielen graduellen Abstufungen vorkommen.

Bei einem relativen Verständnis von Armut tritt die Relation zum Wohlstand aller Gesellschaftsmitglieder in den Vordergrund – Armut wird hier grundsätzlich als relativ zu konkreten Gesellschaften in historischer Zeit gedacht. Am bekanntesten und verbreitetsten ist das Konzept der relativen Einkommensarmut. Als arm gelten hier Personen, deren bedarfsgewichtetes verfügbares Einkommen unterhalb eines bestimmten Prozentanteils des Durchschnittseinkommens aller Personen liegt. Für die Festlegung einer relativen Einkommensarmutsgrenze gibt es kaum schlüssige theoretische oder inhaltliche Argumente, sondern nur politische Übereinkünfte. Nach den EU-Empfehlungen von Laeken 2001 wird ein Schwellenwert von 60 % des Median-Einkommens als Indikator für Armutsgefährdung verwendet.

Einkommensarmutsschwellen lassen sich auch anhand repräsentativer Bevölkerungsumfragen zum notwendigen Mindesteinkommen bzw. zur Bewertung von Einkommenspositionen bestimmen (subjektive Einkommensarmut). Die Armutsgrenze wird an dem Punkt festgelegt, wo sich das tatsächliche Einkommen und die berichteten Mindesteinkommen entsprechen (in der Regel liegt sie für Alleinstehende über dem Wert von 60 % des Medianeinkommens).

Einkommen und Lebenslage: Zur Definition von Armut

Einkommensbasierte Armutskonzepte sind nach wie vor am stärksten verbreitet, jedoch auch der Kritik ausgesetzt. So werden die tatsächlich verfügbaren monetären Ressourcen häufig nur unzureichend erfasst, weil etwa Vermögenswerte und Verschuldung meist ausgeblendet bleiben und auch die Messung von laufenden Einkommen nie fehlerfrei gelingt. Ungeachtet der dominanten Bedeutung monetärer Ressourcen lässt sich nicht umstandslos vom Einkommen auf den Lebensstandard schließen, weil eine Vielzahl vermittelnder Faktoren (soziale Netzwerke und Unterstützung, Eigenproduktion, Haushaltsausstattung, Sonderbedarfe aufgrund von Krankheiten und Behinderungen, Verwendungsweise der Ressourcen, Zeit) unberücksichtigt bleiben.

Aus diesen Gründen wird statt von relativer Einkommensarmut vielmehr von Armutsgefährdung (at-risk-of-poverty) gesprochen. Nach einer (ursprünglich von Peter Townsend vorgeschlagenen) Definition des EU-Ministerrates sind diejenigen Personen als arm zu bezeichnen, »die über so geringe (materielle, soziale und kulturelle) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.« (BMAS 2001: XIV) Armut wird also verstanden als ein durch Ressourcenmangel (im Unterschied etwa zu Krankheit oder Lebensstilpräferenzen) verursachter Ausschluss vom minimalen Lebensstandard. Ressourcenmangel oder ein nicht mehr akzeptabler Lebensstandard allein erfüllen also noch nicht den Tatbestand der Armut: beides muss gleichzeitig vorliegen, und zwar als Kausalzusammenhang.

Vor diesem Hintergrund werden ressourcenbasierte Armutskonzepte auch als indirekte Armutsmessungen bezeichnet. Der Deprivations- oder Lebensstandardansatz versucht demgegenüber, diese Armutsdefinition empirisch direkter umzusetzen. Anhand repräsentativer Umfragen, welche Güter oder Aktivitäten von der Bevölkerung als lebensnotwendig eingeschätzt werden, wird ein minimaler Lebensstandard direkt zu bestimmen versucht und gleichzeitig erfragt, ob sich die Befragten Elemente dieses Lebensstandards aus finanziellen Gründen nicht leisten können (vgl. Andreß 1999).

 

Im Unterschied zum Lebensstandardansatz versucht der Lebenslagenansatz, die unterschiedlichen Lebenslagen – Einkommen, Konsum, Wohnen, Bildung, Gesundheit, Arbeit etc. – umfassender zu dokumentieren, also auch nicht finanziell bedingte Einschränkungen – z. B. Arbeitslosigkeit oder fehlende Bildungsabschlüsse – zu erfassen. Damit werden der Sozialpolitik einerseits konkretere Informationen über eventuelle Mangellagen bereitgestellt, wobei für die ausgewählten Lebenslagenbereiche jeweils Unterversorgungsschwellen definiert werden[39] müssen. Eine zentrale Schwierigkeit besteht darin, diese vielfältigen Informationen in die eine Bestimmung von Armut vs. Nicht-Armut zu überführen.

Armutsdynamik

Eine tiefgreifende Wendung erfuhr die Beschäftigung mit Armut durch die Berücksichtigung der zeitlichen Dimension, also der Dauer von Armutsepisoden und der individuellen Armutsgeschichten (vgl. Leibfried et al. 1995). Implizit denken wir bei Armut an ein dauerhaftes Phänomen: Ressourcenmangel wird erst dann zum Ausschluss von einer minimal akzeptablen Lebensweise und zu nachhaltigen Folgen für die Lebenschancen führen, wenn dieser Mangel von Dauer ist. Andererseits zeigt die empirische Längsschnittanalyse von Armut, dass Armutsepisoden häufig nur von kurzer Dauer sind (etwa weniger als ein Jahr). Häufig sind aber auch wiederholte und/oder mehrjährige Armutsepisoden, wobei diese Haushalte auch in den Jahren der »Nicht-Armut« kaum über prekäre Lagen hinausgelangen. Damit wird bereits deutlich, dass der Einbezug der zeitlichen Dimension die Abgrenzung von Armut vs. Nicht-Armut noch einmal komplizierter macht, weil neben der »Stärke« (z. B. 40 %-Schwelle vs. 60 %-Schwelle) auch die Dauer bzw. das zeitliche Muster von Armut entscheidend ist. Die damit einhergehenden Herausforderungen sind in der Armutsberichterstattung noch nicht eingelöst worden. Die dynamische Betrachtungsweise hat vorrangig in der wissenschaftlichen Armutsforschung große Bedeutung erlangt. Sie ermöglicht etwa die genauere Analyse der Ursachen, die in Armut hineinführen, aber auch wieder aus der Armut herausführen können, und generell die Analyse von Mustern der Armutsbetroffenheit über den Lebenslauf hinweg.

Armutsentwicklung und Armutsrisikogruppen

Die Armutsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland weist einen langfristigen U-förmigen Verlauf auf: Nach einem steilen Absinken der Nachkriegsarmut durchlaufen die Armutsquoten in den 70er Jahren ihre Talsohle, um seit Ende der 1970er Jahre allmählich und relativ kontinuierlich – dabei dem stufenförmigen Anstieg der Arbeitslosigkeit folgend – wieder anzusteigen. Insbesondere seit der Jahrtausendwende hat sich dieser Trend deutlich beschleunigt: die Armut wächst in diesem Zeitraum in Deutschland schneller als in allen anderen OECD-Ländern. Dabei nehmen nicht nur die Armutsquoten zu, sondern auch die Dauer der Armutsepisoden. Die Armut verfestigt sich zunehmend (vgl. Groh-Samberg 2008).

Nach wie vor ist das Armutsrisiko sozialstrukturell ungleich verteilt, mit besonders hohen Armutsrisiken bei Personen aus den Arbeiterschichten, gering Qualifizierten, Alleinerziehenden, kinderreichen Familien und Personen mit Migrationshintergrund – entsprechend kumuliert das Armutsrisiko bei Überlappung dieser Merkmale. Besonders betroffen vom Anstieg der Armut sind Personen aus Ostdeutschland und mit Migrationshintergrund sowie Alleinerziehende. Ebenfalls zugenommen hat die Armut in Erwerbstätigkeit (working poor).

Armut und soziale Ungleichheit

Die wissenschaftliche Armutsforschung befasst sich nicht nur intensiver mit den theoretischen Grundlagen und methodischen Problemen verschiedener Armutskonzepte, sondern analysiert auch die Erscheinungsformen und Entwicklungen der Armut in einer breiteren sozialwissenschaftlichen Perspektive. Hier geht es etwa um die Bewältigungsstrategien und Erfahrungsweisen von Armut, um eine stadt- und ungleichheitssoziologische Verortung von Armut im Sinne einer sozialen Exklusion oder underclass, um Fragen der sozialen Spaltung und ihrer Gefährdung politischer Demokratie, um den Einbezug von Prekarität und Unsicherheit und um die langfristigen Folgen von Armut im Lebenslauf, etwa in Bezug auf Bildung oder Gesundheit, kurz: um die individuellen und gesellschaftlichen Ursachen und Folgen von Armut (vgl. Kronauer 2010).

Reichtum

Die Abgrenzung von Armut als einem untersten Bereich sozialer Ungleichheit, der soziapolitisch nicht tolerierbar und daher zu bekämpfen ist, steht unmittelbar im Kontext von sozialstaatlichen Institutionen der Sicherung eines minimalen Lebensstandards. Für die Abgrenzung von Reichtum am entgegengesetzten Ende der sozialen Ungleichheit findet sich dazu kein Pendant: es gibt keine Schwelle, ab der Reichtum nicht mehr »tolerierbar« ist, und keine sozialpolitische Institution, die eine solche Idee der Deckelung des Reichtums legitimieren[40] könnte (abgesehen vielleicht von der Bemessungsgrundlage in der Sozialversicherung); und es fehlt auch ein Pendant zur »absoluten« Schwelle des Todes. Dass Reichtum trotzdem Eingang in die Armuts- und Reichtumsberichterstattung gehalten hat, lässt sich gleichwohl mit Verweis auf das sozialpolitische Motiv des sozialen Ausgleichs und der Reduktion (übermäßiger) sozialer Ungleichheit begründen. Diese Verallgemeinerung ist im Kontext relativer Armutskonzepte insofern methodisch konsequent, als dass eine Zunahme des Reichtums zu einer Erhöhung des gesellschaftlichen Durchschnittseinkommens führt (zumindest beim arithmetischen Mittel; nicht beim Median, wenn nur die obere Bevölkerungshälfte immer reicher wird!) und in der Konsequenz auch die Armut zunimmt. Im Sinne von Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit macht es daher Sinn, Armut stets auch im Zusammenhang mit Reichtum zu betrachten.

Die Bestimmung einer Reichtumsschwelle ist aus den genannten Gründen jedoch arbiträr. Es hat sich die schwache Konvention gebildet, diese bei dem Zwei- oder Dreifachen des Durchschnittseinkommens anzusetzen. Freilich bereitet auch die Messung von Reichtum erhebliche Probleme, insbesondere, weil hier das Vermögen eine ungleich dominantere Rolle spielt. Die verfügbaren Daten für Deutschland zeigen, dass nicht nur die Einkommensarmut, sondern auch der Einkommensreichtum in den letzten Jahren zugenommen hat. Auch die im Vergleich zum verfügbaren Einkommen ungleich größere Vermögenskonzentration hat zwischen 2002 und 2007 noch zugelegt (vgl. Frick et al. 2010).

Literatur

Andreß, Hans-Jürgen, 1999: Leben in Armut. Analysen der Verhaltensweisen armer Haushalte mit Umfragedaten, Opladen. – Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2001: Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn (2003: Zweiter Bericht; 2008: Dritter Bericht). – Frick, Joachim R. et al., 2010: Die Verteilung der Vermögen in Deutschland. Empirische Analysen für Personen und Haushalte, Berlin. – Groh-Samberg, Olaf, 2008: Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur. Zur Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven, Wiesbaden. – Groh-Samberg, Olaf; Voges; Wolfgang, 2013: Armut und soziale Ausgrenzung; in: Mau, Steffen; Schöneck, Nadine M. (Hg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 3. Aufl., Wiesbaden, 58–79. – Kronauer, Martin, 2010: Exklusion: Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, 2. Aufl., Frankfurt a. M./New York. – Leibfried, Stephan et al, 1995: Zeit der Armut: Lebensläufe im Sozialstaat, Frankfurt a. M.