Zerreißproben

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa
1.LIBERALISMUSSCHWUND UND LIBERALITÄTSVERLUSTE

Ulrike Ackermann
Liberalismus unter Druck – die identitäre Herausforderung

Rechts- und linkspopulistische Bewegungen und Parteien in ganz Europa und den USA stellen die liberalen Demokratien und ihre Institutionen auf eine harte Probe. Sie spielen gerne mit Katastrophen- und Untergangszenarien und werben für radikale Lösungen. Im Kern sind die Populisten antiliberal und antipluralistisch. Sie beanspruchen stattdessen, allein den wahren und vermeintlich einheitlichen Volkswillen zu verkörpern und wollen ihn kompromisslos vollstrecken.

Daran hat auch die Corona-Krise nichts geändert. Schaut man sich die Zusammensetzung der Demonstrationen gegen die staatlichen Schutzmaßnahmen und Freiheitsbeschränkungen an, findet man auch dort illustre Querfronten zwischen links und rechts. Diese politischen Ränder eint ein ausgeprägt antiwestliches Ressentiment: Die Skepsis gegenüber der Globalisierung, durchsetzt von Antikapitalismus, Europaskepsis, Putin-Verehrung, dem Wunsch nach starker Führung und einer harten Hand, das Misstrauen gegenüber der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und stattdessen der Wunsch nach direkter Volksherrschaft und die Lust an der Revolte. Sie kritisieren den Individualismus und feiern das Kollektiv. Es handelt sich dabei auch um einen Aufstand gegen die globalisierte Moderne und die von ihr bescherte grenzenlose, konfliktreiche Unübersichtlichkeit der Welt. Die Revolte richtet sich gegen das kosmopolitischurbane, global vernetzte sogenannte ›Establishment‹.

Umgekehrt kann man in den europäischen Hauptstädten und amerikanischen Metropolen beobachten, wie die Funktionseliten und die politische Klasse ihre Bodenhaftung eingebüßt haben. Deshalb sind es eben nicht nur populistische Ressentiments, Skepsis gegenüber Einwanderung und Fremdenfeindlichkeit, die die europäischen Gesellschaften und ihre gewachsenen sozialen Ordnungen erschüttern. Es sind ganz neue und reale Probleme, nicht etwa nur diffuse Ängste der Bevölkerung, neue Verwerfungen und soziale Spaltungen, die unsere bisher liberalen und offenen Gesellschaften samt ihrer demokratischen Institutionen und das politische Gefüge im Kern berühren. Die alte politische Klasse hat auf diese neuen Herausforderungen bisher keine überzeugenden Antworten gefunden. Die Kluft zwischen den alten, staatstragenden Volksparteien und der Bevölkerung ist im Laufe der letzten Jahre immer größer geworden.

Die großen gesellschaftlichen Debatten werden heute nicht aus der politischen Mitte heraus geführt, sondern entzünden sich von den Rändern her und münden fast umgehend in Polarisierungen. Obwohl das ideologische Rechts-Links-Schema überwunden schien, greift es immer noch.

Ins Zentrum der erneuten Rechts-Links-Konfrontation sind nun vor allem der Streit über das Selbstverständnis der Nation, ihre Grenzen, ihren Zusammenhalt, gesellschaftliche Minderheiten und der Umgang mit ihnen gerückt. Die Polarisierungen in diesen Debatten sind flankiert von einem wachsenden Moralisierungsdruck. Denkverbote und ideologische Scheuklappen machen eine argumentative und rationale Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Krisen und Herausforderungen immer schwieriger.

Die Selbstzweifel an der Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation, bis hin zum westlichen Selbsthass, werden immer lauter. Sie sind nicht nur rechten und linken Rändern eigen, sondern zunehmend in Universitäten, Redaktionsstuben und Kulturinstitutionen beheimatet, wie der Streit über Rassismus und Kolonialismus zeigt. Und dies in einer Situation, in der die über Jahrhunderte mühsam errungenen westlichen Freiheiten und Lebensweisen weltweit unter immer stärkeren Druck geraten sind.

Bereits seit einigen Jahren tobt dieser Kulturkampf, der immer aberwitzigere Züge annimmt. Kinderbücher werden umgeschrieben, weil das Wort ›Negerkönig‹ anstößig ist. Die Diskurspolizei ist auch an den Universitäten unterwegs. Alte Filme werden aus dem Verkehr gezogen, weil sie aus heutiger Sicht rassistisch sind. Statuen vom Sockel geholt. Berühmte Bilder werden abgehängt, weil sie sexistisch seien. Es sind Eingriffe zugunsten eines vermeintlich gerechten, politisch korrekten Regimes, das es jeder Ethnie, jedem Geschlecht und jeder Religion recht machen will. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, nach Reinheit und Säuberung hat sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgebreitet. Verletzte Gefühle einer Gruppe wiegen plötzlich schwerer als die Prinzipien und Ausübung der Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. Obwohl doch gerade sie Antrieb und Resultat eines jahrhundertelangen Kampfes waren und als hohe Güter unsere Lebensweise auszeichnen.

Inzwischen steht auch schon der Aufklärer Immanuel Kant wegen Rassismus am Pranger, weil er in seinen Frühschriften wie andere seiner Zeitgenossen die weiße ›Race‹ als vollkommenste der Menschheit ansah. Eine ›Kritik der weißen Vernunft‹ wird deshalb angemahnt. Doch dem späteren Kant verdanken wir gerade die wegweisende Definition von Mündigkeit und die Entfaltung dessen, was die Würde des einzelnen Menschen ausmacht.

Der Ausgang aus der ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ war die Selbstermächtigung des Individuums, mit dem Ziel seiner Emanzipation aus kollektiven Zwängen, flankiert von Solidarität und Gemeinsinn. Die Errungenschaft aus dieser zivilisatorischen Leistung über Jahrhunderte hinweg war die Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Recht – gerade unabhängig von Hautfarbe, ethnischer Herkunft, Geschlecht oder Religion. Diese Ideale aus der amerikanischen und französischen Revolution sind bis heute nicht vollständig eingelöst, aber immer noch treibende Kraft für die Ausweitung der Chancengerechtigkeit.

Inzwischen scheint unsere Gesellschaft allerdings auf eine frühere Stufe ihrer Entwicklung zu regredieren, weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und der Hordenbildung mit gefeierten Anführern. In den sich selbst bestätigenden ›Communities‹, verstärkt durch die neuen Medien, ist ein besorgniserregender Rückfall in den Tribalismus zu beobachten. Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen. Die fremdenfeindliche Identitätspolitik der Rechten favorisiert einen Kollektivismus, der sein Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft sieht und die universalistischen Prinzipien der Aufklärung und die Idee einer offenen Gesellschaft verwirft. Antiwestlich und antiliberal geriert sich aber auch eine Identitätspolitik von links, die an den Hochschulen und im Kulturbetrieb Raum gegriffen hat.

Eigentlich begann es im Zuge der neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er-Jahren durchaus emanzipatorisch. Mutig schlossen sich Frauen und soziale Minderheiten zusammen, um für ihre Rechte einzutreten. Sie machten auf historische und aktuelle Benachteiligungen aufmerksam und begehrten auf gegen Sexismus und Rassismus. Doch dann breitete sich mit dem Lob der kulturellen Vielfalt und Differenz ein ideologisch gewordener Multikulturalismus aus, der die freiheitlichen Errungenschaften der westlich-europäischen Zivilisation zunehmend relativierte. Immer neue soziale Gruppen, die sich als Opfer von gesellschaftlicher Diskriminierung verstanden, entwickelten ihre jeweils unterschiedlichen Opfernarrative und forderten besondere Rechte für sich. Eine regelrechte Opferkonkurrenz entstand.

Ihr jeweiliger Bezugspunkt ist eine kollektive Identität, die abgeleitet wird aus realer oder vermeintlicher Benachteiligung, der Erfahrung von Unterdrückung oder Verfolgung, die teils Jahrhunderte zurückliegen: Frauen, sexuelle Minderheiten, die LGBTQ+-Community, Migranten, ethnische und religiöse Minderheiten. Es geht dabei um Wiedergutmachung erfahrenen Leids und den Wunsch nach sozialer und kultureller Wertschätzung. Entstanden ist daraus über die Jahrzehnte eine ausgeprägte Identitätspolitik, die ausdrücklich die jeweils kollektiven religiösen, kulturellen, sexuellen und ethnischen Zugehörigkeiten ins Zentrum stellt. Nicht für Individuen werden Rechte eingefordert, sondern für die jeweiligen Opferkollektive, die Sonderrechte beanspruchen, um bisherige gesellschaftliche und historische Benachteiligung zu kompensieren. Aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identitäre Communties entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen lautstarken moralisierenden Feldzug gegen die sogenannte Mehrheitsgesellschaft führen. Wenn ständig in Täter- und Opferkategorien gedacht und agitiert wird, schwindet der gesellschaftliche Zusammenhalt immer mehr und leistet weiterer Polarisierung Vorschub.

Paradoxerweise wird der wohlfeile Antikolonialismus und Antirassismus selbst rassistisch, wenn er die ethnische Herkunft und Hautfarbe zum essenziellen, identitätsstiftenden Zugehörigkeitskriterium der von der Mehrheitsgesellschaft vorgeblich diskriminierten Opferkollektive macht. Erschreckend ist zudem die Rigidität und Wut, die den Wunsch nach Reinigung begleiten: Sprache, Geschichte, Bücher, Plätze, Erinnerung sollen von allem Bösen gesäubert werden. Das ursprüngliche Ansinnen ist totalitär geworden und wäre letztlich eine Entsorgung der Vergangenheit. Und der ›Schuldkomplex‹ (Pascal Bruckner) verleitet angesichts der Gräuel des Kolonialismus und der Sklaverei die Mehrheitsgesellschaft zu paternalistischer Überkompensation gegenüber den nachgeborenen ›Opfern‹ – angetrieben vom Wunsch, die Schuld zu tilgen. Vermeintliche Täter und vermeintliche Opfer bleiben so in einer reziproken, komplizenhaften Dynamik gefangen, die einer sachlichen Aufarbeitung der Geschichte im Wege steht.

Die Erfolgsgeschichte der westlichen Zivilisation hat uns über die Jahrhunderte den besten Lebensstandard, den wir je hatten beschert, Partizipation und Freiräume erweitert. Freilich begleitet von grauenhaften Kämpfen, Katastrophen, Diktaturen, kolonialen Verbrechen, vielen Irrtümern und Inkonsequenzen. Wir können diese widersprüchliche Geschichte nicht glattbügeln oder retuschieren. Wir müssen mit ihr leben. Denn, wie Kant feststellte: »Aus so krummem Holze, aus dem der Mensch gemacht ist, kann nicht gerades gezimmert werden.«

 

Wir brauchen einen lautstarken Liberalismus, um der um sich greifenden fatalen Identitätspolitik, die von Rechten und Linken gleichermaßen betrieben wird, mutig entgegenzutreten und diese zu entzaubern. Die Besinnung auf antitotalitäre Traditionen hilft uns dabei.

Thomas Petersen
Die zerrissene öffentliche Wahrnehmung des Liberalismus

Zum Hamburger Volksgut gehören die ›Klein Erna‹-Geschichten. Das sind Witze aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, überwiegend ziemlich flache Kalauer, öfter auch etwas anzüglich, die präzise den Zungenschlag ihrer Zeit wiedergeben. Sehr treffend karikieren sie den Tonfall der Menschen und ihre oft sinnlosen Sprachmarotten. Für ältere Hamburger, die noch Leute kannten, die so sprachen, wie die Figuren in den Witzen, ist das eine sehr vergnügliche Lektüre. Jüngere und vor allem Nichthamburger stehen dagegen meist fassungslos davor und fragen sich, was denn daran lustig sein soll.

Eine dieser ›Klein Erna‹-Geschichten geht wie folgt:

»Mamma trifft mal Tante Frieda auf Straße.

›Wie geht’s denn?‹ sagt Tante Frieda.

›Och‹, sagt Mamma, ›muscha, aber Pappa is so nervös, ich bin so nervös, und Klein Erna ischa auch schon so furchtbar nervös…, sag mal, Frieda, was is das eigentlich: nervös?‹«1

Den gleichen Witz könnte man auch mit dem Begriff ›liberal‹ erzählen. Ganz selbstverständlich wird das Wort verwendet, viele Menschen glauben auch, dass es auf sie selbst zutrifft, doch was es eigentlich bedeutet, ist ihnen nicht klar.

›Liberal‹ ist das, was die Amerikaner ein ›Wieselwort‹ nennen. Ein Begriff, der nicht zu fassen ist, der einem davonrennt, wenn man versucht, ihn festzuhalten. Nicht, dass er, historisch oder politikwissenschaftlich betrachtet, keine klare Bedeutung hätte, doch im Alltagsgebrauch hat er allenfalls einen sehr vagen Inhalt.

Damit steht das Wort ›liberal‹ nicht allein. Es gibt eine ganze Reihe anderer Begriffe der öffentlichen Diskussion, die zum Teil mit großen Emotionen aufgeladen sind, die ebenso wenig zu fassen sind. ›Öffentliche Meinung‹ ist so ein Fall, auch ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹. Bei letzterem gibt es sogar verbreitete Bedeutungen, die sich gegenseitig ausschließen,2 mit der Folge, dass bei Diskussionen um dieses Thema die Beteiligten hoffnungslos aneinander vorbeireden, ohne es zu bemerken, weil sie zwar denselben Begriff verwenden, aber etwas ganz Unterschiedliches damit meinen.

Der Bevölkerung ist die Unschärfe des Begriffes auch durchaus bewusst. Im Dezember 2020 legte das Institut für Demoskopie Allensbach in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage eine Liste mit Begriffen vor. Die Befragten wurden gebeten anzugeben, bei welchen dieser Begriffe man ziemlich genau sagen kann, was damit gemeint ist, und bei welchen das eher unklar ist. Das Ergebnis: Eine klare Mehrheit von 56 Prozent der Befragten antwortete, bei ›liberal‹ sei eher unklar, was damit gemeint ist. Damit lag dieser Begriff noch vor so schwammigen Stichwörtern wie ›Nachhaltigkeit‹, ›Innovation‹ und – hier allerdings nur mit einem knappen Vorsprung – ›Generationengerechtigkeit‹.3

Die Mehrheit in der Bevölkerung gibt also offen zu, dass sie nicht so genau weiß, was mit dem Begriff ›liberal‹ gemeint ist. Gleichzeitig aber herrscht die Überzeugung vor, dass er etwas Positives bedeutet. Auf die Frage »Wenn Sie den Begriff ›liberal‹ hören, verbinden Sie damit eher etwas Positives oder etwas Negatives?« antworteten im Dezember 2020 63 Prozent, sie verbänden damit etwas Positives, nur 9 Prozent widersprachen.4 Damit hat sich der Klang des Wortes in den letzten Jahren sogar noch verbessert: Im Jahr 2012 waren ›nur‹ 54 Prozent der Befragten der Ansicht, ›liberal‹ bedeute etwas Positives.5 Und so ist es auch nicht überraschend, dass viele Menschen sich mit dem so positiven Stichwort identifizieren. Auf die Frage »Würden Sie sich selbst als liberal bezeichnen, oder würden Sie das nicht sagen?« antworteten im Oktober 2018 50 Prozent der Befragten, sie würden sich selbst als liberal bezeichnen. Schaut man dann, welche Überzeugungen diese Personen bei gesellschaftspolitischen Fragen äußern, sieht man rasch, dass sie das ganze Meinungsspektrum repräsentieren. So findet man beispielsweise viele ›liberale‹ unter den Anhängern aller Parteien. Am größten ist ihr Anteil, wenig überraschend, unter den FDP-Anhängern, doch auch unter den Anhängern von CDU/CSU, SPD und den Grünen bezeichnet sich eine Mehrheit als liberal. Selbst die Anhänger der Linken, deren Programmatik kaum Anknüpfungspunkte zu klassischen liberalen Prinzipien bietet, sagten zu 39 Prozent, sie betrachteten sich selbst als liberal (Abb. 1).

Abbildung 1 ›Liberale‹ in allen Parteien

Frage: »Würden Sie sich selbst als liberal bezeichnen, oder würden Sie das nicht sagen?«

Antwort: »Würde mich als liberal bezeichnen.«


Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 11094 (Oktober 2018)

Diese Kombination: Eine aus Sicht der meisten Menschen vage Bedeutung bei einem gleichzeitig eindeutig positiven Beiklang macht den Begriff ›liberal‹ zu einer begehrten Beute im politischen Wettstreit. Und so hat es in den letzten Jahren intensive Versuche von verschiedenen politischen Strömungen gegeben, den Begriff mit neuen Bedeutungen aufzuladen und für sich in Beschlag zu nehmen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Einführung des Schlagworts ›Neoliberalismus‹ in die politische Debatte in den 1990er-Jahren, die es ermöglichte, Inhalte, die man vorher einfach als liberal bezeichnet hätte, mit dem – zumindest außerhalb volkswirtschaftlicher Fachkreise – neuen, negativ konnotierten Begriff zu belegen. Der positiv belegte Begriff ›liberal‹ ließ sich auf diese Weise gleichsam freiräumen und konnte so als ›neuer‹, ›wahrer‹ oder sonstwie ›besserer‹ Liberalismus gegen die Inhalte in Stellung gebracht werden, für die er ursprünglich stand.

Die Folge dieser Entwicklung ist, dass in den – ohnehin schon vagen – Vorstellungen der Bevölkerung vom Begriff ›liberal‹ ursprüngliche und neu hinzugefügte Elemente durcheinandergehen. Dies zeigen die Antworten auf die zuletzt im Frühjahr 2017 gestellte Frage »Was verstehen Sie unter einer liberalen Partei? Wofür sollte sich eine liberale Partei Ihrer Meinung nach unbedingt einsetzen?« Dazu überreichten die Interviewer eine Liste mit Antwortmöglichkeiten. 64 Prozent der Befragten antworteten daraufhin, dass es ihrer Ansicht nach Aufgabe einer liberalen Partei sei, die Freiheit der Bürger zu schützen. 58 Prozent meinten, eine liberale Partei müsse sich um Chancengerechtigkeit kümmern, also dass jeder unabhängig von sozialer Herkunft oder Geschlecht gleiche Chancen im Beruf und bei der Bildung hat. An dritter Stelle stand, genannt von 55 Prozent der Befragten, der Punkt »Die Belastungen durch Steuern und Abgaben senken«.

Diese politischen Ziele lassen sich sicherlich gut aus den Grundprinzipien des Liberalismus ableiten. Doch erhebliche Teile der Befragten nannten auch Punkte, die man traditionell eher konservativen Parteien zuordnen würde, wie »Dass die Bürger besser vor Kriminellen geschützt werden« (43 %) oder auch eher sozialdemokratische Ziele wie »Die sozialen Unterschiede, die Unterschiede zwischen Arm und Reich abbauen« (43 %), die zwar nicht in direktem Widerspruch mit liberalen Prinzipien stehen, die man aber zumindest nicht als spezifisch liberal bezeichnen würde. Dennoch wurden sie häufiger zu den Aufgaben einer liberalen Partei gerechnet als die klassische liberale Forderung nach mehr Eigenverantwortung der Bürger (Abb. 2).

Dabei ist auffällig, dass die Anhänger der verschiedenen Parteien dazu neigen, ihre eigenen Überzeugungen auf den Begriff ›liberal‹ zu projizieren. Anhänger der Partei Die Linke sind über proportional häufig der Ansicht, eine liberale Partei müsse die Unterschiede zwischen Arm und Reich abbauen, während sie die Verteidigung der Marktwirtschaft nicht so sehr als liberale Aufgabe auffassen. Anhänger der Grünen meinen dagegen häufiger als die anderer Parteien, eine liberale Partei müsse sich besonders um den Umweltschutz kümmern (Abb. 3).

Abbildung 2 Vorstellungen von einer liberalen Partei

Frage: »Was verstehen Sie unter einer liberalen Partei? Hier auf den Karten ist einiges aufgeschrieben. Wofür sollte sich eine liberale Partei Ihrer Meinung nach unbedingt einsetzen?« (Kartenspielvorlage) - Auszug aus den Angaben -


Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 11070 (April/Mai 2017)

Man bekommt den Eindruck, dass sich der Begriff des Liberalismus allmählich zweiteilt. Hin- und hergezerrt zwischen den politischen Lagern, die bemüht sind, ihn zu besetzen und mit neuen Bedeutungen aufzuladen, die mit dem traditionellen Begriffsverständnis wenig zu tun haben, droht er, die Reste seiner Konturen zu verlieren. Jene politische Tradition aber, die die individuelle Handlungsfreiheit des Einzelnen vor die zentrale Organisation des Kollektivs setzt, die die Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat betont, die die Freiheit der Wirtschaft, Eigeninitiative und Eigenverantwortung vor staatliche Regelung und Betreuung stellt, die sich dafür einsetzt, dass der Staat zwar die Regeln des Zusammenlebens festlegt, nicht aber den Bürgern vorzuschreiben versucht, wie sie zu leben hätten, die bei politischer Mäßigung und auf fester demokratischer Grundlage größtmögliche Toleranz auch gegenüber abweichenden Meinungen und individuellen Lebensentwürfen propagiert, kurz jene politische Richtung, die man 200 Jahre lang ›liberal‹ zu nennen pflegte, wird in den kommenden Jahrzehnten einiges zu tun haben, dass ihr nicht ihr Schlüsselbegriff von politischen Wettbewerbern entführt wird.

Abbildung 3 Vorstellungen von einer liberalen Partei in den verschiedenen Parteilagern

Frage: »Was verstehen Sie unter einer liberalen Partei? Hier auf den Karten ist einiges aufgeschrieben. Wofür sollte sich eine liberale Partei Ihrer Meinung nach unbedingt einsetzen?« (Kartenspielvorlage) - Auszug aus den Angaben -


Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 11070 (April/Mai 2017)

1Klein Erna. Ganz dumme Hamburger Geschichten. Nacherzählt und gezeichnet von Vera Möller. Gütersloh [Bertelsmann] [o. J.], S. 64.

2Vgl. PETERSEN, THOMAS: Die Einstellung der Deutschen zum Wert der Freiheit. In: ACKERMANN, ULRIKE (Hrsg.): Freiheitsindex Deutschland 2011 des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung. Frankfurt am Main: Humanities Online 2012, S. 17-56, dort S. 18-20.

3Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 12028.

4Ebenda.

5Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10085.