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IV

«B. in schlechtem Zustand. Er ist stark abgemagert, hat Zahnweh und weiss nicht, warum er festgehalten wird. Die Dauer der Haft hänge von seiner Kooperationsbereitschaft ab, sagt er.»

Die Notiz, die der Diplomat der Schweizer Botschaft Mitte Mai dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Bern übermittelte, war kurz. Er hatte B. nach zwei Monaten Gefangenschaft im Gebäude der Militärjustiz in Teheran während vier Minuten sehen dürfen. Sie hatten sich auf englisch unterhalten müssen und kein Wort zum Fall sprechen dürfen. B. war überzeugt, dass der iranische «Übersetzer», der diesem Treffen beiwohnte, mehr war als bloss Übersetzer. Er war auch überzeugt, dass das Gespräch mit dem Diplomaten der Schweizer Botschaft im Nebenzimmer mitgehört werden konnte, weil eine Öffnung in der Wand nur notdürftig mit einem Holzbrett abgedeckt war.

B. war vor dem Treffen von einem Soldaten rasiert worden, auch die Haare waren ihm geschnitten worden. Er hatte dabei um einen Blick in den Spiegel gebeten. Der Soldat hatte mürrisch eingewilligt, den Raum verlassen und B. eine Minute Zeit gegeben, sich im Spiegel zu betrachten. B. war schlimm erschrocken über das, was er im Spiegel sah. Das war nicht er selber, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickte. Das war einer, der starr geradeaus schaute. Die Eindrücke aus den beiden Augen ergänzten sich nicht zu einem dreidimensionalen Bild, die Blicke trafen sich in einer Distanz von vielleicht zwei Metern hinter dem Spiegel. Das musste die Folge der Konzentrationsanstrengung in den bis zu fünf Stunden täglich dauernden Verhören mit der Augenbinde sein. War er irre geworden?

Als B. dem Diplomaten gegenübersass, gab er sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen und dem Diplomaten das Gefühl zu geben, er würde ihn anschauen. Zweifellos würde dieser seine Eindrücke in die Schweiz vermitteln, und die Angehörigen wären wohl zusätzlich beunruhigt. Es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, sagte B. Er habe einzig schwer auszuhaltende Zahnschmerzen und bitte den Zahnarzt in Zürich, ihm ein bewährtes Schmerzmittel zu verschreiben.

Der Diplomat überbrachte Briefe aus der Schweiz, die vom iranischen «Übersetzer» mit der Zusicherung entgegengenommen wurden, dass sie B. ausgehändigt würden, wenn darin keine unzulässigen Mitteilungen stünden. Ausserdem brachte der Diplomat eine Schachtel mit Schokolade, B.s Nachspeise für den nächsten Monat. B. entnahm seinem Blick, dass der Diplomat die schlimmsten Befürchtungen in bezug auf seine Haftsituation hegte – bis zur Folter. Er fragte allerdings nicht, vermutlich war ihm dies verboten worden, und überdies hätte er B. mit einer solchen Frage in eine heikle Situation bringen können.

Schon vor dem ersten Treffen mit einem Angehörigen der Schweizer Botschaft nach einem Monat Haft war B. von den Verhörern gesagt worden, dass ungehörige Äusserungen seine Haftsituation verschlechterten. Der Botschaftsbesuch war ausserdem von B.s Kooperationsbereitschaft bei der Produktion eines Videos abhängig gemacht worden. Dieses Videoband war wohl für übergeordnete Verantwortliche bestimmt, die den Gang ins Gefängnis scheuten oder für zu beschwerlich hielten. B. hatte vorgängig ein Drehbuch verfassen müssen, in dem er zu den Anschuldigungen Stellung nahm. Das Drehbuch war nach mehreren Streichungen von den Befragern genehmigt worden. Gestrichen werden musste, dass B. am Morgen seiner Verhaftung eine iranische Fabrik besucht hatte, welche inskünftig für die Endmontage der Firmengeräte in Frage kam. Das sei im Zusammenhang mit seinem Verfahren nicht von Bedeutung, sagten die Zensoren.

Die Aufnahme musste viermal wiederholt werden, weil den Verhörern daran gelegen war, dass B. nicht gequält wirkte. Mit der fünften Version von B.s Rezitat gaben sich die Verhörer schliesslich zufrieden, obwohl ihnen lieber gewesen wäre, B. hätte nicht vom Blatt abgelesen, sondern frei gesprochen. Dazu fühlte er sich angesichts der Verschlechterung seines Gesundheitszustands allerdings nicht fähig.

Waren die Verhörer über B.s Verhalten vor und nach dem ersten Besuch aus der Schweizer Botschaft befriedigt? Zunächst schien es so. B. wurde im zweiten Monat seiner Haft in eine grössere Zelle verlegt, nachdem seine erste Zelle hatte geräumt werden müssen, weil sie neu gestrichen wurde. Die zweite Zelle war ebenfalls ebenerdig gelegen, unangenehm war indessen, dass sie unmittelbar an den Toilettenraum grenzte, wo eine schwere Eisentüre immer wieder laut ins Schloss fiel. B. versuchte, früh zu schlafen, damit die Nächte rascher vorbeigingen. Obwohl Gewohnheitsraucher, wartete er die allabendlich durchs Guckloch gereichte Zigarette nicht ab, sondern legte sich nach dem Nachtessen erschöpft schlafen. Er hätte gemäss Gefängnisordnung Anspruch auf zwei Zigaretten pro Tag gehabt, jeweils eine nach dem Mittag- und Abendessen.

Der Diplomat hatte beim ersten Treffen gefragt, wie lange B. noch in Haft bleiben müsse; der «Übersetzer» hatte nicht geantwortet. Warum war er überhaupt noch hier? Warum hatten sie ihn in eine andere Zelle verlegt? Und warum wurde ihm dort das Kopfkissen vorenthalten? War es einfach vergessen worden? B. mochte nicht daran glauben, weil die Betreuer mit ihm sonst sehr pflichtbewusst umgingen und er schon mehrfach auf das fehlende Kopfkissen hingewiesen hatte. Zahnpasta und Zahnbürste hatten nach einer ersten Bitte fein säuberlich in einem Kästchen beim Zelleneingang gelegen, sein Löffel lag auch stets vor der Zellentüre und wurde mit den Mahlzeiten hereingereicht.

Warum also kein Kopfkissen? B. schlief ohne Kopfunterlage nachts kaum mehr. Wolldecken konnte er nicht entbehren, und der Plastikkübel war zu hoch. Er versuchte, mit dem Rücken an die Wand gelehnt zu schlafen, fürchtete aber, vom Gefängnispersonal auf den halbstündigen Kontrollgängen beobachtet und zurechtgewiesen zu werden. Er fühlte sich elend, geschunden von den Demütigungen, heulte ganze Nächte hindurch, obwohl vor seinem inneren Auge ein Satz wie eine Warntafel stand: DO NOT DESPAIR! NICHT VERZWEIFELN!

Während seiner Verkaufstrainings war B. in «positivem Denken» ausgebildet worden, er hatte gelernt, aus jeder Situation das Beste zu machen. Er rechnete sich aus, wie lange sie ihn maximal im Gefängnis behalten konnten. Ein Engländer war unter Spionageverdacht im Iran fünf Jahre lang festgehalten worden. Also musste sich auch B. auf eine fünfjährige Haftzeit einstellen! Das war zwar lang, doch wenigstens war ein Ende absehbar. Inzwischen waren bereits zwei Monate vorbei, bald war es ein Vierteljahr, dann ein halbes, dann ein Jahr, und mit der Gewöhnung an die Haft würde die Zeit schneller vorbeigehen.

Bis zum Ende des zweiten Monats wurde B. in der Haft physisch nicht gefoltert, auch wenn ihm verschiedentlich «körperliche Bestrafung» angedroht worden war. B. hatte nicht protestiert, er war um jeden Preis auf das Wohlwollen des Verhörers angewiesen. Wenn der Verhörer vom Verlauf der Befragungen nicht befriedigt war, obwohl B. längst alles gesagt und mehrfach aufgeschrieben hatte, was er wusste, musste er versuchen, sich noch exakter zu erinnern und die Ereignisse, die interessierten, noch detaillierter wiederzugeben.

«HABE ICH AUSSERHALB DES IRAN JEMANDEM GELD GEGEBEN? JA. VOR EINIGEN JAHREN KAM EIN HOHER TECHNISCHER FERNMELDEOFFIZIER ALLEIN FÜR EINEN MONAT ZU EINEM SPEZIAL-INSTRUKTIONSKURS ZUR FIRMA. ER BEKAM DAS NORMALE TAGGELD, DAS IN VIELEN VERTRÄGEN IM PREIS MITEINGESCHLOSSEN WAR UND ZU LASTEN DER FIRMA GING, TOTAL ETWA 1500 FRANKEN. ER NUTZTE DIE ZEIT AUCH, UM EINIGE MALE ABENDS AM UNIVERSITÄTSSPITAL SEINEN ARM DURCH EINEN SPEZIALARZT UNTERSUCHEN ZU LASSEN, FÜR EINE MÖGLICHE WEITERE BEHANDLUNG. DIE FIRMA HATTE WOHL EINE VERSICHERUNG, ABER DIE DECKTE NICHT ALLES. ER BRAUCHTE MEHR GELD. JA, WIEVIEL GELD WAR DIES? ICH ERINNERE MICH NUN GENAU, 4000 DOLLAR. DIE VERTRETUNG IN TEHERAN GAB MIR DIE ANWEISUNG, VON IHREM REGULÄREN PROVISIONSKONTO BEI DER FIRMA DEM MANN AUSZUHELFEN. DIE VERTRETUNG BEKOMMT FÜR JEDEN VERKAUF EINE PROVISION. FÜR WAS SIE DIESES GELD BRAUCHT, IST IHRE SACHE. ZUERST MUSS EINE SOLCHE FIRMA EINMAL IHRE KOSTEN DECKEN FÜR PERSONAL, BÜRO…»

«Don’t make it too long!» wurde B. jetzt immer wieder unterbrochen, wenn er zu lange am Schreiben war. Der Verhörer war in diesen Tagen zunehmend ungeduldig geworden, verliess den Raum häufiger als früher, teilweise mitten im Verhör. B. musste während der Abwesenheit der Befrager aufstehen und die Hände hinter dem Kopf hochnehmen. Das war Demütigung und Peinigung, fast schon Tortur, wenn die Abwesenheit eine halbe Stunde dauerte, B.s Arme langsam runtersackten und der Verhörer plötzlich wieder im Raum stand und ihn anherrschte, die Hände hochzunehmen.

B. tat alles, um den verbliebenen Rest des Wohlwollens beim Verhörer nicht aufs Spiel zu setzen. Er durfte diesen Mann nicht hassen! B. spürte andererseits auch keinen Hass in der Stimme des Verhörers, im Unterschied zu einem Vorgesetzten, der den Gang der Verhöre offenbar überwachte. Diesem Chefverhörer war B. vereinzelt in den Gängen des Verwaltungsgebäudes begegnet und war über den zynischen Unterton in dessen Stimme jedesmal erschrocken.

«Wir wissen alles über Sie! Sie sind ein Spion. Wir wissen, dass Sie lügen! Sie werden jetzt reden. Sonst werden wir Ihnen die Augen ausbrennen, und Sie werden singen wie ein Vogel!»

Die Drohung mit dem Blenden traf ins Schwarze. Seit Wochen war B. die Augenbinde aufgesetzt, nur wenn er in der Zelle allein war, durfte er sie abnehmen. Nachts waren ihm Fasern der Wolldecke ins Auge geraten, er hatte Mühe, das eine Auge überhaupt zu öffnen. Sah er noch richtig? Worauf war der mit der zynischen Stimme aus? War seine Drohung ernst gemeint? Zwar hatte ihm auch sein Verhörer verschiedentlich gedroht, dass sie ihn «umbringen» könnten, hatte die Drohung aber stets zurückgenommen, wenn er merkte, dass B. erschrak.

 

«Alles nur Spass!»

Der Verhörer hatte Phasen, in denen er eine Panik von B. befürchten musste, stets mit einem herzlichen Lachen entspannt und wiederholt betont, dass er es gut meinte. Als er die Briefe aus der Schweiz aushändigte, stellte er es als sein besonderes Verdienst dar, dass sie die Gefängniszensur passiert hatten. Durch die Lebenszeichen der Verwandten sollte B.s Erinnerung an die Schweiz wachgehalten werden und damit auch der Wunsch, in die Schweiz zurückzukehren. Wenn B. endlich die Wahrheit sage, werde er umgehend an den Flughafen gebracht und gegen einen iranischen Staatsbürger ausgetauscht, der in den USA inhaftiert sei. Es hänge einzig von ihm ab, ob er schon am nächsten Tag bei Frau und Tochter sei.

Seine Frau hatte geschrieben, sie würden ihn sehr vermissen. Um nicht den ganzen Tag verzweifelt auf ein Telefon zu warten, hätten sie begonnen, die Räume im Haus neu zu streichen. Christina versuche den Vater zu ersetzen, würde in seinem Bett schlafen und samstags den Rasen mähen. Den achtzigsten Geburtstag der Mutter hätten sie in seiner Abwesenheit bei seinem Bruder zu feiern versucht, um nicht einfach zu Hause zu sitzen und zu warten. Die Mutter sei jetzt täglich bei ihnen, und sie versuchten sie zu beruhigen, so gut es eben ging.

«Mein lieber Sohn Hans», hatte seine Mutter geschrieben, «ich mache mir Sorgen um Dich. Hast du das Nötigste? Hoffe ja. In Gedanken bin ich immer bei Dir.»

«Kämpfe weiter, Vater!» stand im Brief der Tochter.

Göttikind Fränzi schickte Zeichnungen und berichtete vom jungen Elefanten und den kleinen tolpatschigen Braunbären im Basler Zoo. Ausserdem sei sie eben aus dem Blauringlager zurückgekehrt: «Es war sehr lustig, wir machten eine Yetijagd im Schnee.»

Die Schwester schrieb, dass in der Schweiz inzwischen die ersten richtig warmen Tage gekommen seien. Der Schwager habe eben seine erste Frühlingspfeife auf der Terrasse geraucht. Der kleine Matthias sitze ununterbrochen im Sandkasten.

In seinen Gedanken schweifte B. während der Verhöre immer öfter in die Schweiz zurück. Die Ungeduld des Verhörers wuchs. Die Wendung, wonach sie «viele Methoden» hätten, um die Wahrheit herauszufinden, tauchte während des dritten Verhörmonats häufig auf – genauso wie jene, wonach ihm nun «körperliche Bestrafung» bevorstünde.

Eines Tages wurde B. im langen Gang mit den Verhörzimmern bis zur zweitletzten Türschwelle geführt. War dahinter der Folterraum? B. wurde geheissen einzutreten und versuchte unter der Augenbinde durchzusehen. Dieser Verhörraum unterschied sich in der Einrichtung nicht von den früheren, bloss durch die Geräusche. B. hörte Schläge und immer wieder eine winselnde Stimme. Worte konnte er nicht verstehen, doch dem Tonfall nach schien einer seine Verhörer anzuflehen, ihn nicht weiter zu quälen, er werde alles sagen. B. befand sich offenbar im Raum neben der Folterkammer, die nur durch eine dünne Zwischenwand von ihm getrennt war.

«Morgen bist du an der Reihe», sagte der Verhörer, «du wirst körperliche Bestrafung erhalten.»

B. wurde in seine Zelle zurückgeführt. Diese Nacht quälte er sich mehr als in den früheren Nächten. Körperliche Bestrafung? Würde er nach islamischem Recht eine Anzahl Peitschenhiebe erhalten gemäss der Schwere seines Vergehens? Für unerlaubten Alkoholkonsum würden sie ihm vielleicht vierzig Peitschenhiebe geben, mehr nicht. B. hatte nach zwei Monaten Haft ein Buch über islamische Morallehre erhalten. Die Regeln hatten ihm durchaus eingeleuchtet. Ehebruch streng zu ahnden in einer ländlichen Siedlungsstruktur, wo die Höfe weit auseinanderliegen und die Männer während der Arbeit oft wochenlang fort sind, schien ihm richtig. So stand es schliesslich auch im Alten Testament. Und Alkoholkonsum war hier nun einmal verboten. Er war zwar nicht Moslem, aber wenn er die Sitte des Landes übertreten hatte, musste er dafür die entsprechende Anzahl Peitschenhiebe hinnehmen.

Und wenn sie ihn foltern würden? B. war unschuldig, das konnte ihn davor bewahren, etwas zu gestehen, was er nicht getan hatte. Aber würde unter der Folter nicht jeder sagen, was die Peiniger hören wollen? Würde nicht auch er notfalls etwas erfinden, damit sie aufhörten? Wenn sie ihm tatsächlich die Augen ausbrennen würden? Die Augenbinde hatte ihn schon nahezu blind gemacht, würden sie vor dem nächsten Schritt zurückschrecken? Was, wenn die Soldaten im Duschraum mit ihrem makabren Fussballspiel nicht bloss übermütig waren, sondern ihm angedeutet hatten, was die logische Konsequenz eines ausbleibenden Geständnisses sein würde? B. hatte noch ein zweites Buch in der Zelle erhalten: «The Voice of Justice» – eine heilige Kriegsgeschichte aus der Zeit der frühen Ausbreitung des Islams gegen alle Widerstände, voller Martyrien, Mord und Totschlag. Sollte ihm diese Stimme der Gerechtigkeit einen versteckten Hinweis darauf geben, was ihm bevorstand, wenn er sich den Interessen des islamischen Staates nicht beugen würde?

Am andern Tag wurde B. wieder in den gewohnten Verhörraum geführt. Die Befragungen gingen im bisherigen Stil weiter. Es sollte sich wohl erst zeigen, ob die Drohung mit körperlicher Bestrafung genügt hatte, um B. zu einem Geständnis zu bewegen. B. versuchte die Fragen, die ihm der Verhörer wieder und wieder gestellt hatte, mit neuen Formulierungen zu beantworten. Vielleicht war es ihm bis anhin einfach nicht gelungen, sich exakt verständlich zu machen? Aber ein Geständnis konnte und wollte er nicht ablegen; er war kein Spion, da hätten sie ihm tausendmal mit körperlicher Bestrafung drohen können!

«Okay», sagte der Verhörer, «wie du willst. Du kannst in deine Zelle gehen und mittagessen. Am Nachmittag wird es körperliche Bestrafung geben.»

B. ass an diesem Mittag noch weniger als sonst, vielleicht ein Viertel des Reises. Zunge und Mund waren trocken, und er war kaum in der Lage, die Reiskörner herunterzuschlucken. Hatten sie ihn am Morgen nur deshalb nicht gefoltert, weil der Raum belegt war? Erhielt dort erst ein anderer körperliche Bestrafung? Vielleicht derjenige, den er gestern gehört hatte? Konnte eine solche Tortur mehrere Tage dauern?

Am Nachmittag brachten sie ihn erneut in die Verhörzelle. Wieder und noch eindringlicher wurden B. dieselben Fragen gestellt. Für welches Land er nachrichtendienstlich tätig war? Welche Informationen er sich mit Bestechung erkauft habe? Etwa gar Codes? An wen er solche Informationen weitergegeben habe? Wieder begann B. zu schreiben.

«ALLE GERÄTE WERDEN VON DER FIRMA NEUTRAL, ALSO UNPROGRAMMIERT AN DEN KUNDEN GELIEFERT. DIESER GIBT EINEN VON IHM SELBST ERZEUGTEN CODE EIN, DIESEN KENNT DER FABRIKANT ALSO AUCH NICHT. JETZT ERST IST DAS GERÄT «SCHARF» UND WIRD GEHEIM. MAN KANN DIESE ELEKTRONISCHE SCHLÜSSELINFORMATION INNERT SEKUNDEN MIT EINEM KNOPFDRUCK WIEDER LÖSCHEN. WENN BEI GEWISSEN GERÄTEN JEMAND VERSUCHEN SOLLTE, DAS GERÄT AUF IRGENDEINE ART ZU ÖFFNEN UND ELEKTRONISCH AUS DEN ELEKTRONISCHEN GEDÄCHTNISSPEICHERCHIPS DIE GEHEIMEN CODES HERAUSZULESEN, SO WIRD DIESER CODE SOFORT AUTOMATISCH GELÖSCHT. WENN EIN MODERNES GERÄT MIT GELÖSCHTEN SCHLÜSSELN IN UNBEFUGTE HÄNDE FÄLLT, DANN IST ES FÜR DIESEN WERTLOS GEWORDEN. WENN EIN GERÄT MIT NOCH INTAKTEN SCHLÜSSELN IN UNBEFUGTE HÄNDE FÄLLT, SO WEISS DIES SEIN EHEMALIGER BESITZER JA DOCH MEI-STENS! ER WIRD SICH DAMIT ABSICHERN, DASS ER IN REGELMÄSSIGEN ODER UNREGELMÄSSIGEN ABSTÄNDEN NEUE SCHLÜSSEL PROGRAMMIERT. DAMIT AUCH NOCH EIN VERRAT DURCH DEN BENÜTZER SELBER AUSGESCHLOSSEN WERDEN KANN, GIBT ES GERÄTSCHAFTEN, WELCHE Z. B. MIT EINER SCHLÜSSELPISTOLE PROGRAMMIERT WERDEN KÖNNEN, VON DEREN INHALT AUCH DER BENÜTZER KEINE KENNTNIS HAT. DAS PROGRAMMIERGERÄT FÜR EINEN SOLCHEN SCHLÜSSELLADEZUSATZ ERZEUGT AUCH VERSTECKT DIE ZUFÄLLIG ERZEUGTEN CODES. DAMIT IST ALSO AUCH EIN VERRAT AUSGESCHLOSSEN ODER GESTÄNDNISSE UNTER FOLTER. NIEMAND KENNT NICHTS.»

Nach kurzer Zeit wurde B. in die Zelle zurückgebracht. Er war an diesem Tag nicht in den Folterraum geführt worden. Wollten sie es doch nicht darauf ankommen lassen, ihn direkt physisch zu peinigen? Fürchteten sie die körperlichen Spuren? In zwei Wochen war wieder ein Treffen mit einem Schweizer Diplomaten fällig. Sie hätten es ausfallen lassen können, aber bis jetzt hatte ihm die iranische Militärjustiz den monatlichen Besuchstermin zugestanden. Würde B., wenn er aus dem Gefängnis herauskam und in die Schweiz zurückkehrte, nicht über eine allfällige Folter berichten? War das ein Schutz für ihn, oder hiess es im Gegenteil, dass sie ihn nicht mehr hinauslassen würden, wenn sie ihn erst einmal gefoltert hatten?

Am nächsten Tag wurde B. in den Raum am Ende des Ganges geführt, aus dem er die Schläge und das Winseln des anderen gehört hatte. Dieser Raum hatte dieselbe Eisentüre wie die Verhörräume, denselben Hebel zum Öffnen, aber davor hing ein schweres Hängeschloss. B. versuchte angestrengt, unter der Augenbinde hervorzusehen, was sich in diesem Raum befand, und wurde von seinen Begleitern für einmal auch nicht daran gehindert. Er sah, dass der Raum halbdunkel war, sah die Beine eines schweren Holzstuhles mit Lederriemen, um Arme und Beine festzubinden. War das ein elektrischer Stuhl? B. suchte nach Stromkabeln, sah aber nichts. Neben dem Stuhl war eine Bettstatt aus Brettern.

«You lay here», herrschte ihn der Verhörer an.

Bedeutete «lay» liegen oder hiess es «lie» für lügen oder bewusst beides? Im Slang des Verhörers war dies schwer auszumachen.

«For what?!» schrie B.

«Lay here!»

Diesmal hiess es klar, B. solle sich auf die Bettstatt legen, vor die er geführt worden war. B. legte sich auf den Bauch. Der Verhörer fesselte ihm Hände und Füsse und band die Stricke an der Bettstatt fest.

«Du musst keine Sorge haben, ein Geistlicher ist anwesend», sagte der Verhörer.

B. hatte vermutet, dass sich neben dem Assistenten noch ein weiterer Mann im Raum befand, im Hintergrund meinte er, eine leise Bemerkung vernommen zu haben. Der Hinweis, dass es sich um einen Geistlichen handelte, schien B. allerdings wenig Grund zur Beruhigung, denn seine Anwesenheit hier konnte auch bedeuten, dass er ihn notfalls in den Tod zu begleiten hatte. Der Verhörer hielt B. Auszüge aus den Verhörprotokollen seitlich hin.

«Lies vor, was du geschrieben hast: Du hast Iranern während Trainingskursen in der Schweiz Geld gegeben, ‹Taggelder› nennst du sie – dies ist Bestechung! Sie haben dir dafür Codes von verschlüsselten Übermittlungen verkauft. Wem hast du die Schlüssel weitergegeben? Du hast ein Agentennetz im Iran aufgebaut – wir wissen es!»

B. erwiderte ruhig, dass dies nicht wahr sei. Er habe keine Codes erhalten und sei auch nie von einem Nachrichtendienst oder von Drittpersonen in solcher Absicht kontaktiert worden.

«Du lügst!» schrie der Verhörer, «wir wissen, dass du mit den USA und Deutschland zusammenarbeitest, ausserdem mit Ägypten und China. Deine Firma ist ein Spionagezentrum und verkauft Informationen weiter.»

Die Stimme des Verhörers wurde drohend und überschlug sich.

«Was ist der Zusammenhang zwischen deiner Firma und Siemens?»

B. kam das Grauen. Darauf wollte der Verhörer also hinaus! Man vermutete, dass seine Firma zur Siemens-Gruppe gehörte und mit deren Verbindungen zum deutschen Bundesnachrichtendienst Teil des westlichen Spionagenetzes sei – mit vollem Wissen und aktiver Mitarbeit von ihm selber. Vermutlich hatten die iranischen Behörden Kenntnis erhalten, dass seine Firma in deutschem Besitz war und im Beirat zwei Siemens-Leute sassen, darunter einer aus dem Bereich «Sicherungstechnik».

B. versuchte ruhig zu bleiben, wies sachlich darauf hin, dass die Firma von Siemens Fernschreiber und Fernmeldecomputer bezöge. Es sei wichtig, hochwertiges Material einzukaufen, damit sichergestellt sei, dass die Informationen nicht von der Tastatur oder vom Bildschirm abstrahlen würden wie bei normalen Geräten und so mit Hilfe von Funkempfängern «mitgelesen» werden könnten. Damit wäre jede Chiffrierung wertlos.

«Sie ist auch wertlos, wenn die Schlüssel verraten werden!» schrie der Verhörer.

«Als technischer Verkäufer kenne ich die Schlüssel verkaufter Chiffriergeräte nicht!»

«Verstell dich nicht. Du hast die Chiffrierschlüssel von Libyen an die USA verraten.»

Auch das wollten sie ihm anhängen! Nach der Bombardierung der libyschen Hauptstadt Tripolis durch die US-Luftwaffe im April 1986 war eine Kontroverse um seine Firma entstanden. Die deutsche Presse hatte damals gemeldet, dass ein Funkspruch von Tripolis an das libysche Volksbüro in Ost-Berlin zum Bombenanschlag auf die GI-Diskothek «La Belle» von einer Anlage «im Herzen der Bundesrepublik» abgehört worden sei. Der deutsche Bundesnachrichtendienst habe den libyschen Geheimcode knacken können und dem US-Nachrichtendienst National Security Agency (NSA) die nachträgliche Entschlüsselung der Ankündigung des Anschlags ermöglicht. Der damalige US-Präsident Ronald Reagan bezeichnete daraufhin die Beweise für Moamar al-Kathafis Urheberschaft des Attentats als «unwiderlegbar». In der «Financial Times» hiess es danach, dass Libyen Geräte von B.s Firma zur Verschlüsselung brauche. Eine deutsche Konkurrenzfirma hatte die Anschuldigung genüsslich ausgeschlachtet und ihren Kunden in einem Rundbrief bekanntgegeben. Hatten auch iranische Stellen dieses Schreiben erhalten? B.s Firma hatte danach umgehend dementiert. Sie hatte zwar Libyen beliefert, doch die fraglichen Geräte des Aussenministeriums waren bei der Konkurrenz geordert worden.

 

«Mit dieser Sache habe ich nicht das Geringste zu tun», antwortete B., «was ich weiss, weiss ich aus der Presse.»

Es folgten Anschuldigungen im Zusammenhang mit dem Fall Bachtiar. Ein französisches Nachrichtenmagazin hatte Ende des vergangenen Jahres berichtet, dass die Anfrage des iranischen Geheimdienstes VEVAK am 7. August 1991 an die Botschaft in Paris, ob «Bachtiar tot sei», ebenfalls entschlüsselt worden war. Der ehemalige iranische Ministerpräsident Schapur Bachtiar, eine prominente Schlüsselfigur der iranischen Opposition im Exil, war einen Tag zuvor in Paris ermordet worden, die Polizei hatte Bachtiars Tod aber noch nicht gemeldet. Wegen Verdachts auf Beteiligung an dieser Tat wurde der iranische Staatsbürger Zeynol Abedin Sarhadi am 23. Dezember 1991 nach Verlassen der iranischen Botschaft in Bern verhaftet. Frankreich verlangte seine Auslieferung. B.s Fall schien demnach indirekt mit dem von Sarhadi zu tun zu haben. Wenn er direkt Geisel gewesen wäre, um die Auslieferung Sarhadis zu verhindern, hätten sie ihn nicht an die Bettstatt fesseln brauchen!

«Auch damit habe ich nicht das Geringste zu tun», antwortete B. noch immer ruhig.

«Wir wissen, dass du jahrelang spioniert hast. Sogar während des Kriegs mit dem Irak bist du in den Iran gekommen, um Nachrichten zu beschaffen. Ein einfacher Verkäufer hätte das nicht gemacht!»

Tatsächlich war B., als Teheran während des Krieges mit dem Irak zeitweilig nicht mehr angeflogen werden konnte, im Mai 1986 über Abu Dhabi geflogen, von dort nach Bandar-Abbas und Shiraz und dann rund 1 000 Kilometer mit dem Auto gefahren, um die iranischen Kunden während der Bombardierung Teherans nicht im Stich zu lassen. Das war damals von zahlreichen Regierungsstellen besonders geschätzt worden.

Der anwesende Geistliche war die ganze Zeit über ruhig geblieben und hatte sich nur ein- oder zweimal flüsternd mit dem Verhörer ausgetauscht. War er einverstanden mit dieser Tortur? Konnte B. nicht wenigstens von ihm Verständnis erwarten? B. hatte schliesslich gute Beziehungen zur iranischen Geistlichkeit, seit 1987 ein Ayatollah die Firma in Steinhausen besucht hatte. Der frühere Stadtpräsident von Zug, inzwischen Verwaltungsratspräsident der Firma, hatte im familieneigenen Hotel ein spezielles Mittagessen nach iranischen Essgepflogenheiten servieren lassen. B. hatte dem Ayatollah medizinische Betreuung vermittelt und dafür ein iranisches Goldstück geschenkt bekommen. Womöglich würde sich der Geistliche für ihn verwenden, wenn er auf diese Ehrung hinwies?

«Weisst du, was das ist?» fragte der Verhörer unvermittelt und zeigte in B.s seitlichem Blickfeld unter der Augenbinde einen aufgerollten Strick.

«Das ist eine Geissel», sagte B.

«Ja», sagte der Verhörer, «du wirst jetzt bestraft.»

Der Verhörer schob B.s Gefängnisjacke hoch, so dass der Rücken frei wurde. Dann holte er aus und knallte den Strick mit fürchterlicher Wucht – auf die Bettstatt, gleich neben B.s Füsse.

«So, jetzt weisst du, was auf dich zukommt», sagte der Verhörer und band B. los, «next time it will be real.»

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