Paaf!

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

»Okay«, lachte Xaver gutmütig mit. »Dann sei hiermit schon mal drauf hingewiesen, dass es in Pöckensdorf einen Gulasch Peng Paaf! gibt. Verzehr auf eigene Gefahr.« Noch mehr Gelächter. Bring die Rede auf Schwiegermütter, ehelichen Sex oder aufs Furzen, dann hast Du deine Lacher sicher; da unterscheidet sich der alternative deutsche Konferenztisch kein bisschen von irgendeinem Stammtisch.

Und zu alldem hatte natürlich Dörmann sein Scherflein beizutragen. Bei einer jeden, aber auch jeden Wortmeldung hatte er einen Kommentar parat, äußerte erst mal eine Menge Verständnis für jeden Beitrag und jede Bedenken, schmierte jedem Bedenkenträger erst ordentlich Honig ums Maul, um ihn oder sie weich zu klopfen für eine anschließend schleimig vorgetragene Bitte um Verständnis für die Interessen und Nöte der anderen. Und alle ließen sich von ihm besänftigen und in konstruktive Bahnen leiten, wurden kooperativer, machten bereitwillig Abstriche von ihren Forderungen, waren bemüht, tragfähige Kompromisse zu erreichen. Und immer wieder erntete Dörmann beifälliges Nicken, besonders vom alten Homburg und dem vor allem an einem möglichst reibungslosen Ablauf interessierten Janssen.

Widerwillig musste auch ich zugeben, dass er das wirklich sehr geschickt anstellte. Aber es käme sicher auch niemand auf die Idee, ich müsse, gezwungen, ihm bei der Arbeit zuzusehen, einen Proktologen ins Herz schließen, bloß weil er sein Handwerk besonders gut beherrscht.

Doch selbst Dörmann musste erst mal schlucken, als die Tagesordnung bei dem neunseitigen Fax von Helfried Broth ankam. Dem zufolge waren, sinngemäß, alle teilnehmenden Musiker höchstenfalls Vorprogramm dritter Klasse, selbstverständlich nach den Wünschen des Meisters sortiert, und das Paaf! müsste eigentlich Helfried-Broth-Gala heißen. Krönung war, dass er damit drohte, gar nicht erst aufzutreten, wenn das Plakat zum Festival, das auch für die Bewerbung des Films benutzt werden sollte, nicht noch geändert würde. Die Scherdorfer Freaks hatten dies, wie immer, von einem Comic-Zeichner aus ihren eigenen Reihen entwerfen lassen; in diesem Jahr marschierte auf gelbem Hintergrund unter einem knallrot explodierenden Paaf! eine Meute knollennasiger bunter Demonstranten auf den Betrachter zu, Transparente über den Köpfen, auf denen so was wie Atomkraft? Nein danke! stand und WAA? Nee! – und die Namen der zugkräftigsten Kapellen des Festivals. Und da war Broths größtes Problem – es gab, ziemlich zentral, zwei gleich große Transparente, und sein Name auf dem einen war deutlich kleiner geschrieben als der von Ming Tant auf dem anderen, derzeit seine heftigsten und verhasstesten Konkurrenten. Seit drei Monaten wechselten die beiden sich an der Spitze der Pop-Hitparaden ab, er mit seiner Single Aus Essen komm ich (zu Essen werd ich), die Kölner mit ihrem durchaus dazu passenden ersten Versuch in Hochdeutsch, Marlene hat gekocht. Und nun fiel der Kohlenpott-Primadonna so was ein, ein paar Tage vor dem Festival …

»Na, dann kommt er eben nich’«, sagte ich trocken. Etliche Köpfe ruckten zu mir herum, und es trafen mich ein paar Blicke zwischen Steinigt ihn! Er hat gelästert! und Wer ist denn dieser Penner? »Na ja«, sagte ich, »wer wird ihn schon vermissen? Auf der Bühne kaum jemand, hinter der Bühne kein Schwein, und vor der Bühne werden die Bravo-Leser auch nicht so zahlreich vertreten sein. Mal davon abgesehen, dass wir hier über ein paar hundert Plakate reden, die seit sechs Wochen gedruckt sind und seit vier Wochen in ein paar Jugendzentren des Landes und an ein paar handverlesenen Bauzäunen hängen. Wenn überhaupt – wahrscheinlich hängen sie eher wieder in jedem dritten Wohngemeinschafts-Klo.«

»Vielleicht vergessen Sie die ganzseitigen Anzeigen in diversen Musikzeitschriften und Wochenmagazinen, die wir geschaltet haben?«, sagte der Heini von Broths Plattenfirma. »Und das Kinoplakat?«

»Die Radio-Spots«, ergänzte Broths Verleger. »Die hat uns auch niemand geschenkt.« Veedelnoh sprang mir bei:

»Na, bei euren derzeitigen Umsätzen werdet Ihr wohl dringend ein paar Werbekosten geltend –»

»Junger Mann«, unterbrach Homburg ihn müde, »was wissen Sie schon vom G’schäft?«

»Aber hier geht’s doch nicht um eure Geschäfte!«, protestierte das Scherdorfer Anti-Atom-Mädel. »Hier geht’s um …, um …, also …«

»Genau«, sagte ich. »Und davon abgesehen – wenn ich Grafiker wäre, müsste ich bei zwei gleich großen Kästchen Helfried Broth & Die Aufsteiger auch kleiner schreiben als Ming Tant …«

Aber der Kollege Helfried hatte in den letzten drei Jahren an die anderthalb Millionen Platten verkauft. Dass er das eventuell weniger seiner Musik als seiner tragenden Rolle in der überaus erfolgreichen Fernsehserie Leinen los! zu verdanken hatte, interessierte hier niemanden. Umsatz ist Umsatz. Und wenn Broth nicht auftrat, würde er nicht auf dem Album vertreten sein. Und wenn er nicht auf dem Album vertreten war, würde davon womöglich ein Drittel der geplanten Hunderttausender-Startauflage in den Regalen liegen bleiben. Also hätte ich hier in meinen schäbigen Klamotten auf dem Tisch herumstehen, ein volles Aquarium auf dem Kopf balancieren, mit drei Händen voll Götterspeise jonglieren und gleichzeitig die Goldberg-Variationen furzen können – ich spielte hier keine Rolle; ich war bloß einer dieser Musiker

Also musste Dörmann all seine diplomatischen Fähigkeiten aufbringen, um eine Kompromisslösung zu finden. Einer der Vorschläge dazu lautete, Broth und seine Kapelle sollten, um seiner besonderen Stellung in der deutschen Musiklandschaft willen, erstens an beiden Abenden als Top Act auftreten, und zweitens solle man doch darüber nachdenken, bei der geplanten großen All-Star-Session zum Abschluss statt des unausweichlichen Knocking On Heaven’s Door vielleicht ein paar von Broths Hits zu spielen. Tonlos vor sich hin pfeifend holte Veedelnoh einen Würfel aus der Tasche, ließ ihn über die Tischplatte klackern und knallte die Hand darauf, bevor man sehen konnte, welche Zahl oben lag.

»Verlierer geht«, sagte er zu mir.

»Unpaar«, sagte ich. Noh hob die Hand. Eine Vier. »Vielleicht auch besser so«, brummte ich. »Bevor ich ihnen anbiete, Zu Essen werd ich als Schlagzeugsolo aufzuführen, mit ein paar Pizza Funghi als Becken und Helfrieds Arsch als Bassdrum.«

»Und Kippen«, sagte Noh und gab mir einen Zehner.

Also ging der Verlierer.

In die Kneipe um die Ecke von Pfundigs Büro. Bier holen.

Und Kippen.

Auf dem Weg dorthin kam ich an einem heruntergekommenen Altbau vorbei, der aussah, als sei er von Hausbesetzern bewohnt. Unter einem offenen Fenster im ersten Stock hing ein Bettlaken mit der obligaten Anti-AKW-Sonne; aus dem Fenster schallte Musik. Jemand grölte mich an, ich solle kaputt machen, was mich kaputt macht. Ich überlegte, womit oder mit wem ich da wohl am besten anfinge, und assoziierte einen endlosen Reigen von Arschgeigen, die sich gegenseitig kaputt machten, weil sie einander kaputt machten, weil sie einander kaputt machten, weil sie einander kaputt machten. Ich fragte mich, ob ich da heil wieder rauskommen würde. Oder überhaupt irgendjemand …

»Aber wo wir eben beim Thema Sanitäranlagen waren«, nahm gerade einer der Scherdorfer Stadt-, Land-, Flussräte einen anderen Faden wieder auf, als ich drei schnelle Helle später wieder zurück kam, ein paar Flaschen Löwenbräu unterm Arm. Und Kippen. »Da sind wir doch wohl angesichts der neuesten Zahlen, was die erwartete Menge der Zuschauer angeht, anscheinend längst nicht mehr auf dem neuesten Stand. Wir in Scherdorf haben da ein interessantes Angebot von einem örtlichen Unternehmer vorliegen …«

»Ach, der Heugen«, brummte Homburg.

»Ah, Sie kennen den?« Homburg schwieg und beschäftigte sich angelegentlich mit seiner schweren Armbanduhr, als hätte er schon zu viel gesagt, sein Lächeln ungefähr so dünn wie der Kaffee in einem Mitropa-Speisewagen

»Na, wer kennt den net?«, sprang Pfundig ein. »I könnt’ dreimal im Jahr nach Mallorca flieg’n, wenn i den öfters b’schäftigen würd’.«

»Aber der hat die Kapazitäten, die mir brauch’n«, beeilte sich der zweite Ratsherr zu versichern und versuchte, nicht allzu ertappt auszusehen. Aber sicher war Meerluft gut für seine Augen. Er trug eine Brille, so dick wie der Boden von Apfelkorngläsern. Ich musste es ja wissen, so oft, wie ich da schon durchgeguckt hatte.

»Mag sein«, sagte Pfundig und wies auf die Bühnenleute. »Aber denen dürfen’s von dem seine Preisvorstellungen scho’ fei’ goar nix erzähl’n.« Hochgezogene Augenbrauen bei Licht, Ton und Catering.

»Aach«, winkte Stadtrat Nummer eins ab. »Mit dem kann man verhandeln!«

»Mit dem Heugen verhandeln?!« Pfundig lachte. »Na, viel Vergnügen!«

»Scho’«, sekundierte Stadtrat Nummer zwei. »Mir müssten eam halt bloß an kleinen G’fallen tun …«

8 – Martina


Bonn, Montag, 21. Juli 1986

Das schwere Kernkraftwerkunglück von Tschernobyl am 26. April 1986 zeigt besonders deutlich das Risiko der Kernkraft für die Gesundheit der Menschen, las Martina Esser-Steinecke bei dem Versuch, sich noch ein wenig schlauer zu machen, ein Stück weiter in die Materie einzusteigen und Sabine Illenbergers Vorsprung zu verkleinern.

Ausgelöst wurde das Unglück durch eklatante Mängel in der Reaktorkonstruktion und, letztendlich, dadurch, dass subalternes Bedienungspersonal im Laufe eines völlig fehlgeplanten und überhastet durchgeführten Experiments hoffnungslos überfordert war. Das Experiment hatte dazu dienen sollen, herauszufinden, ob sich aus der Hitze, die bei einem Kernreaktor normalerweise verloren geht, wenn er für Wartungsarbeiten auf ein Minimum seiner Leistung herunter gefahren wird, nicht brauchbare Energie gewinnen lassen könnte. Ein Experiment, das im Falle des Gelingens wegweisend für den Betrieb solcher Reaktoren weltweit gewesen wäre, zum Ruhme sowjetischer Technik und Wissenschaft. Ein Experiment, das aber in der geplanten Form gar nicht gelingen konnte – es löste eine Kernschmelze aus, und im Reaktor des Blocks Vier von Tschernobyl gab es eine verheerende Explosion.

 

Dadurch wurde eine unkontrollierte Kettenreaktion ausgelöst, die noch Tage später kaum bewältigt werden konnte.

»Unkontrollierte Kettenreaktion«, sagte Martina zu Georgina. »Das kenn’ ich!«

Georgina war eine ihrer fünf Katzen, benannt nach den weltberühmten Fünf Freunden Enid Blytons: Anne, Georgina, Richard, Julius und Tim, der Hund. Es waren zwar drei Katzen und zwei Kater, aber Martina hatte, bei allem Engagement für Gleichberechtigung, ihr Namensgebungssystem deswegen nicht umwerfen wollen, und so hieß die dritte Katze, eine ausgerechnet in Griechenland zugelaufene, rot-braun gefleckte Türkisch Angora, eben Tim-der-Hund. Aber die alte Streunerin war natürlich wieder mal irgendwo in den Hinterhöfen Bonns unterwegs. Anne und Richard waren Geschwister mit der feinen blauschwarzen Wolle der Kartäuser, die wie üblich noch zusammengerollt im Schlafzimmer in dem Regal mit den Pullovern lagen und leise schnarchten. Julius war ein finster dreinblickender weißer Perser, der auch jetzt wieder mit einer Miene auf der Fensterbank lag, als wäre eine Ladung Ammoniak das Beste, das er für die ersten Frühaufsteher und Zur-Arbeit-Haster da unten zu bieten hätte, und Georgina, die auf dem Schreibtisch lag und sich ausgiebig ihrer Morgenwäsche widmete, war eine elegante Tonkanese, mit honigfarbenem Fell und den typischen schwarzen Siamkatzen-Abzeichen am Schwanz und im Gesicht.

Es war halb sechs morgens. Immer wieder ließ Martina sich ablenken, lenkte sie sich selbst ab, hing ihren Gedanken nach, schnüffelte an ihren Fingern, sog die Ausdünstungen ein, die aus ihrem Morgenrock stiegen, seufzte, wünschte sich einen Moment lang sogar, sie würde rauchen. Halb sechs, und Zoller war seit zwei Stunden weg.

wird in der Regel die Kernspaltung von Uran 235 dazu benutzt, Wasser auf hohe Temperaturen zu erhitzen und damit Turbinen zur Stromerzeugung zu betreiben. Es gibt weitere für Kernkraftwerke nutzbare Nuklide, die spaltbar sind, so z.B. das Plutonium 239.

Seit einer Stunde und einundfünfzig Minuten, genauer gesagt. Nach dem zweiten Mal, keine zwei Minuten danach, gerade mal, dass er wieder zu Atem gekommen war, hatte er sich seine Lederjacke vom Fußboden geangelt, seine Zigaretten herausgefischt und sich eine in den Mund gesteckt. Martina hatte nichts gesagt, aber er hatte das unwillkürliche Luftholen bemerkt, als wolle sie protestieren, und hatte ihr einen verschmitzten Seitenblick zugeworfen.

»Ach so, ja«, hatte er gesagt. »Na ja, muss sowieso langsam los.« Hatte sich zu ihr herüber gebeugt, blitzschnell ihre Brustwarze in den Mund genommen – Mmmwah!, hatte Martina gemacht –, eine Sekunde daran gesaugt, war aufgestanden, hatte sich, ohne noch ins Bad zu gehen, angezogen, eine Sache von anderthalb Minuten, hatte sich in der Schlafzimmertür noch einmal herumgedreht, mit einem Augenzwinkern die zur Faust geballte Rechte bis in Schulterhöhe gehoben – und war weg.

Das in den Uranlagern auf der Welt vorkommende Natururan besteht nur zu 0,7 % aus dem spaltbaren U 235. Um eine Kettenreaktion in einem Reaktor zustande zu bringen, muss das Natururan auf 2-4% U 235 angereichert werden. Durch ein Neutron, das von außen auf einen U 235-Kern auftrifft, kann dieser gespalten werden. Dabei spalten sich die U 235-Atome mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten in ganz verschiedene Zerfallsprodukte.

»Einfach weg«, sagte Martina. »Und ich lag da und kam mir genau so vor: wie ein Zerfallsprodukt. Das Zerfallsprodukt der Zollerschen Kernschmelze.« Sie kicherte und nahm sich eine weitere Vollkornmakrone aus der bunten Blechbüchse auf dem Schreibtisch. »Die vierte, Georgie? Oder ist das schon die fünfte?«

»Mäb«, machte Georgina, was man problemlos als »mir egal« interpretieren konnte, und gähnte.

Die bei der Spaltung freiwerdenden schnellen und energiereichen Neutronen müssen mit Hilfe so genannter Moderatoren abgebremst werden. Die Abbremsung geschieht in der Regel mit Hilfe von Wasser. Daher gibt es in Deutschland auch nur Druckwasser- und Siedewasserreaktoren. Es sei erwähnt, dass der Reaktor in Tschernobyl mit Graphit als Moderator anstelle von Wasser betrieben wurde.

»Abbremsen, ja, das wär’ nich’ verkehrt«, sagte Martina. »Es sei erwähnt, dass in unserem Fall aber wohl weder Wasser noch Graphit das Mittel der Wahl wären. Mal davon abgesehen, dass der Vorschlag reichlich spät kommt.« Nein, nicht, hatte sie gedacht, bleib noch, nur ein bisschen! Erhol dich, du siehst müde aus, wir sind beide müde, lass dich verwöhnen, mach’s noch mal …! Eine Stunde lang hatte sie sich noch im Bett herumgewälzt, nachdem die Wohnungstür zugeklappt war, war vielleicht zwischendurch ein paar Mal eingedöst, aber immer schnell wieder wach geworden, weil alle Phantasien ihres Halbschlafs sich nur um eins drehten, und das war erstaunlicherweise nicht die Aussicht, sich nach den kommenden Landtagswahlen im Chefsessel des hessischen Umweltministeriums wiederzufinden.

»Je oller, je doller«, giggelte Martina. »Sagt man nich’ so, Georgie?« Georgina blickte sie an mit ihren unergründlichen grau-grünen Augen, als wollte sie sagen »Was juckt mich das, ich bin erst drei. Im ersten Leben.« Julius stand auf, machte einen Buckel und zerrte am Blatt eines Geldbaums, als sei es das Genick einer Maus. Oder das Hosenbein eines Frühschichtlers.

»He!«, rief Martina. Julius setzte sich auf seinen buschigen Schwanz, und der finstere Ausdruck, mit dem er sie bedachte, schien zu sagen »Und wenn du Matschkuh nicht bald aufhörst, mich hier in meinem eigenen Haus herumzukommandieren, kannst du dich auf was gefasst machen!«

»Na, na, na«, sagte Martina. Julius drehte gelangweilt den Kopf zum Fenster und widmete sich wieder dem Straßengeschehen.

»Ja, genau!«, schnaubte sie. »Kerle …!«

…wird mit Hilfe von Neutronen absorbierenden Stäben aus Bor oder Cadmium, die mehr oder weniger weit in den Reaktor hinein gefahren werden können, die Anzahl der Neutronen gesteuert.

Er hatte nicht einmal bis zum Treppenhaus warten können, um sich seine verdammte Zigarette anzuzünden, hatte sie sofort bemerkt, als sie endlich aufgestanden war, um ins Bad zu gehen. Und hatte sich dabei ertappt, wie sie den Geruch tief eingesogen hatte, wie um doch noch irgendetwas von ihm festzuhalten.

»Wo doch der Rest gerade aus mir heraus lief«, sagte sie und verschluckte sich fast an ein paar Makronenkrümeln, als ihr klar wurde, was sie da gerade gesagt hatte. Sie spürte, wie sie rot wurde, und blickte sich unwillkürlich um, als könne irgendjemand sie beobachten. Mein Gott, dachte sie, schlimmer war’s auch nicht, als ich in Schumachers Thomas verknallt war. »Aber da war ich fünfzehn, verdammt!« Georgina fauchte und sprang fluchtartig vom Schreibtisch, als Martinas Hand auf die lederne Schreibunterlage klatschte. Eine Hektik, die Julius gar nicht gefiel – er flog von der Fensterbank, gab Georgina zwei schnelle Ohrfeigen und nahm mit einem lässigen Sprung ihren Platz auf dem Schreibtisch ein. Saß da und schaute Martina an, als sei sie die Nächste auf seiner Liste.

»Tut mir leid, Kinners«, seufzte sie. »Ich bin nicht mehr ich.« Sie nahm einen Schluck Kaffee und versuchte sich wieder auf den Text zu konzentrieren, Passagen, die Rainer Kolbe ihr aus dem Lexikon der Strahlenmedizin herausgesucht und kopiert hatte..

In einer Atom- bzw. Neutronenbombe dagegen wird der Neutronenvermehrungsfaktor so hoch wie möglich getrieben.

»Das wär’s noch!«, schreckte sie hoch. »Jetzt noch schwanger werden, mit einundvierzig!« Betroffen und blass sann sie eine Weile über diese Vorstellung nach. Stand auf, ging zum Schrank, goss sich einen Amaretto ein und kippte ihn hinunter, noch bevor sie sich wieder zum Schreibtisch umgedreht hatte. Na gut, dachte sie, füllte das Glas erneut, ging zurück an ihren Platz und goss den Likör in den Kaffee.

Dann stehen nach jeder Spaltung mindestens 2 Neutronen zur Einleitung weiterer Spaltungen zur Verfügung. Wenn also jeweils 2 Neutronen pro Spaltung frei werden und diese jeweils zu zwei neuen Spaltungen führen, sind es nach kürzester Zeit riesige Mengen an Neutronen. Um eine Kettenreaktion zu erhalten, ist eine bestimmte Masse erforderlich, die bei U 235 bei 6 kg liegt. Dann steht im Mittel mehr als 1 Neutron für weitere Spaltungen zur Verfügung.

»Mein Gott, wer soll sich das alles merken?!«

»Wie wär’s mit deinen Referenten?«, sagten Julius’ hellblaue Augen, und die tiefe Falte dazwischen schien zu murmeln »Mein Gott, kriegt die Olle denn auch mal irgendwas selber auf die Reihe?!«

»Auch wieder wahr«, gab sie ihm recht, »das mit den Referenten, jedenfalls.« Na also, maunzte er, wälzte sich auf den Rücken und verlangte, am Bauch gekrault zu werden. Martina beeilte sich, seinen Wunsch zu erfüllen. Schon weil sie das wieder an die Nacht erinnerte, an die dichten Haare auf Zollers Brust, an …

Die bei der Kernspaltung freiwerdenden Neutronen besitzen so hohe Energien, dass sie biologisches Material schädigen bzw. zerstören können. Wird ein Mensch in der Nähe einer Kettenreaktion von Neutronenstrahlung getroffen, treten die im weiteren genannten Folgen auf. Natürlich treten diese Folgen auch auf, wenn die Person anderer Strahlung, wie z.B. Gammastrahlen, mit hohen Dosen ausgesetzt wurde. Dosen ausgesetzt wurde. Gammastrahlen. Alpha-, Beta- und Gammastrahlen. Dosen ausgesetzt. Gammabetaalpha. Gammamamamama …

»Autsch!«, schrie Martina auf und schüttelte heftig erst den Kopf, um den Schlaf loszuwerden, der sie übermannt hatte (wieso eigentlich übermannt? dachte sie kurz), und dann ihre rechte Hand, mit der sie Julius offensichtlich einen Augenblick zu lange oder zu heftig gekrault hatte. Das mochte er nicht. Zwei dünne rote Striemen auf ihrem Handrücken waren die Quittung. »Scheißkerl!«, zischte sie hinter ihm her, aber er war schon aus dem Zimmer gewischt. »Scheißkerle, alle beide!« Halb sieben. Sie konsultierte ihren Terminkalender – 10:00 Uhr: Telex-Schicht mit Rai. & Sab. »Na, super. Sabine wird keine Ruhe geben, bis ich ihr irgendwas über meinen plötzlichen Abgang gestern erzähle, und wieso ich so sauer auf Sascha sei. Und ich werd’ ihr irgendwas erzählen, und wenn er dann irgendwann im Büro auftaucht, wird sie schön blöd gucken, dass ich mir plötzlich die Klamotten vom Leib reiße und sabbernd an seiner Gürtelschnalle herumfummele.«

Aber immerhin – sie würde noch eine gute Stunde schlafen können. Zwei fast. Und sich dann in Ruhe überlegen, was sie den anderen preisgab und was nicht. Besser noch nicht. Dass er hier gewesen war, zum Beispiel. Dass er nachts um halb zwölf bei ihr geklingelt hatte, eine Flasche Rotwein im Arm, eine weitere in seinen Augen und sein Belmondo-Lächeln im Gesicht.

»Nur um das mal klarzustellen«, sagte er. »Meine Prioritäten sind arschklar.«

Meine auch, dachte sie, fragte sich, wieso er ausgerechnet jetzt, mit einem Fuß in ihrer Wohnung, auf die Formulierung ‚arschklar’ gekommen war, und zog den Ausschnitt ihres Morgenmantels enger um ihren Hals.

»Meine auch«, sagte sie, und ihr rechtes Bein schob sich einen halben Schritt vor – hatte sie das etwa gewollt? –, und der Stoff teilte sich in der Mitte und zeigte, dass sie vielleicht ein mächtig ausladendes Hinterteil, aber immer noch sehenswerte Beine hatte. Weiße Haut unter mitternachtsblauem Satin. Und ihre Haare waren noch nass vom Duschen, keine albernen Zöpfe, feucht kringelten sie sich um die ersten Falten an ihrem Hals, klebten an ihrem Dekolletee.

»Gut«, lächelte Zoller, drückte mit der Schulter die Wohnungstür auf und warf Martina die Flasche zu. »Dann können wir ja …« Reflexartig ließ sie ihren Kragen los, um sie aufzufangen – und stand mit einem Mal mit weit offenem Gewand da. Nackt darunter. »Dann können wir das gute Stöffchen ja ein Weilchen atmen lassen, bevor wir Tacheles reden.« Nackt, als habe sie, als habe zumindest ihr Körper auf ihn gewartet.

 

Es hatte mehr als ein Weilchen gedauert, bis das Stöffchen überhaupt zum Atmen kam – noch bevor sie in der Küche angekommen waren, um einen Korkenzieher zu finden, hatten sie sich ineinander verheddert (ja, sie hatte gewartet …!), und die erste Runde hatte an der Anrichte begonnen, im Stehen, sie mit hochgeschobenem Morgenmantel, er mit den Jeans auf den Knien, die Lederjacke noch an, a tergo. Direkt vor ihren Augen wackelte der fröhlich bunte Kalender mit den Gemüsen der Saison auf und ab (Kopfsalat! dachte sie und stöhnte, aus mehreren Gründen, und das drei Monate nach Tschernobyl!), neben dem passenderweise gleich die aktuelle Öko-Test-Liste verseuchter Lebensmittel hing – Kohlrabi 27 Becquerel pro Kilo, Kopfsalat 67, Schnittlauch 157, Pilze 774! –, während sie versuchte, sich in die Arbeitsplatte zu krallen und Zoller hinter ihr bewies, dass das Format ihres Hinterteils ihn nicht im Geringsten abtörnte, im Gegenteil. Bis ihr das ein wenig zu einseitig wurde, nicht nur wegen der Cäsium-Belastung, und sie ihn in ihr Schlafzimmer lotste. Mehr als einmal hatte sie gedacht, ich muss das Fenster zumachen, mein Gott, die Nachbarn, was sollen die Nachbarn denken, wenn ich so schreie – aber irgendwie war keine Gelegenheit gewesen, aufzustehen und das Fenster zu schließen, und irgendwann waren ihr die Nachbarn scheißegal gewesen, erst recht, als auch Zoller lauter und lauter wurde, unter ihr und ihrem verhassten, wunderbaren Arsch.

Das Gespräch danach war sehr viel kürzer gewesen. Anschließend war nicht einmal die Flasche leer, und wie schon so oft hatte sie Zollers Fähigkeit bewundern müssen, das Wichtige an den Dingen zu erkennen, die entscheidenden Zusammenhänge, selbst überraschende Zusammenhänge herzustellen, Bedenken und Gegenargumente vorauszuahnen und mit drei schnellen Sätzen auseinander zu nehmen. Schon deshalb, weil er in der Lage war, weiter voraus zu schauen als jeder andere, den sie kannte, und tiefer in die Leute hinein, die bei seinen Plänen eine Rolle spielten, eventuell eine Rolle spielen würden – ein Simultanschachspieler, ein Feldherr, Napoleon, Churchill, Lucky Luciano, Adenauer. Ein geborener Politiker.

Und dabei hat er nicht mal Abitur, dachte Martina, und obwohl ihr fast schwindlig war – der Wein, der Sex, die gewagten Strategien seiner Pläne –, hatte sie am Ende zweimal tief Luft geholt … – und Ja gesagt.

»Jetzt guck dir das an«, hatte Zoller gegrinst und mit einem Nicken auf seine erneute Erektion gezeigt, denn sie saßen nackt auf Martinas Balkon, damit Zoller rauchen konnte beim Reden.

»Ach, daher kommt das Wort karrieregeil«, hatte sie gesagt. Er hatte sich nach vorne gebeugt, sie saßen sehr eng beisammen, einander gegenüber, so nahe, dass sich zwischendurch immer wieder ihre Knie berührt hatten, und er hatte mit seinen Händen sanft ihre Schenkel auseinander gezwängt. Nicht dass dazu viel Kraft nötig gewesen wäre, und es hatte im Mondlicht geglitzert, und dann hatten sie wieder in ihrem Bett gelegen, und sie wusste nicht einmal mehr, wie sie dorthin gekommen waren.

Radioaktive Zerfallsprodukte können bei Unfällen in die Umwelt gelangen und in der Atmosphäre über tausende von Kilometern transportiert werden.

Und das waren sie.

Genau das war passiert: Der GAU – der größte anzunehmende Unfall.

Und ihre, Martina Esser-Steineckes große Chance.