Ein Schloss für Mara

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Loe katkendit
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2. Kapitel

Mara schloss die Tür ihres Büros. Sie wollte sich unten im Café des Museums einen Cappuccino holen. Vergangene Nacht hatte sie schlecht geschlafen. Jetzt brauchte sie dringend einen Muntermacher. Sie ging den Flur entlang und dann die Treppe hinunter. Ihre Hand glitt über das schmiedeeiserne Geländer. Über ihr bildeten hohe Bögen aus Stein kleine Himmel. Auf den einzelnen Zwischenstufen waren mit weißem und rotem Marmor Sterne eingelegt. Mara mochte das alte Gebäude, in dem im neunzehnten Jahrhundert eine höhere Schule untergebracht war. Auf halber Höhe des Treppenhauses stand ein Fenster offen, durch das angenehm warme Luft hereinströmte. Sie lehnte sich hinaus. Gegenüber, in dem kleinen Schuhladen, wurde das Schaufenster neu gestaltet. Frau Melter, eine der Servicefrauen des Cafés, öffnete im Vorgarten die großen beigefarbenen Sonnenschirme und wischte mit einem Lappen den Tau von den Tischen und Stühlen. Mara ging weiter. Sie war froh, hier arbeiten zu dürfen. Die meisten der Kommilitoninnen, die mit ihr Kunstgeschichte studiert hatten, hatten keine feste Anstellung in einem Museum oder Ähnlichem, sondern mussten sich mit irgendwelchen Jobs, die nicht das Geringste mit dem Studium zu tun hatten, zufriedengeben. Mara hatte Glück gehabt, als sie sich vor eineinhalb Jahren um die Stelle beworben hatte.

In der Eingangshalle standen Frau Taufrisch, eine der Sekretärinnen, und Susanna, Maras Praktikantin, zusammen vor dem schwarzen Brett. „Heute steht schon wieder was von der Ausstellung in der Badischen Zeitung!“ rief Frau Taufrisch Mara entgegen und heftete einen Zeitungsartikel an die schon mit Meldungen volle Pinnwand.

Mara stellte sich zu den Beiden.

Sie las die Überschrift: „Die Figurensammlung Il Legri verzaubert.“

„Alles nur Lobeshymnen“ sagte Frau Taufrisch und lächelte Mara an.

„Oder hier: Das Museum für Neue Kunst wird zu einem Sommerzauber."

„Ein Spiel aus Farben erfreut den Besucher“ las Susanna und darunter: „Der Kuratorin ist ein Glücksgriff gelungen“.

Gerade kam ihr Chef, Herr Martin, aus der Säulenhalle. Dort drängte sich eine Gruppe von Kunstinteressierten um die Skulpturen. Seit die Ausstellung eröffnet war, konnte sich das Museum kaum mehr vor Besuchern retten.

Herr Martin trat zu ihnen und sagte: „Also unglaublich! Man hat ja das Gefühl, dass alle nur noch die Ausstellung sehen wollen.“ Er stand da und drehte an seiner Armbanduhr, so als würde sie nicht richtig sitzen. Mara fand ihren Chef attraktiv; schlank mit dunklem Haar, das er manchmal fast schulterlang trug und einem vornehm geschnittenen Gesicht. Oft schwarz gekleidet, wirkte er wie ein wohlerzogener Sohn aus einer spanischen Adelsfamilie. Sie wusste, dass er in Wirklichkeit aus einem kleinen Dorf im Nordschwarzwald kam und dass er seit Februar mit einer recht unscheinbar wirkenden Norddeutschen verheiratet war. So war es oft, die schönsten Menschen hatten die langweiligsten Partner. Herr Martin hörte auf, an seiner Uhr zu drehen und schaute Mara mit einem leicht verschmitzten Lächeln an.

„Frau Köster, ich muss sagen, ich habe mich getäuscht, ich hatte es ja nicht geglaubt. Aber Ihre Ausstellung kommt an. Gratulation.“

„Danke“ antwortete Mara und lächelte stolz zurück. Sie warf einen siegessicheren Blick in die Säulenhalle, nickte Frau Taufrisch und Susanna zu und ging in Richtung Café davon.

Und da es heute so schön warm war, ging sie nach draußen und setzte sich in den Vorgarten. Gut gelaunt hielt sie mit Frau Melter einen kleinen Schwatz über das schöne Wetter, nahm einen Löffel voll Milchschaum von ihrem Cappuccino und ließ ihn auf der Zunge zergehen. Er schmeckte süßlich. Wenn ihr Chef sich schon mal zu einem solchen Kompliment hinreißen ließ, sollte das was heißen, war er doch sonst mit Lob sehr sparsam.

Nachher musste sie gleich mal Giuseppe anrufen und ihm erzählen, wie begeistert das Freiburger Publikum auf seine Kunstwerke reagiert. Sie kannte ihn aus der Zeit des Studiums. In Florenz hatten sie einen gemeinsamen Sommer verbracht. Danach war er nach Bergamo in seine Heimat zurückgekehrt. Vor zwei Jahren hatte sie ihn auf dem Nachhauseweg von Sardinien besucht. Er hatte ihr erzählt, dass er vergeblich nach einem Ausstellungsraum suche. Ihr hatten seine Arbeiten gut gefallen. Farbenkräftige, fröhliche Skulpturen aus zusammengeschweißten, bemalten Eisenteilen. `Die Fröhlichen` hatte er seine Sammlung genannt. Nichts an den Figuren war düster oder schwer, alles war Leichtigkeit, Spiel und Freude.

Als es darum ging, für das kommende Jahr das Ausstellungsprogramm zusammenzustellen, hatte sie an ihn gedacht. Über den Sommer bot etwas Leichtes, eher Verspieltes sicher mehr Reiz ins Museum zu gehen, als etwas Schweres, Tiefsinniges, bei dem die Betrachter immer wieder nach dem Sinn oder einer Aussage suchten, um dann mit fragendem Blick das Museum zu verlassen. Es war ihr gelungen, Herrn Martin zu überzeugen. Und jetzt solch ein Erfolg! Sollte mal einer sagen, sie hätte kein Gespür für ihre Arbeit. Mara blies den Rauch ihrer Zigarette gegen den blauen Himmel und lehnte sich zurück. Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht.

Es war kurz nach achtzehn Uhr, als Mara mit ihrem Fahrrad nach Hause fuhr. Beim Italiener in der Kartäuserstraße hatte sie selbstgemachte Tortellini, gefüllt mit frischem Ricotta und Spinat, gekauft, die wollte sie sich zum Abendessen kochen. Frischen Parmesan hatte sie auf jeden Fall im Kühlschrank. Vielleicht hatte sie noch einen guten `Montepulciano` in ihrem Weinregal im Wohnzimmer liegen. Mara bog in die Oberaustraße ein und überquerte kurz darauf die Dreisam. Sie stieg vom Fahrrad und lehnte es an das Geländer der Brücke. Minutenlang schaute sie hinunter ins Wasser, fixierte ohne nur ein einziges Mal wegzuschauen einen Felsen, der vom Wasser umspült wurde. Sie mochte dieses Spiel, das sie früher das `Bootsfahrspiel` genannt und mit Sandra am Dorfbach gespielt hatte. Man schaute so lange auf einen Punkt, bis man das Gefühl hatte, die Brücke bewege sich unter einem und nicht das Wasser. Die Brücke wurde zum Schiff und mit diesem Schiff konnte man wegfahren. Irgendwohin. Vielleicht auf eine Insel in der Südsee, einen Ort, an dem es keine Angst gab? Mara wartete und schaute und endlich fuhr ihr Schiff los. Sie stand an der Reling. Sie spürte den Fahrtwind und die Gischt des Meeres in ihrem Gesicht.

Das Geländer der Brücke war aus Schmiedeeisen. Seit einiger Zeit hatten verliebte Paare angefangen, Schlösser mit ihren Namen und einem Datum zu versehen und am Geländer zu befestigen. Würde sie jemals zu den Glücklichen gehören und hierherkommen, um ein Schloss anzuhängen, den Schlüssel ins Wasser zu schmeißen und so die Liebe zu besiegeln?

Später, als sie gegessen hatte, ging sie auf den Balkon. Sie goss die frisch gepflanzten Blumen und lauschte dem eifrigen Zwitschern der Vögel an diesem Frühlingsabend. So ausgeglichen hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Vielleicht hatte Tante Paula ja doch Recht. Es gab Zeiten in ihrem Leben, da war sie an freien Wochenenden losgezogen, hatte im Schwarzwald Wanderungen unternommen oder war nach Basel ins Museum gegangen. Aber seit Monaten zog sie es vor, zu Hause zu bleiben. Nur hier fühlte sie sich sicher. Hier gab es keine Räume voller Menschen, aus denen sie nicht hätte flüchten können, falls sie von einer Angstattacke überfallen wurde.

„Muss das sein?“ schrie eine schrille Frauenstimme im Hof. Es war Frau Meier.

„Ich bin nicht betrunken“ grölte Herr Meier. „Lass mich. Das ist auch mein Haus!“

Mara schaute über die Brüstung ihres Balkons und sah, wie Herr Meier wieder einmal die wenigen Stufen zur Haustür hoch wankte und sich am Geländer festhielt.

„Du widerst mich an“ Frau Meier stand unter der offenen Haustür. „Kannst Du das nicht lassen?“

„Kannst Du das nicht lassen?“ äffte Herr Meier seine Frau mit schwerer Zunge nach und schob sie zur Seite.

„Lass mich rein!“

Mara hörte, wie die Haustür zugeschlagen wurde. Als sie noch mal hinüberschaute, sah sie, wie Frau Meier die Fenster schloss und die Gardinen vorzog, als könne sie damit verhindern, dass die Nachbarn etwas mitbekamen.

Am nächsten Tag hatte Mara frei und das schöne Wetter lockte sie nach draußen. Gemütlich schlenderte sie am Flussufer entlang. Es waren nicht all zu viele Menschen unterwegs. Sie setzte sich nahe des Fußweges auf eine Bank und drehte sich eine Zigarette. Sie schlug ihre Beine übereinander und widmete sich ihrem Buch.

Plötzlich saß Mephisto vor ihr. Freudig wedelte er mit dem Schwanz.

„Mephisto! Was machst Du denn hier?“ Natürlich erschien neben Mephisto auch gleich sein Herrchen.

„Das ist ja eine Überraschung, so sieht man sich wieder.“ „Hallo“ Mara blickte in leuchtend blaue Augen, die ihr bei der ersten Begegnung gar nicht aufgefallen waren.

Mephisto legte seinen Kopf auf Maras Oberschenkel. Sie musste ihn streicheln. Sie genoss es, ihre Hand durch das wuschelige Fell gleiten zu lassen und musste an Felix denken. Daran, was für ein guter Freund er für sie gewesen war und wie sehr sie als Kind darunter gelitten hatte, als er tot war.

„Mein Hund hat ja einen Narren an Ihnen gefressen“ meinte der Mann.

„Mephisto! Sei doch nicht so aufdringlich“.

„Lassen Sie ihn doch. Ist er in Ordnung?“

„Ja, ja, alles okay. Er ist mit dem Schrecken davongekommen“, beschwichtigte er. „Und ich ja wohl auch.“

Er stand etwas unbeholfen da. In der einen Hand hielt er Mephistos Leine und in der anderen einen Stock, an dem unübersehbar Spuren von Mephistos Gebiss zu erkennen waren. Mephisto hatte sich bei Mara seine Streicheleinheiten abgeholt. Nun schaute er sein Herrchen erwartungsvoll an.

„Mephisto lauf!“ rief dieser und warf den Stock in einem weiten Schwung die Uferböschung hinunter. Der Hund rannte los und brachte gleich darauf den Stock zurück. Er legte ihn mit einem herausfordernden Blick seinem Herrchen vor die Füße.

 

„Mephisto!“ Der Mann hob den Stock auf und warf ihn noch mal mit aller Kraft weit von sich weg. „Das kann er über Stunden machen.“ Er blickte seinem Hund hinterher, der mit wedelndem Schwanz im hohen Gras am Flussufer den Stock suchte. Dann wandte er sich ihr zu und, als müsse er sich ein Herz fassen, fragte er: „Gehen wir ein Stück zusammen?“

„Gerne“ antwortete Mara und stand auf.

Sie gingen nebeneinander her. Auf einer schmalen Brücke überholten sie eine junge Frau mit einem Kinderwagen.

„Was lesen Sie?“, fragte ihr Begleiter. Mara schaute auf den Einband ihres Buches und sagte: „Wie schütze ich mich vor Hundebesitzern.“

„Quatsch!“

„Kennen sie Elisabeth George?“

„Nein“

„Sie schreibt gut. Klassische Krimilektüre nach englischer Tradition.“

„Aha, Miss Marple lässt grüßen. Ich les` nicht soviel, ich komm` nicht so dazu.“

„Haben Sie Familie oder einen stressigen Job, oder beides?“ fragte Mara.

„Stressig? Manchmal. Ich bin am Theater, hier am Großen Haus“ sagte er.

Nach einer kurzen Pause fragte er: „Und was machen Sie?“

„Ich arbeite beim Museum für Neue Kunst und über den Sommer mache ich für Touristen Stadtführungen.“

„Das ist sicher auch eine interessante Abwechslung.“

„Geht so“, antwortete Mara. Auf gerade diese Abwechslung hätte sie liebend gerne verzichtet.

„Lassen Sie mich raten. Sie sind Bühnenbildner?“

„Nein. Ich bin Schauspieler.“

Ein Jogger mit hochrotem Gesicht rannte an ihnen vorbei. Mara betrachtete den Schweißfleck auf seinem T-Shirt.

„Sie sind wirklich Schauspieler?“

„Ja natürlich.“

„Ach, übrigens, ich heiße Oscar und Sie?“

„Mara“ erwiderte sie und dachte, so, das haben wir jetzt auch geklärt.

„Gehen Sie ab und zu ins Theater? Kommen Sie doch mal vorbei, wenn Sie das interessiert.“

Mara schaute nervös auf ihre Armbanduhr.

„Oh, es ist schon spät. Ich muss los!“

„Sehen wir uns wieder?“ fragte Oscar.

„Ja! Tschüss“ rief Mara schon aus einiger Entfernung. Sie wusste selbst nicht, wovor sie wegrannte.

Mara öffnete das Fenster ihres Büros, packte ihr Vesperbrot aus und setzte sich auf die Fensterbank. Sie nahm einen Bissen und trank einen Schluck Tee. Zurzeit trank sie ` Innere Ruhe`-Tee. Vielleicht half er ihr. Er schmeckte schrecklich gesund. Von dem Zustand der inneren Ruhe war sie, seit sie mit Guiseppe` s Kunstwerken so Furore machte, wahrlich weit entfernt. Ein Pressetermin jagte den nächsten und dazwischen meldete sich immer wieder Herr Martin mit neuen Ideen. Und diese hatten meistens nicht den Charakter von einsamen Meetings in ihrem Büro, sondern er dachte an mehr Führungen, mehr Vorträge und Zusatzveranstaltungen. Sie streckte sich und rieb sich die Augen. Wie sollte sie das alles bewerkstelligen und dabei nicht völlig verrückt werden? Am liebsten wäre sie nach Hause gegangen und hätte sich in ihrem Bett vergraben oder wäre in ein anderes Leben gewechselt.Wenn das nur ginge, sich wie in einem Fantasyfilm in eine andere Zeit beamen.

Sie packte die Hälfte ihres Brotes wieder ein. Mit dem restlichen Tee in ihrer Tasse goss sie die Grünlilie, die auf der Fensterbank stand.

„Du siehst so anders aus.“ Tante Paula stand im Blumenbeet, stützte sich auf dem Spaten ab und betrachtete ihre Nichte. Sie war in ihrer Gartentracht: grüne Latzhose, die vor lauter Erde fast braun war, ein verwaschenes Hemd mit weiten Ärmeln und Strohhut und lieferte so die ideale Vorlage für die Titelseite einer Fachzeitschrift für Gartenbau.

„Das Gleiche könnte ich auch zu Dir sagen“ antwortete Mara.

„Nein, ich meine, in letzter Zeit sahst Du oft so abgekämpft aus. Aber heute wirkst Du verändert. Was ist los?“

Mara, die auf dem gepflasterten Fußweg auf und ab ging, blieb auf Höhe von Tante Paula stehen und schwieg. Eine Amsel saß auf dem Stein bei der Trauerweide und sang ihr helles Lied.

Tante Paula ließ nicht locker: „Komm, sag es mir“.

„Ich hab jemanden kennen gelernt.“

„Und weiter?“ Tante Paula schien vor Neugierde fast mit ihrem Spaten umzukippen.

„Nichts weiter“ Mara trat mit dem Fuß gegen die Steine der Beetumfassung.

„Dir muss man aber auch die Würmer einzeln aus der Nase ziehen.“ Tante Paula stach den Spaten in die dunkle Erde, nahm ihre Nichte an der Hand und führte sie nach hinten zur Bank bei der Trauerweide.

Mara folgte willig.

„Er arbeitet beim Theater.“ Mara zog ihren Tabak aus der Tasche und fing an, sich eine Zigarette zu drehen.

„Und was ist da das Problem?“ Tante Paula nahm ihren Hut ab und legte ihn neben sich auf die Bank.

„Ich darf mich nicht verlieben, ich kann keine Beziehung führen. Wie soll ich das denn machen? Es gibt so viele Sachen, die ich nicht kann.“ Mara zündete sich die Zigarette an und blies den Rauch hörbar in die Luft.

Tante Paula hustete und wedelte mit der Hand.

„Jeder, der mitbekommt, dass ich an Panikattacken leide, nimmt doch Reißaus. Wer will denn schon mit einer Psychopatin zusammen sein?“

„Jetzt sei doch nicht so.“

„Doch, ist doch wahr“ beharrte Mara.

„Das mit dem Theater, wie soll das denn gehen? Kannst Du mir das mal sagen?“

„Wart' s doch mal ab. Du bist nicht nur Krankheit und Panikattacken, es gibt so vieles anderes, was Dich ausmacht!“

„Blah, blah, blah“

„Du bist eine attraktive Frau. Du hast Charme und Bildung, bist erfolgreich im Beruf.“

Mara drückte mit dem Schuh die Zigarette aus und hob die Kippe auf.

„So ist es recht“ sagte sie, als Mara den Zigarettenstummel in ihre Jackentasche steckte.

„Es gibt immer einen Weg. Wenn dieser Mann in Ordnung ist und Dich wirklich liebt so wie Du bist und er es ehrlich meint mit Dir, dann wird das schon alles richtig werden, glaub mir.“

Tante Paula setzte ihren Strohhut auf und ging wieder zurück zu ihrem Spaten.

„Du hast gut reden“ murmelte Mara. Sie blieb auf der Bank sitzen und betrachtete den mannshohen Stein neben sich. Tante Paula hatte ihn vor Jahren aus einem nahen Steinbruch herantransportieren lassen. Deutlich erkannte sie die eingemeißelten Zeichen, die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer.

„Aus welcher Mythologie stammen eigentlich diese Zeichen?“

„Von wem wohl?“

„Navajos“ rief Mara und Tante Paula nickte. Mara stand auf und fuhr mit den Fingern die gemeißelten Linien nach. Seit Urzeiten waren die Menschen von der Erde abhängig, die sie trägt und ernährt. Vom Wasser, das ihnen Leben spendet. Sie brauchten die Luft zum Atmen und sie wussten um die Kraft des Feuers, das sie wärmte. Sicher kannten sie Mut und Angst. Im Leben mit der Natur bedeutete Angst Kampf und Flucht. War der Mensch nicht darauf ausgerichtet bei Gefahr, zu fliehen? Sie konnte nicht fliehen, wenn sie Angst hatte. Auch wenn sich ihr Körper auf Flucht einstellte, ihr Herz raste und sie schnell atmete.

3. Kapitel

Das Telefon klingelte und klingelte. Es schien Mara, dass es diesmal viel länger dauerte als sonst, bis der Anrufbeantworter ansprang. Sie wollte nicht ans Telefon. Trotzdem stand sie im Flur vor dem Schränkchen und wartete. Noch zweimal, dachte sie, wenn es dann nicht aufhört, nehme ich ab. Es hörte nicht auf.

„Hallo, hier ist Susanna. Kommst Du mit ins Kino?“

„Ins Kino?“ wiederholte Mara.

„Das ist schlecht.“ Sie schluckte. „Ehm, ich hab grad Besuch von Sandra aus Hamburg und wir wollten heute Abend gemütlich hier sein und ein Weinchen trinken.“

„Schade. Ich hab gedacht, ich frag mal. Na, muss ich halt alleine los.“

„Tut mir leid.“

„Tschüss und noch einen schönen Abend.“

„Danke, Dir auch.“ Mara legte den Hörer auf. Erst jetzt merkte sie, dass sie gar nicht gefragt hatte, in welchen Film Susanna wollte.

Aber das war eigentlich egal. Ins Kino konnte sie sowieso nicht. Sie würde es nicht aushalten unter all den anderen Menschen in einem dunklen, stickigen Raum zu sitzen. Es war immer eng, es gab keinen Ausweg und die ausgeschilderten Fluchtwege schienen ihr immer unerreichbar. Mara ging in Gedanken alle Kinos der Stadt durch. Im `Friedrichsbau` gab es den extrem kleinen Raum, der kaum größer war als ein Wohnzimmer oder eine Garage. Furchtbar! In der `Harmonie` waren die Wege nach draußen weit, die Flure endlos und wenn man Pech hatte, stieß man unten im Foyer an den Kassen auf weitere Ansammlungen von Menschen, die einem den Weg versperrten. Überhaupt, die Vorstellung eingekeilt zu sitzen, rechts und links jemanden und dann sie, Mara, in der Mitte. Sie würde es nicht aushalten. Im schlimmsten Fall würde sie neben jemandem mit langen Beinen oder mit einem dicken Bauch sitzen. Egal welches Kino, egal welcher Film, sie konnte nicht.

Mara setzte sich an den Küchentisch und widmete sich gezwungenermaßen der Fernsehzeitschrift. Im Ersten kam „Straße der Lieder“ mit Gotthilf Fischer, das war wohl nichts, im Zweiten wurde ein Fußballspiel übertragen, im Dritten kam ein Bericht über die Semperoper in Dresden. Nebenan hörte sie, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel und jemand die Treppe hinunter rannte. Sie schaute in den Hof. Da stand Sonja geschminkt und gut aussehend, neben ihr ein schmaler Typ mit blondem, halblangem Haar und Brille. Von weitem sah er aus wie ein Philosoph. Sie schlossen ihre Fahrräder auf und fuhren aus dem Hof. Fort waren sie. Mara blätterte weiter und entschied sich für einen Krimi „Mord in Greenwich“. Sie ging hinüber ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein, nahm aus dem Weinregal eine Flasche französischen Merlot und fläzte sich auf ihr Ledersofa. Der Film war, wie zu erwarten mittelmäßig. Trotzdem schaute sie ihn sich an. Danach zappte Mara durch die Programme. Um zweiundzwanzig Uhr kam auf Kabel Eins „Armee der Finsternis“, eine Horror-Komödie. Sie benötigte weder Horror noch eine Komödie. Der Horror, den sie kannte, hatte wahrlich wenig von einer Komödie. Sie schenkte sich noch ein Glas Wein ein und schaltete weiter. Im Zweiten lief ein Action-Thriller mit dem Titel „Codename Nina“. Mara schaute die Hälfte des Films und leerte die Flasche Merlot. Dann schlief sie auf dem Sofa ein. Um halb zwei schaltete sie den Fernseher ab und ging zu Bett. „So, Maralein, das war Dein Samstagabend“, murmelte sie vor sich hin und löschte frustriert das Licht. Irgendwann später hörte sie, wie Sonja nach Hause kam. Sie lachte im Treppenhaus. Es klang albern und schrill und dann hörte sie eine männliche Stimme, die beruhigend auf sie einredete.

Als sie am nächsten Morgen ihren Kaffee kochte und aus dem Fenster schaute, sah sie, dass der Himmel stahlblau war.

Es war ein strahlender Morgen, ein Morgen, der einen traumhaften Frühsommertag versprach. Tauben spazierten fröhlich auf dem Kupferdach der Meiers auf und ab. Frau Meier hatte das Fenster des Schlafzimmers weit geöffnet und die Bettwäsche zum Lüften über den Rahmen gehängt. Unten neben der Haustreppe sah sie eine Krähe, die auf etwas einhackte. Blut glänzte an ihrem schwarzen Schnabel. Graue, kleine Federn flogen umher. In ihren Krallen hielt sie eine Taube.

Leben und Tod, dachte Mara und rieb sich die Augen. Einen dicken Kopf hatte sie. Es war wohl etwas zu viel Merlot gewesen gestern Abend. Wie heißt es: Wer allein trinkt, schafft sich Feinde. Sie musste alleine trinken. Feinde hatte sie viele, wenn auch nicht in menschlicher Gestalt.

Sie ging duschen, ließ das heiße Wasser über ihren Körper strömen, wusch sich ihre Haare und pflegte sie mit einer Spülung. Sie rasierte sich die Beine, ihre Scham und die Achselhöhlen und cremte sich mit ihrer Lieblingslotion ein. Dann suchte sie für den frühlingshaften Tag eine passende Garderobe und entschied sich für eine frisch gewaschene Jeans und einen orangefarbenen Strickpulli ohne Ärmel, das Orange stand ihr gut. Jetzt fühlte sie sich schon besser.

Um Punkt fünfzehn Uhr drückte Mara die Klingel. Von drinnen schallte das Radio und sie hörte, wie Sonja von weiter weg rief: „Machst du mal auf!“

Es dauerte einen Moment bis die Tür geöffnet wurde. Aber es war nicht, wie Mara erwartet hatte, Annalisa, die öffnete und auch nicht der Philosoph vom Abend zuvor, sondern ein völlig anderer Typ, mit einem kleinen Ring im linken Nasenflügel und einem Spitzbärtchen am Kinn. So eine Art Zappaverschnitt, dachte Mara.

 

„Der sieht aber lecker aus“ lobte er mit Blick auf den Apfelkuchen und hielt ihr die Tür auf.

„Danke.“

Er roch frisch geduscht.

„Schade, dass ich nicht bleiben kann“ sagte er

und rannte pfeifend die Treppe hinunter. Mara betrat die Wohnung. Dabei trug sie ihren Kuchen vor sich her, als wäre er nicht nur eine Opfergabe an die Göttin der guten Nachbarschaft, sondern als wäre er eine Lösung, ein Heilmittel gegen all die einsamen Abende mit Wein und Fernsehen.

„Hallo, na, was machst Du gerade?“

„Ich mal’ ein Bild“, antwortete Annalisa und schaute Mara neugierig an.

„Darf ich es sehen?“ Annalisa schüttelte den Kopf.

Sonja kam aus dem Bad. Sie rubbelte sich ihre nassen Haare trocken und trat nur mit einem Bademantel bekleidet in den Flur.

„Wow! Hast Du den selbst gebacken? Komm, rein. Wir duzen uns, gell?“

„Ja, das fände ich auch angebracht“ stimmte Mara zu und folgte Sonja in die Küche.

„Annalisa würdest Du bitte den Tisch decken?“ Sonja setzte einen Kaffee auf.

Mara stellte den Kuchen auf den Küchentisch.

„Ich komm gleich, ich zieh mir nur noch was über.“

Mara trat auf den Balkon hinaus und setzte sich auf einen alten Klappstuhl. Er war das einzige Möbelstück am Rande eines Bergs von leeren Umzugskartons. Sie zündete sich eine Zigarette an. Neben dem Stuhl auf dem Boden stand ein überquellender Aschenbecher. Inzwischen war es richtig heiß geworden. Ein Tag, der nur danach rief, dass man etwas Schönes unternahm.

„Erstmal eine rauchen und dann ein Kaffee. Die Cocktails waren aber auch zu gut gestern Abend.“ Sonja stellte sich neben sie.

„Das hab´ ich heut´ Nacht mitbekommen. Ihr wart ja nicht zu überhören.“

„Oh, sorry“ entschuldigte sich Sonja.

„Wir waren auf einer Party von Freunden von Christoph. Eigentlich kannte ich keinen. Aber es war super. Wow! In einem alten Kellergewölbe im Stühlinger. Voll abgefahren. Tolle Deko. Irgendwann war es so voll, dass man sich fast nicht mehr bewegen konnte. Es waren so viele interessante Leute da. Und wo warst Du gestern Abend?“

Aus der Küche war das Zischen und Brausen der Kaffeemaschine zu hören.

„Der Kaffee ist fertig“. Mara drückte in dem übervollen Aschenbecher ihre Zigarette aus.

„Ich schneid´ schon mal den Kuchen an.“

„Ich will eine heiße Schokolade.“ Sonja setzte für Annalisa einen Topf mit heißer Milch auf. Kaum saßen sie mit Kaffee und heißer Schokolade und einem Stückchen von Maras Kuchenkreation auf den Tellern vor sich einträchtig am Küchentisch, als von irgendwoher aus der Wohnung das Telefon klingelte.

„Wer ist das denn?“ fragte Sonja.

„Geh hin und find's raus“, antwortete Mara und deutete mit dem Kaffeelöffel in die Richtung, aus der das Klingeln gekommen war.

Sonja stand auf und kam mit dem tragbaren Telefon zurück in die Küche.

„Ins Schwimmbad? Das ist eine gute Idee.“

Sie schlenderte in der Küche umher.

„Annalisa?“ Sonja betrachtete fragend ihre Tochter, die gerade von ihrer heißen Schokolade trank und sich mit der Zunge den Milch-Kakaorand von den Lippen wischte.

„Die kommt bestimmt gerne mit.“ Die Mutter schaute ihre Tochter immer noch fragend an. Endlich nickte Annalisa.

„Gut bis gleich.“ Sonja lächelte ins Telefon.

„Du kommst mit oder?“

„Wer ist denn noch da?“ wollte Annalisa erst mal klären.

„Klaus. Aber ist doch egal, wir gehen auf jeden Fall schwimmen.“

„Den mag ich nicht.“ Annalisa stocherte mit ihrer Gabel im Apfelkuchen herum. Es schien Mara, als hätte ihr die Aussicht auf einen Nachmittag mit Klaus den Appetit verdorben.

Sonja nahm einen Schluck Kaffee.

„Die große Frage ist, wo ich meinen Bikini habe. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich ihn hier, in dieser Wohnung, noch gar nicht gesehen habe.“

„Und fühlt Ihr Euch wohl hier?“ fragte Mara.

„Ja, die Wohnung ist super. Und ich bin so froh, endlich für mich zu sein. Am Schluss war es echt richtig schlimm.“

Sonja stand auf und ging in ihr Zimmer.

Mara wollte nachhaken und fragen, was am Schluss so richtig schlimm war. Aber dazu kam sie nicht. Als Sonja nach einiger Zeit noch immer nicht in die Küche zurückkam, stellte sich Mara in den Türrahmen von Sonjas Zimmer. Überall im Zimmer waren kleine Häufchen von Kleidern zerstreut. Die Bettdecke war unordentlich über das Bett geworfen. An der Wand neben der Tür hing ein langer Wandspiegel. Sonja öffnete die Türen des großen Kleiderschranks und fing an, Stapel von T-Shirts und Pullovern auf den Boden zu legen.

„Klaus ist aber nicht der von gerade eben?“ fragte Mara.

„Das war Thorsten. Er ist ganz nett, und er kennt eine Menge abgefahrener Leute. Aber auf Dauer ist er mir zu anstrengend, glaub ich.“

Wieder klingelte das Telefon und wieder sprach Sonja mit jemand am anderen Ende.

„Nein, ich kann heute Nachmittag nicht. Ich habe Besuch von meiner Nachbarin. Nein, das geht auch nicht. Heute Abend möchte ich zu Hause bei Annalisa bleiben.“ Sonja drehte genervt ihre Augen zur Decke.

„Kannst Du ja machen, also bis dann mal.“ Sie legte auf.

Annalisa kam in Sonja s Zimmer und setzte sich aufs Bett. „Mama, wer war das?“

„Das war Eddi. Ich musste ihm leider absagen.“

„Kenn` ich nicht“ kommentierte Annalisa.

„Kommst Du auch mit ins Schwimmbad?“

„Nein, ich bleib hier. Ich mache es mir lieber auf meinem Balkon gemütlich.“

„Schade.“

Mara wusste nicht, was sie antworten sollte. Ihre unternehmungslustige Nachbarin hatte ja keine Ahnung, wie gerne sie mitgegangen wäre.

„Ah, da ist er ja“ Sonja zog ein pinkfarbenes Bikinioberteil und eine Badehose aus einer Kleiderkiste im hinteren Teil des Schrankes und hielt die Wäschestücke hoch, als hätte sie die Badegarderobe wie eine Zauberin aus einem Hut gezogen.

„Annalisa packst Du auch mal Deine Sachen, dass wir dann los können.“ Mara fühlte sich plötzlich überflüssig und auf indirekte Weise ausgeladen.

„Also, ich geh dann mal rüber.“

„Tschüss“

„Tschüüss“, rief Sonja.

Als die beiden mit Badetaschen bepackt den Hof verließen, stand Mara am Geländer ihres Balkons und schaute ihnen nach.

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