Der Herr der Welt

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2.

Oli­ver schi­en wäh­rend des Mit­tags­ti­sches eine hal­be Stun­de spä­ter in sehr ge­drück­ter Stim­mung zu sein. Sei­ne Mut­ter, eine alte Frau von na­he­zu acht­zig Jah­ren, die sich nie vor Mit­tag se­hen ließ, schi­en es so­fort zu be­mer­ken, denn, nach­dem sie ihn ein paar­mal an­ge­se­hen und ei­ni­ge Wor­te mit ihm ge­wech­selt, ver­sank sie in Schwei­gen und wid­me­te sich ih­rem Tel­ler.

Ein an­ge­neh­mes, klei­nes Zim­mer war es, in dem sie sa­ßen, dicht hin­ter je­nem Oli­vers und, dem all­ge­mei­nen Brauch zu­fol­ge, ganz in Grün ge­hal­ten. Die Fens­ter gin­gen auf einen klei­nen Gar­ten hin­ter dem Hau­se und auf die mit wil­dem Wein be­wach­se­ne Mau­er, wel­che die­ses Be­sitz­tum von dem nächs­ten trenn­te. Auch die Mö­bel wa­ren ganz dem all­ge­mei­nen Ge­brauch ent­spre­chend; ein be­que­mer, runder Tisch stand in der Mit­te, um ihn drei hohe Lehn­stüh­le mit her­auf­ge­schla­ge­nen Arm­stüt­zen, wäh­rend das Mit­tel­stück des­sel­ben, auf ei­ner run­den Säu­le von ziem­li­chem Um­fang ru­hend, das Ge­schirr trug. Seit drei­ßig Jah­ren schon war es in den Häu­sern der Bes­ser­ge­stell­ten ge­bräuch­lich ge­wor­den, das Spei­se­zim­mer ober­halb der Kü­che an­zu­le­gen, und das Ser­vie­ren der Gän­ge ver­mit­telst ei­nes in der Mit­te des Ess­ti­sches be­find­li­chen hy­drau­li­schen Auf­zu­ges zu be­werk­stel­li­gen. Der Fuß­bo­den be­stand ganz aus dem in Ame­ri­ka er­fun­de­nen ge­räusch­lo­sen, sau­be­ren und für Auge und Fuß an­ge­neh­men As­best-Kork­prä­pa­rat.

Ma­bel brach das Schwei­gen.

»Und dei­ne Rede für mor­gen?«, frag­te sie, in­dem sie zu ih­rer Ga­bel griff.

Oli­ver nahm einen et­was leb­haf­te­ren Aus­druck an und wur­de ge­sprä­chi­ger.

Wie es schi­en, fing Bir­ming­ham an, un­ru­hig zu wer­den. Von Neu­em er­hob man die For­de­rung des Frei­han­dels mit Ame­ri­ka; man be­gnüg­te sich nicht mehr mit den in­ne­r­eu­ro­päi­schen Ver­kehrs­er­leich­te­run­gen, und es war Oli­vers Auf­ga­be, sie zu be­ru­hi­gen. Es wäre nutz­los, nahm er sich vor ih­nen zu sa­gen, in eine Agi­ta­ti­on ein­zu­tre­ten, so­lan­ge die Fra­ge des Os­tens nicht er­le­digt wäre; sie soll­ten doch die Re­gie­rung ge­ra­de jetzt nicht mit sol­chen Klei­nig­kei­ten be­läs­ti­gen. Er hat­te au­ßer­dem den Auf­trag, ih­nen zu er­klä­ren, dass die Re­gie­rung ganz auf ih­rer Sei­te ste­he und ent­schlos­sen sei, bald zu­zu­stim­men.

»Dick­köp­fe sind sie«, sag­te er är­ger­lich, »hart­nä­ckig und selbst­süch­tig; sie sind wie die Kin­der, die zehn Mi­nu­ten vor Tisch noch nach dem Es­sen schrei­en; es wird ja un­be­dingt dazu kom­men, wenn sie nur ein we­nig Ge­duld ha­ben woll­ten.«

»Und wirst du ih­nen die­ses sa­gen?«

»Dass sie Dick­köp­fe sind? Selbst­ver­ständ­lich!«

Ma­bel blick­te ih­ren Gat­ten mit ei­nem wohl­ge­fäl­li­gen Lä­cheln an. Sie wuss­te nur zu gut, dass er sei­ne Be­liebt­heit zum großen Tei­le sei­ner Of­fen­her­zig­keit ver­dank­te: Den Leu­ten ge­fiel es, sich von ei­nem ge­nia­len, küh­nen Man­ne, der in ma­gne­ti­scher Erei­fe­rung vor ih­nen her­um­sprang und ges­ti­ku­lier­te, Schelt­wor­te und Grob­hei­ten sa­gen zu las­sen.

»Wie wirst du hin­fah­ren?«, frag­te sie.

»Flug­schiff. Ich wer­de mit dem um acht­zehn von Black­fri­ars ab­fah­ren; um neun­zehn ist die Ver­samm­lung, und um ein­und­zwan­zig bin ich wie­der zu­rück.«

Er ließ sich die Vor­spei­se sehr gut schme­cken, und sei­ne Mut­ter sah mit dem ge­dul­di­gen Lä­cheln ei­ner al­ten Frau auf.

Ma­bel be­gann, lei­se mit den Fin­gern auf der Da­mast­de­cke zu trom­meln.

»Sei so gut und be­ei­le dich, mein Lie­ber«, sag­te sie, »ich muss um drei Uhr in Brighton sein.«

Oli­ver schluck­te den letz­ten Bis­sen hin­ab, schob sei­nen Tel­ler in die Mit­te der Tisch­plat­te zu­rück, blick­te um­her, ob auch die üb­ri­gen Tel­ler dort un­ter­ge­bracht sei­en, und griff mit der Hand un­ter den Tisch.

So­fort und ohne je­des Geräusch ver­schwand das Mit­tel­stück, und die Drei war­te­ten mit der ge­wohn­ten Gleich­gül­tig­keit, wäh­rend das Klir­ren der Tel­ler von un­ten her­auf­klang.

Die alte Mrs. Brand war eine rüs­tig aus­se­hen­de Dame und trotz der Run­zeln noch von fri­scher Ge­sichts­far­be; sie trug eine auf dem Haupt be­fes­tig­te Man­til­la, wie sie etwa vor fünf­zig Jah­ren Mode war; doch auch an ihr konn­te man die­sen Mor­gen eine ge­drück­te Stim­mung be­mer­ken. Die Vor­spei­se war nach ih­rer An­sicht nicht recht ge­lun­gen, der neue Nähr­stoff nicht so gut wie der frü­he­re, er war ein klein we­nig san­dig; nach Tisch woll­te sie ein­mal da­nach se­hen.

Da ver­nahm man wie­der das Klir­ren, ein schwa­ches, schie­ben­des Geräusch, und das Mit­tel­stück er­schi­en wie­der an sei­nem Plat­ze, eine wun­der­ba­re Nach­ah­mung ei­nes Bra­thuh­nes tra­gend. —

Oli­ver und sei­ne Gat­tin be­fan­den sich nach Tisch auf ei­ni­ge Mi­nu­ten al­lein, ehe Ma­bel sich auf den Weg mach­te, um den vier­zehn ein­halb Uhr ab­ge­hen­den Zug der zwei­ten Haupt­li­nie nach dem Kreu­zungs­punkt zu er­rei­chen.

»Was ist denn mit Mut­ter?«, sag­te er.

»Ach, es ist wie­der das Nähr­stoff­prä­pa­rat; sie kann sich nicht dar­an ge­wöh­nen, sie meint, es be­kommt ihr nicht gut.«

»Wei­ter nichts?«

»Nein, Lie­ber, ich bin si­cher, nichts wei­ter. Sie hat sonst kein Wort ge­sagt.«

Oli­ver blick­te sei­ner Frau be­ru­higt nach, als sie den Pfad ent­lang ging. In letz­ter Zeit hat­ten ihm hier und da ein paar son­der­ba­re Äu­ße­run­gen sei­ner Mut­ter zu den­ken ge­ge­ben. Sie war wäh­rend ei­ni­ger Jah­re im Chris­ten­tum er­zo­gen wor­den, und manch­mal schi­en es ihm, als hät­te dies einen Ein­druck zu­rück­ge­las­sen. Sie hat­te ein al­tes Ge­bet­buch, »See­len­gar­ten«, das sie gern bei sich trug, ob­wohl sie im­mer mit ei­nem An­schein von Ge­ring­schät­zung pro­tes­tier­te, es sei nur Un­sinn. Und doch wäre es Oli­ver lie­ber ge­we­sen, sie hät­te es ver­brannt. Aber­glau­be ist ein ver­zwei­fel­tes Ding, an das sich das ent­flie­hen­de Le­ben klam­mert, und das mit zu­neh­men­der Ge­hirn­schwä­che sich be­greif­li­cher­wei­se wie­der gel­tend macht. Das Chris­ten­tum, so sag­te er sich, war roh und al­bern; roh, we­gen sei­ner in die Au­gen sprin­gen­den Gro­teskheit und Un­mög­lich­keit; und al­bern, weil es sich so ab­so­lut fremd ge­gen­über dem herz­er­freu­en­den Stro­me des mensch­li­chen Le­bens ver­hielt. Es schlich un­an­sehn­lich um­her, wie er wuss­te, in klei­nen, dunklen, da und dort ver­streu­ten Kir­chen; es rief mit hys­te­ri­scher Sen­ti­men­ta­li­tät zum Him­mel in der West­mins­ter-Ka­the­dra­le, in die er ein­mal ein­ge­tre­ten war und auf die er mit ei­ner Art an­ge­wi­der­ter Wut blick­te; es schwätz­te sinn­lo­ses, un­wah­res Zeug sei­nen ur­teils­lo­sen An­hän­gern, den al­ten Wei­bern und geis­tig nicht ganz Zu­rech­nungs­fä­hi­gen, vor. Zu schreck­lich wäre es ihm aber, wenn sei­ne ei­ge­ne Mut­ter es noch mit wohl­wol­len­den Au­gen be­trach­te­te.

Oli­ver selbst war, so­weit er nur zu­rück­den­ken konn­te, stets ein hef­ti­ger Geg­ner al­ler Zu­ge­ständ­nis­se an Rom und Ir­land ge­we­sen. Es war un­er­träg­lich, dass die­se bei­den Ge­bie­te end­gül­tig je­nen Narr­hei­ten, je­nem hin­ter­lis­ti­gen Blöd­sinn preis­ge­ge­ben sein soll­ten; wa­ren sie doch Pflanz­stät­ten des Aufruhrs, Pest­beu­len auf dem An­ge­sich­te der Mensch­heit. Nie war er mit je­nen ein­ver­stan­den, wel­che mein­ten, es sei bes­ser, dass all das Gift des Wes­tens sich an ei­nem Orte ver­ei­nigt fin­de, als dass es über­all ver­streut sei. Auf je­den Fall war es nun ein­mal da. Rom war gänz­lich je­nem al­ten Man­ne im wei­ßen Talar über­las­sen und hat­te da­für sämt­li­che Pfarr­kir­chen und Ka­the­dra­len Ita­li­ens in Tausch ge­ge­ben, und es galt als aus­ge­macht, dass mit­tel­al­ter­li­che Fins­ter­nis dort un­um­schränkt herrsch­te. Und Ir­land hat­te, nach­dem es vor drei­ßig Jah­ren sich selbst zur ei­ge­nen Ver­wal­tung über­las­sen wor­den war, sich für den Ka­tho­li­zis­mus er­klärt und sei­ne Arme dem In­di­vi­dua­lis­mus in sei­ner bös­ar­tigs­ten Form ge­öff­net. Eng­land hat­te la­chend sei­ne Ein­wil­li­gung ge­ge­ben; war es doch durch die un­mit­tel­ba­re Über­sie­de­lung der Hälf­te sei­ner ka­tho­li­schen Be­völ­ke­rung nach je­ner In­sel be­freit von ei­ner be­trächt­li­chen Quan­ti­tät Gä­rungs­stof­fes; es hat­te so­gar im Ein­ver­ständ­nis mit der kom­mu­nis­ti­schen Ko­lo­ni­al­po­li­zei dem In­di­vi­dua­lis­mus dort jede Er­leich­te­rung ge­währt, um ihn sich selbst der Lä­cher­lich­keit preis­ge­ben zu las­sen. Ko­mi­sche Din­ge al­ler Art er­eig­ne­ten sich dort. Oli­ver hat­te, be­lus­tigt und zu­gleich er­bit­tert, von dort er­folg­ten, neue­ren Er­schei­nun­gen ei­ner in Blau ge­klei­de­ten Frau ge­le­sen, und dass, wo ihr Fuß ge­ruht hat­te, Ka­pel­len er­rich­tet wor­den wa­ren. Ei­nen we­ni­ger be­lus­ti­gen­den Ein­druck mach­te auf ihn Rom, denn durch Ver­le­gung der ita­lie­ni­schen Re­gie­rung nach Tu­rin hat­te die Re­pu­blik be­trächt­lich an Ge­fühls­wert ver­lo­ren und dem al­ten Re­li­gi­ons­schwin­del neu­er­dings zu dem gan­zen ver­lo­cken­den Nim­bus ei­ner his­to­ri­schen Er­schei­nung ver­hol­fen. Im­mer­hin, das war un­ver­kenn­bar, konn­te die­ser Zu­stand nicht von lan­ger Dau­er sein; die Welt hat­te end­lich an­ge­fan­gen, zur Ein­sicht zu kom­men.

Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke noch, nach­dem sei­ne Frau weg­ge­gan­gen war, stand er an der Türe, Be­ru­hi­gung schöp­fend aus dem herr­li­chen An­blick des­sen, was die Herr­schaft ge­sun­der Ver­nunft hier ge­schaf­fen und vor ihm nie­der­ge­legt hat­te: die end­lo­sen Dä­cher­rei­hen, die ho­hen Glas­kup­peln der öf­fent­li­chen Ba­de­an­stal­ten und Turn­hal­len, die mit Spitz­tür­men ver­se­he­nen Schu­len, in de­nen je­den Mor­gen das Bür­ger­recht ge­lehrt wur­de, die spin­nen­ar­ti­gen Krä­ne und die Gerüs­te, die da und dort sich er­ho­ben; selbst die we­ni­gen Kirchtür­me stör­ten ihn in die­sem Au­gen­blick nicht. Da wog­te er hin, im grau­en Duns­te Lon­d­ons ent­schwin­dend, ein Bild wahr­haf­ti­ger Schön­heit, die­ser un­er­mess­li­che Strom von Män­nern und Frau­en, die end­lich die Grund­leh­re des Evan­ge­li­ums be­grif­fen hat­ten: Es gibt kei­nen Gott au­ßer dem Men­schen, kei­nen an­de­ren Pries­ter als den Po­li­ti­ker, kei­nen an­de­ren Pro­phe­ten als den Schul­meis­ter …

 

Dann mach­te er sich wie­der an die Aus­ar­bei­tung sei­ner Rede. —

Auch Ma­bel war ein we­nig nach­denk­lich, als sie mit ih­rer Zei­tung auf den Kni­en im Zuge nach Brighton saß. Die­se Nach­rich­ten aus dem Os­ten hat­ten sie mehr be­un­ru­higt, als sie es vor ih­rem Gat­ten hat­te mer­ken las­sen; und doch schi­en es un­glaub­lich, dass von ei­ner wirk­li­chen Ge­fahr ei­ner In­va­si­on die Rede sein kön­ne. Hier im Wes­ten war das Le­ben so ver­nünf­tig und ru­hig; end­lich hat­te der Mensch sich hier auf fes­ten Grund hin­auf­ge­ar­bei­tet und es war un­denk­bar, dass er je wie­der in die Lehm­hüt­ten zu­rück­ge­drängt wer­den könn­te; das wäre ja im di­rek­ten Ge­gen­satz zu den Ge­set­zen der Ent­wick­lung. Und doch muss­te sie zu­ge­ben, dass Ka­ta­stro­phen in der Metho­de der Na­tur lie­gen …

Sie saß ganz ru­hig, ein paar­mal einen flüch­ti­gen Blick auf die dürf­ti­gen un­zu­sam­men­hän­gen­den Nach­rich­ten wer­fend, um sich dann in den die­se be­han­deln­den Leit­ar­ti­kel zu ver­tie­fen, der eben­falls in Be­fürch­tun­gen sich er­ging. Ei­ni­ge Her­ren im jen­sei­ti­gen Halb­ab­teil spra­chen über den­sel­ben Ge­gen­stand; ei­ner be­schrieb die von der Re­gie­rung be­trie­be­nen Ma­schi­nen­fa­bri­ken, die er eben be­sucht hat­te, und die fie­ber­haf­te Eile, mit der dort ge­ar­bei­tet wur­de, wäh­rend sei­ne Mit­rei­sen­den ihn mit Zwi­schen­fra­gen be­stürm­ten. Dort war also auch kei­ne Er­mu­ti­gung zu ho­len. Durch die Fens­ter konn­te sie eben­so we­nig bli­cken, dazu war auf den Haupt­li­ni­en die Ge­schwin­dig­keit eine zu große für das Auge; der lan­ge In­nen­raum des Wa­gens, von ei­nem sanf­ten Licht er­leuch­tet, bil­de­te ih­ren Ge­sichts­kreis. Ihre Au­gen wan­del­ten ge­gen die mo­del­lier­te wei­ße De­cke, zu den köst­li­chen, ei­chenum­rahm­ten Wand­ge­mäl­den hin, nach den tie­fen, elas­ti­schen Sit­zen hin­über und zu den run­den Lam­pen­glo­cken über ih­rem Haup­te, de­nen das Licht ent­ström­te, dann wie­der nach ei­ner Mut­ter mit ih­rem Kin­de, die ihr schräg ge­gen­über­saß. Da er­klang das große Si­gnal, die schwa­che Vi­bra­ti­on ver­stärk­te sich ein we­nig, einen Au­gen­blick spä­ter spran­gen die au­to­ma­ti­schen Tü­ren zu­rück und sie trat auf den Bahn­steig der Sta­ti­on Brighton hin­aus.

Als sie die zum Bahn­hof­plat­ze füh­ren­de Trep­pe hin­ab­stieg, be­merk­te sie ei­ni­ge Schrit­te vor sich einen Pries­ter. Er schi­en ein sehr rüs­ti­ger und von den Jah­ren nicht ge­beug­ter, al­ter Mann zu sein, denn trotz sei­nes wei­ßen Haa­res war sein Schritt fest und gleich­mä­ßig. Sie blieb am Fuße der Trep­pe einen Au­gen­blick ste­hen, und, halb zur Sei­te ge­wandt, sah sie zu ih­rer Über­ra­schung, dass sein Ge­sicht das ei­nes jun­gen Man­nes war, mit fei­nen, doch ener­gi­schen Zü­gen, dunklen Au­gen­brau­en und sehr leb­haf­ten, grau­en Au­gen. Dann schritt sie wie­der vor­an und schlug, den Platz über­schrei­tend, die Rich­tung nach dem Hau­se ih­rer Tan­te ein.

Da ge­sch­ah, ohne die ge­rings­te War­nung, aus­ge­nom­men einen schril­len Schrei von oben her, eine Fol­ge von Er­eig­nis­sen.

Ein großer Schat­ten wir­bel­te durch das Son­nen­licht nie­der, ein Ton des Zer­bers­tens er­schüt­ter­te die Luft, dann folg­te ein Laut, wie das Äch­zen ei­nes Rie­sen, und wäh­rend sie ent­setzt und ver­wirrt da­stand, krach­te ein un­ge­heue­rer Ge­gen­stand mit dem Ge­tö­se von tau­send bers­ten­den Kes­seln auf das Kaut­schuk­pflas­ter vor ihr nie­der, der, den hal­b­en Platz be­de­ckend, lie­gen blieb, mit den lan­gen, an sei­ner obe­ren Sei­te be­find­li­chen Schwin­gen flat­ternd und schla­gend, ei­nem ver­en­den­den, grau­si­gen, be­flü­gel­ten Un­tie­re gleich, mensch­li­che Schreie aus­sto­ßend und fast so­fort be­gin­nend, in ge­bro­che­ner Le­bens­kraft ein­her­zu­krie­chen.

Ma­bel wuss­te kaum mehr, was nun ge­sch­ah; aber einen Au­gen­blick spä­ter ward sie durch einen hef­ti­gen Druck von rück­wärts nach vorn ge­drängt, bis sie, vom Kopf bis zu den Fü­ßen zit­ternd, vor ei­ner form­lo­sen Mas­se, dem zer­malm­ten, stöh­nen­den und sich win­den­den Kör­per ei­nes zu ih­ren Fü­ßen lie­gen­den Man­nes stand. Et­was wie ar­ti­ku­lier­te Lau­te stieß er aus; sie un­ter­schied deut­lich die Na­men: Je­sus und Ma­ria.

»Las­sen Sie mich durch, ich bin ein Pries­ter«, drang es plötz­lich an ihr Ohr.

Ei­nen Au­gen­blick stand sie still, be­täubt durch die Plötz­lich­keit all die­ser Din­ge, und be­ob­ach­te­te bei­na­he ver­ständ­nis­los den grau­haa­ri­gen jun­gen Pries­ter, der, auf den Kni­en lie­gend, dem ge­öff­ne­ten Über­ro­cke ein Kru­zi­fix ent­nom­men hat­te. Sie sah ihn sich tief nie­der­beu­gen, mit der Hand ein kur­z­es Zei­chen ma­chen und hör­te ihn in ei­ner ihr un­be­kann­ten Spra­che mur­meln. Dann stand er wie­der auf, das Kru­zi­fix hoch­hal­tend, und sie sah, wie er sich vor­an be­weg­te nach der Mit­te des in Blut schwim­men­den Plat­zes, da und dort­hin, wie nach ei­nem be­stimm­ten Zei­chen aus­schau­end. Jetzt ka­men über die Trep­pen des großen, zu ih­rer Rech­ten ge­le­ge­nen Ho­spi­tals Leu­te her­ab­ge­rannt, ohne Hut, und ein je­der einen, ei­ner alt­mo­di­schen Hand­ka­me­ra ähn­li­chen Ge­gen­stand tra­gend. Sie wuss­te, wer die­se Män­ner wa­ren, und ihr Herz schlug er­leich­tert. Es wa­ren die Eutha­na­sie­be­am­ten.1 Dann fühl­te sie sich bei den Schul­tern ge­packt und zu­rück­ge­sto­ßen und fand sich so­fort wie­der in der vor­ders­ten Rei­he ei­ner hin- und her­schwan­ken­den, schrei­en­den Men­ge und hin­ter ei­ner Ket­te, die sich aus Po­li­zis­ten und Zi­vi­lis­ten ge­bil­det hat­te, um dem An­drang ab­zu­weh­ren.

1 Ori­gi­nal: »mi­nis­ters of eutha­na­sia«, in der ers­ten Fas­sung sinn­los mit »Die­ner Eutha­na­si­as« über­setzt. <<<

3.

Oli­ver war von ei­nem pa­ni­schen Schre­cken be­fal­len, als sei­ne Mut­ter eine hal­be Stun­de dar­auf mit der Nach­richt her­ein­stürz­te, ei­nes der Re­gie­rungs­flug­schif­fe sei eben, als der Vier­zehn­ein­halb-Uhr-Zug sei­ne Pas­sa­gie­re in Brighton ab­ge­setzt hat­te, auf den Bahn­hofs­platz her­ab­ge­stürzt. Er wuss­te nur zu ge­nau, was das zu be­deu­ten hat­te, denn er er­in­ner­te sich ei­nes sol­chen vor zehn Jah­ren er­folg­ten Un­glückes, kurz nach­dem das Ge­setz er­las­sen wor­den war, das Pri­vat­flug­schif­fe ver­bot. Es be­deu­te­te, dass je­des dar­auf be­find­li­che le­ben­de We­sen ge­tö­tet war und wahr­schein­lich noch vie­le an­de­re, die sich auf dem Plat­ze, auf den es ge­stürzt war, be­fun­den hat­ten, — und was dann? Der Be­richt war nur zu klar: Sie muss­te um die­se Zeit auf dem Plat­ze ge­we­sen sein.

Er sand­te eine ver­zwei­fel­te De­pe­sche an ihre Tan­te und war­te­te, auf sei­nem Stuhl hin- und her­rückend, auf die Ant­wort. Sei­ne Mut­ter saß bei ihm.

»Gebe Gott —«, schluchz­te sie auf und hielt ver­le­gen inne, als er sich plötz­lich nach ihr wand­te.

Aber das Schick­sal war gnä­dig ge­we­sen, und drei Mi­nu­ten, be­vor Mr. Phil­lips mit der Ant­wort den Pfad ent­lang­hum­pel­te, trat Ma­bel selbst ins Zim­mer, ziem­lich blass und lä­chelnd.

»Him­mel!«, rief Oli­ver, tief auf­at­mend, wäh­rend er auf­sprang.

Sie hat­te ihm nicht viel zu er­zäh­len; es war noch kei­ne Er­klä­rung des Un­glückes ver­öf­fent­licht.

Sie be­schrieb den Schat­ten, das Zi­schen und den Krach des Fal­les. Dann stock­te sie.

»Nun, mei­ne Lie­be?«, frag­te ihr Gat­te, des­sen Wan­gen noch von ei­ner ziem­li­chen Bläs­se be­deckt wa­ren, wäh­rend er sich nahe zu ihr her­an­setz­te und ihre Hand strei­chel­te.

»Es war ein Pries­ter da­bei«, sag­te Ma­bel, »ich sah ihn schon vor­her auf der Sta­ti­on.«

Oli­ver konn­te sich ei­nes et­was krampf­haf­ten La­chens nicht ent­hal­ten.

»Er lag mit sei­nem Kru­zi­fix so­fort auf den Kni­en«, fuhr sie fort, »noch ehe die Ärz­te er­schie­nen. Sag’ mir ein­mal, mein Lie­ber, glau­ben die Leu­te tat­säch­lich al­les die­ses?«

»Wa­rum nicht? Sie den­ken we­nigs­tens, es zu glau­ben«, sag­te Oli­ver.

»Es kam al­les so — so plötz­lich, und er stand da, wie wenn er al­les er­war­tet hät­te. Oli­ver, wie kön­nen sie nur?«

»Wes­halb? Die Leu­te wer­den an al­les glau­ben, wenn sie nur früh­zei­tig da­mit be­gin­nen.«

»Und der Mann schi­en eben­falls dar­an zu glau­ben, — der Ster­ben­de, mei­ne ich. Ich sah es in sei­nen Au­gen.«

Sie stock­te.

»Nun, mei­ne Lie­be?«

»Oli­ver, was wür­dest du ei­nem Ster­ben­den sa­gen?«

»Sa­gen? Nichts, na­tür­lich! Was könn­te ich sa­gen? Aber ich glau­be nicht, dass ich je­mals je­man­den ster­ben sah.«

»Auch ich nicht, bis heu­te«, sag­te die jun­ge Dame und schau­der­te ein we­nig. »Die Eutha­na­sie­leu­te wa­ren bald an der Ar­beit.«

Oli­ver nahm sie sanft bei der Hand.

»Mein Lieb­ling, es muss­te ent­setz­lich ge­we­sen sein. Wie, du zit­terst ja im­mer noch?«

»Nein, aber höre ein­mal … Weißt du, wenn ich ir­gen­det­was hät­te sa­gen sol­len, hät­te ich es auch tun kön­nen. Sie la­gen alle ge­ra­de vor mir, ich war ver­wirrt; dann aber wuss­te ich, dass ich nichts zu sa­gen hat­te. Ich hät­te doch nicht gut von Hu­ma­ni­tät spre­chen kön­nen.«

»Mei­ne Lie­be, es ist ja be­dau­er­lich, aber du weißt, es liegt wirk­lich nicht viel dar­an. Es ist ja al­les schon vor­über.«

»Und — und sie ha­ben so­gleich ein Ende ge­macht?«

»Frei­lich, ja!«

Ma­bel press­te ihre Lip­pen ein we­nig zu­sam­men, de­nen ein schwe­rer Seuf­zer ent­fuhr. Eine Art in­ne­rer Un­ru­he, die sie nach­denk­lich mach­te, war wäh­rend der Rück­fahrt über sie ge­kom­men. Sie wuss­te be­stimmt, es wa­ren nur die Ner­ven, aber sie konn­te der­sel­ben noch nicht Herr wer­den. Es war, wie sie ge­sagt, das ers­te Mal, dass sie den Tod ge­se­hen hat­te.

»Und je­ner Pries­ter — je­ner Pries­ter denkt auch so?«

»Mei­ne Lie­be, lass dir sa­gen, was er glaubt. Er glaubt, dass der Mann, dem er das Kru­zi­fix vor­ge­hal­ten und über den er jene Wor­te ge­spro­chen hat, nun ir­gend­wo an­ders lebt, ob­wohl sein Ge­hirn tot ist; er weiß nicht ganz si­cher, wo, aber ent­we­der ist er in ei­ner Art Hochofen, um lang­sam ver­brannt zu wer­den, oder, wenn er Glück ge­habt und je­nes Stück Holz sei­ne Wir­kung ge­tan hat, ir­gend­wo über den Wol­ken vor drei Per­so­nen, die aber nur eins sind, ob­wohl es drei sind; er glaubt, dass dort noch eine große Men­ge and­rer Leu­te sind, fer­ner eine in Blau ge­klei­de­te Frau, vie­le an­de­re in Weiß, wel­che ih­ren Kopf un­ter dem Arm tra­gen, und vie­le an­de­re mit zur Sei­te ge­neig­tem Haup­te, und dass sie alle Har­fen ha­ben und im­mer­fort sin­gen und auf den Wol­ken wan­deln, was ih­nen viel Ver­gnü­gen macht. Er glaubt au­ßer­dem, dass alle die­se hüb­schen Leu­te fort­wäh­rend auf jene Hochö­fen her­ab­schau­en und die drei Per­so­nen prei­sen, dass sie sie ge­macht. Da hast du al­les, was der Pries­ter glaubt. Wie du weißt, ist das nicht sehr wahr­schein­lich; der­ar­ti­ge Din­ge mö­gen ja ganz hübsch sein, wahr sind sie nicht.«

Ma­bel lä­chel­te. Sie hat­te nie eine so gute Aus­le­gung ge­hört.

»Nein, Liebs­ter, du hast ganz recht. Der­glei­chen Din­ge sind nicht wahr. Wie kann er nur dar­an glau­ben? Er sah doch so in­tel­li­gent aus.«

»Lie­bes Kind, wenn ich dir, als du noch in der Wie­ge lagst, er­zählt hät­te, der Mond sei nichts wei­ter als fri­scher Käse, und dir das je­den Tag von früh bis abends ein­ge­bläut hät­te, so wür­dest du es jetzt wohl bei­na­he glau­ben, üb­ri­gens bist du ja selbst über­zeugt, dar­an zweifle ich kei­nen Au­gen­blick, dass die Eutha­na­sier die wah­ren Pries­ter sind.«

Ma­bel at­me­te be­frie­digt auf und er­hob sich.

»Oli­ver, du ver­stehst es wirk­lich, einen zu trös­ten. Ich habe dich sehr lieb. So, und nun muss ich in mein Zim­mer ge­hen, ich zit­tre im­mer noch.« —

In der Mit­te des Zim­mers hielt sie an und sah auf einen ih­rer Schu­he.

»Wie —«, be­merk­te sie lei­se.

 

Ein son­der­ba­rer, rost­far­be­ner Fleck war dar­auf, und ihr Gat­te be­merk­te, dass sie er­bleich­te. Er stand has­tig auf.

»Mei­ne Lie­be«, sag­te er, »sei nicht tö­richt.«

Sie sah ru­hig lä­chelnd zu ihm auf und ver­ließ das Zim­mer.

Nach­dem sie ge­gan­gen war, blieb er noch einen Au­gen­blick ru­hig sit­zen. Wie glück­lich er doch war! Er konn­te sich das Le­ben ohne sie gar nicht vor­stel­len. Vor sie­ben Jah­ren — sie war da­mals zwölf Jah­re alt — hat­te er sie ken­nen­ge­lernt, und vo­ri­ges Jahr wa­ren sie zu­sam­men zum Stan­des­be­am­ten ge­gan­gen, um den Ehe­bund zu schlie­ßen. Sie war ihm wirk­lich un­ent­behr­lich ge­wor­den. Frei­lich hät­ten die Welt und er auch ohne sie fort­be­ste­hen kön­nen, aber es wäre ihm doch nicht lieb ge­we­sen, es ver­su­chen zu müs­sen. Er wuss­te es wohl, denn dies wa­ren sei­ne An­sich­ten in Be­zug auf welt­li­che Lie­be, dass zwi­schen ih­nen eine zwei­fa­che Zu­nei­gung, eine in­tel­lek­tu­el­le so­wohl, als auch eine phy­si­sche be­stand; aber dar­über hin­aus gab es nichts. Doch ge­fie­len ihm ihre schnel­le Auf­fas­sungs­ga­be und die Über­ein­stim­mung zwi­schen ih­ren und sei­nen An­schau­un­gen. Man hät­te mei­nen mö­gen, es wä­ren zwei Flam­men, die sich zu ei­ner Drit­ten, grö­ße­ren ver­eint hat­ten: Wohl hät­te eine jede der­sel­ben für sich al­lein bren­nen kön­nen — eine der­sel­ben wird ja schließ­lich ein­mal üb­rig blei­ben müs­sen —, doch konn­te man sich in­zwi­schen der Wär­me und des Lich­tes er­freu­en, die sie bei­de aus­strahl­ten. Ja, mehr als glück­lich war er, dass sie durch einen glück­li­chen Zu­fall dem her­ab­stür­zen­den Flug­schif­fe ent­kom­men war.

Über sei­ne Dar­le­gung des christ­li­chen Glau­bens mach­te er sich kei­ne Ge­dan­ken mehr; für ihn galt es als aus­ge­macht, dass Ka­tho­li­ken die­se Art Din­ge glaub­ten; sie so dar­zu­stel­len, wie er ge­tan hat­te, kam ihm eben­so we­nig blas­phe­misch vor, als wenn man über einen Fid­schi­göt­zen mit Perl­mut­ter­au­gen und ei­ner Perücke aus Pfer­de­haa­ren la­chen wür­de; es war ein­fach un­mög­lich, da­bei Ernst zu be­wah­ren. Auch er hat­te ein- oder zwei­mal in sei­nem Le­ben sich ge­wun­dert, wie es mög­lich sei, dass mensch­li­che Ge­schöp­fe sol­chen Plun­der glau­ben konn­ten; aber die Psy­cho­lo­gie hat­te ihn ver­ste­hen ge­lehrt, dass Sug­ge­s­ti­on so ziem­lich al­les zu be­wir­ken im­stan­de sei; das stand dar­um für ihn voll­kom­men fest. Es war auch wie­der die­ses ab­scheu­li­che Ding, die­ses Chris­ten­tum, wel­ches so lan­ge das Um­sich­grei­fen der Be­we­gung zu­guns­ten der Eutha­na­sie mit all ih­ren so wohl­tä­ti­gen Fol­gen ge­hemmt hat­te.

Sei­ne Au­gen­brau­en zo­gen sich zu ei­ner Fal­te zu­sam­men bei dem Ge­dan­ken an den Aus­ruf sei­ner Mut­ter: »Gebe Gott!« Er lä­chel­te über das arme, alte Ding mit sei­nem pa­the­tisch-kin­di­schen We­sen und wand­te sich wie­der sei­nem Schreib­ti­sche zu. Un­will­kür­lich kehr­ten sei­ne Ge­dan­ken zu Ma­bel zu­rück, zu ih­rem Er­blei­chen, als sie des Blut­fle­ckens auf ih­rem Schuh ge­wahr ge­wor­den war. Ja, es war eine Tat­sa­che, die sich nicht leug­nen ließ. Wie soll­te man sie er­klä­ren? Wohl am ein­fachs­ten durch den er­ha­be­nen Glau­ben an die Mensch­heit, an die­sen wun­der­vol­len Gott, der an die zehn­tau­send­mal im Tage starb und auf­er­stand, der täg­lich ge­stor­ben war, seit­dem die Welt be­stand, wie einst je­ner alte, ver­rück­te Fa­na­ti­ker Sau­lus von Tar­sus, und sich wie­der er­hob, nicht nur ein­mal, wie der Sohn je­nes Zim­mer­manns, son­dern mit je­dem Kin­de, das neu zur Welt kam. Das war die Ant­wort; und war sie etwa nicht über­wäl­ti­gend er­schöp­fend?

Eine hal­be Stun­de spä­ter trat Mr. Phil­lips ein, wie­der mit ei­nem Bün­del Pa­pie­re.

»Kei­ne wei­te­ren Nach­rich­ten aus dem Os­ten?«, frag­te er ihn.