Weltordnungskrieg

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Aber eben deshalb trifft Kautskys „Nostradamus-Vision“ eines demokratischen Sesselfurzers für den heutigen tatsächlichen „ideellen Gesamtimperialismus“ der NATO erst recht nicht zu. Denn erstens geht es dabei gar nicht mehr um eine gemütliche „gemeinsame Ausbeutung“ bislang noch kapitalistisch unerschlossener Weltregionen, sondern vielmehr um das Problem einer sich voranfressenden Weltkrise, die gerade dadurch bestimmt ist, dass der Kapitalismus des Zentrums auf der erreichten Höhe seines eigenen Produktivitäts- und Rentabilitätsstandards zunehmend „ausbeutungsunfähig“ wird und der Weltmarkt wachsende Zonen einer ökonomisch „verbrannten Erde“ zurücklässt, die ihre kapitalistische Erschließungsfähigkeit schon hinter sich haben.

Und zweitens ist gerade deswegen die NATO auch eine ganz und gar unfriedliche Allianz des Gesamtimperialismus, weil sie alle Hände voll zu tun hat, auf die politisch-militärischen, barbarisierenden Folgen der unbewältigbaren Krise einzudreschen. So entspricht es zwar den Tatsachen, dass es 80 Jahre nach Kautskys These keinen innerimperialistischen Konflikt nach dem Muster des Ersten Weltkriegs mehr gibt, aber der widersprüchliche supranationale Charakter der NATO fußt auf ganz anderen Entwicklungen, als sie Kautsky vorgeschwebt hatten; und so handelt es sich eben nicht um eine parlamentarisch transformationsfähige kapitalistische Friedensära, sondern um einen barbarischen Weltordnungskrieg ohne jede zivilisatorische Perspektive. Die Analogie von Kautskys Konstrukt des „Ultraimperialismus“ und des wirklichen „ideellen Gesamtimperialismus“ der NATO ist eine ganz äußerliche und unwahre.

Dass es im 21. Jahrhundert keine Neuauflage der früheren nationalimperialen territorialen Einflusskämpfe um die Welthegemonie geben wird, dafür sprechen allerdings nicht nur die ökonomischen und politisch-militärischen Fakten im Kontext von Pax Americana und Globalisierung. Auch die kulturelle und ideologische Entwicklung lässt nicht im geringsten erkennen, dass die alten Mächte der Weltkriegsepoche demnächst zur dritten Runde antreten werden und die NATO bloß eine vorübergehende Erscheinung in der Epoche des kalten Krieges gewesen sein könnte.

Bei einer weltpolitischen Konfliktkonstellation müssen die beteiligten Gesellschaften ja nicht nur politisch-ökonomisch und militärisch, sondern auch kulturell und ideologisch formiert und vorbereitet werden. Man muss sich nur einmal ansehen, mit welch ungeheurem Aufwand und historisch weitem Ausgreifen die jeweiligen Feindbilder sowohl in der Weltkriegsepoche zwischen 1870 und 1945 als auch in der bipolaren Nachkriegskonstellation zwischen 1945 und 1989 aufgebaut und kultiviert wurden. Das „perfide Albion“, der französische „Erbfeind“ und umgekehrt die deutschen „Hunnen“ usw. oder später das „totalitäre Reich des Bösen“ im Osten erfuhren eine nicht bloß propagandistische, sondern auch künstlerische, volks- und popkulturelle Pflege und Ausmalung bis in den Alltag hinein. Dafür wurden alle medialen Register gezogen, vom akademischen Disput bis zum Kinderbuch, von der Denkmalpflege bis zur patriotischen Lyrik. Nichts dergleichen lässt sich heute über einen systematischen Aufbau von neuen und wechselseitigen innerimperialistischen Feindbildern sagen. Sogar der traditionelle europäische Antiamerikanismus ist nicht nur marginal, sondern selber schon „amerikanisiert“.

Das heißt keineswegs, dass nicht nationalistische, antisemitische, „volksgemeinschaftliche“, rassistische usw. kulturelle und ideologische Muster wiederkehren und in den Krisenprozessen der Globalisierung verstärkt abgerufen würden. Aber im Unterschied zur Weltkriegsepoche stehen diese Muster nicht im Kontext einer nationalimperialen Formierung für den Vernichtungskampf der kapitalistischen Großmächte untereinander um „geostrategische Großräume“. Schon das Feindbild des sowjetischen „Reichs des Bösen“ war auf einer anderen Ebene herausgebildet worden; es reflektierte nicht mehr die Konkurrenz der nationalimperialen Staaten des westlichen industriekapitalistischen Zentrums untereinander, sondern die Konkurrenz des Zentrums als Ganzem mit den historischen Nachzüglern der Peripherie und deren innerkapitalistischem „Gegensystem“.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Kriegs kehren nicht die vorherigen alten Feindbilder zurück, sondern es wird ein neues, wesentlich diffuseres Feindbild aufgebaut, das überhaupt nicht mehr in erster Linie von irgendeiner in imperiale Politik verlängerten Konkurrenz innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt ist (dies galt nur für deren historischen Aufstiegsprozess), sondern unmittelbar von den Zerfallserscheinungen in der kapitalistischen Weltkrise: Diese sollen ideologisch veräußerlicht und personifiziert werden, um den Charakter der Krisenerscheinungen im Dunkeln zu lassen und ihre Ursachen zu verschleiern.

DIE REALEN GESPENSTER DER WELTKRISE

Natürlich will die demokratisch-kapitalistische Ideologie nicht wahrhaben, dass es sich beim neuen Weltfeind um das globale Zersetzungsprodukt des eigenen Systems handelt. Deshalb ist die offizielle Bestimmung der Lage auch bar jeder realistischen Analyse. Stattdessen wimmelt es beim Versuch, das Ziel zu identifizieren, wie in einem Kaleidoskop nur so von seltsamen Regimes, anachronistischen Clans, Terrorgruppen, fundamentalistischen Bewegungen, sogenannten „Schurkenstaaten“ usw. Die Generalbösewichte und jeweiligen Feinde Nr. 1, die undemokratischen Monster und Schlächtergestalten lösen einander in rascher Folge ab, ohne dass sich jemals ein klares Bild des Feindes herausbilden würde. Vom Standpunkt des kapitalistischen Weltsystems aus gibt es einfach keinen Begriff dafür.

Was sich feststellen lässt, ist eine gewisse Abstufung in den unklaren weltdemokratischen Feindbildern und in der Vorgehensweise. Im Falle des Irak und seines Diktators Saddam Hussein handelt es sich einerseits in gewisser Weise um ein Relikt des kalten Krieges und seiner „heißen“ Stellvertreterkriege, da der Irak wie viele Staaten der Dritten Welt zwischen den beiden Machtblöcken laviert und in deren Schatten sein weltregionales Aufrüstungssüppchen gekocht hatte. Andererseits war diese Aufrüstung des Irak auch bereits durch die neue Konstellation der Weltkrise nach dem Epochenbruch bestimmt, insofern es ironischerweise der Westen selbst war, der die Waffenarsenale für den blutigen irakischen Golfkrieg der 80er Jahre gegen das benachbarte Mullah-Regime des Iran geliefert hatte.

Saddam Hussein, ursprünglich im Kalten Krieg von der Sowjetunion protegiert, war in den 80er Jahren (wie verwandte Diktatoren-Gestalten der Peripherie sowohl vorher als auch nachher) zum Monster-Baby der westlichen Weltdemokraten selber mutiert, das sie aufgepäppelt hatten, um es in eine neue Art von Stellvertreter-Krieg gegen den damaligen iranischen „Schurkenstaat“ Nr. 1 zu schicken. Diese Option wurde mit großem Aufwand wieder revidiert und der Westen musste die von ihm selber gelieferten zweitklassigen und veralteten Waffensysteme zusammenschießen, was nicht gerade für ein schlüssiges Konzept der Weltordnungskrieger spricht.

Um das eigentliche Problem verstehen zu können, ist es notwendig, das zu tun, was die westlich-demokratischen Ideologen des Weltordnungskriegs um jeden Preis zu vermeiden suchen: nämlich die schwankenden Definitionen der „Weltfeinde“ auf den wirklichen Prozess der kapitalistischen Weltkrise zu beziehen, aus deren Verlauf erst auf die Entwicklung des Feindbildes geschlossen werden kann. Bei dieser Betrachtung stellt sich die Konstellation des Kriegs gegen den Irak Anfang der 90er Jahre als ein Übergangsphänomen heraus.

Krisenpotentaten und neue Bürgerkriege

Kann der erste demokratische Weltordnungskrieg gegen den Irak zumindest teilweise noch als Überhangproblem des Kalten Kriegs nach dem Epochenbruch verstanden werden, so war der zweite Weltordnungskrieg gegen Restjugoslawien schon viel stärker von den Folgen der neuen Weltkrise bestimmt. Im Unterschied zu Saddam Hussein, der vor den Sanktionen noch aus dem Vollen des Ölreichtums schöpfen konnte, war die neue Unperson Milosevic kein übrig gebliebener Diktator aus der Epoche des Kalten Krieges, sondern bereits ein typischer Krisenpotentat, hervorgegangen aus dem Zusammenbruch der vom Weltmarkt zermalmten jugoslawischen Nationalökonomie. Insofern verweist die jugoslawische Krise auf eine andere, höhere Qualität des Weltordnungskriegs; denn auf dem Balkan geht es nicht mehr um die Zähmung einer dysfunktional gewordenen Diktatur alten Zuschnitts, sondern um die Intervention gegen die politisch-militärischen Konsequenzen ökonomischer Zusammenbruchsprozesse.

Aber auch der Typus des Krisenpotentaten, wie ihn Milosevic repräsentierte, ist noch nicht die letzte Stufe in der Phänomenologie politisch-ökonomischer Zerfallsformen. Dort, wo dieser vom Weltkapitalismus induzierte Zerfall bereits auf der substaatlichen Ebene angekommen ist, löst sich das demokratische Feindbild endgültig in Irrationalität auf. Die fast schon mythische Figur eines Osama bin Laden etwa lässt erkennen, dass die Begriffslosigkeit der sterbenden bürgerlichen Politik nach Bildern und Imaginationen sucht, um dem für sie Unbenennbaren eine Art Gesicht zu geben, in das man schlagen kann. Mafia, Räuberbanden, Gotteskrieger, verborgene Fürsten des Terrors: Was in der zerbrechenden Welt der fruchtlosen Weltordnungskriege nach dem Typus Milosevic kommt, liegt bereits jenseits des modernen politisch-militärischen Konflikts, wie er zumindest der äußeren Form nach mit dem irakischen oder restjugoslawischen Regime noch ausgetragen werden konnte.

 

In allen Fällen aber handelt es sich bei den ursprünglichen, dem jeweiligen Unruheherd zugrunde liegenden Konflikten um ebenso mörderische wie scheinbar atavistische Bürgerkriege, die sich also weniger nach außen als nach innen richten - wobei das „Innen“ eine mehr oder weniger marode oder bereits zerstörte Nationalökonomie bezeichnet, deren staatlicher Rahmen auseinander bricht. Selbst im Irak, dessen Konfliktpotential teilweise noch auf einer anderen Ebene zu liegen schien (nämlich im Hinblick auf die versuchte Annexion Kuweits), spielte dieses Moment durchaus eine Rolle, etwa im inneren Krieg gegen die Bevölkerung der kurdischen Gebiete. Der jugoslawische Krieg ist bereits ein typischer Bürgerkrieg der inneren Krisenkonkurrenz, wie er längst in fast ganz Afrika und neuerdings auch in großen Teilen der ehemaligen Boomländer Asiens geführt wird. Die Bilder im Kosovo und in Bosnien, in der Osttürkei, im Kaukasus, in Afghanistan, Indonesien und auf den Philippinen, in Ruanda, Uganda oder dem Kongo gleichen sich aufs Haar.

Wenn die Dajak auf Borneo Autokorsos veranstalten, bei denen sie die aufgespießten Köpfe ihrer aus Madras eingewanderten Nachbarn mit sich führen, dann ist das kein Hinweis auf ein Hervorbrechen atavistischer Muster, vormoderner Relikte oder gar mörderischer Urtriebe ehemaliger Kopfjäger, wie es gängige Interpretationen gern hätten, sondern es handelt sich eindeutig um Verzweiflungsakte einer Überlebenskonkurrenz, die ebenso eindeutig in letzter Instanz vom Weltmarkt und den Funktionsgesetzen des kapitalistischen Weltsystems induziert sind. Es besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den „marktwirtschaftlichen Strukturreformen“, wie sie von den Beratern der Weltbank und den Schattenregierungen des IWF durchgesetzt werden, und den Macheten-Massakern, Massenvergewaltigungen und riesigen Flüchtlingsströmen, mit denen die kapitalistischen Medien den demokratischen Idealismus aufgeilen.

Im wesentlichen ist es die „Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln“, die in den Krisen- und Zusammenbruchsregionen die Gewalt gebiert. In gewisser Weise ist diese neue Reaktionsform der alten kapitalistischen Politik und der alten Logik imperialer Expansion durchaus wesensverwandt. Auch die bürgerliche Politik als solche ist ja nichts anderes als eine „Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln“; und als imperiale Außenpolitik mündete sie stets in die unregulierte Gewaltanwendung. Die Gewalt der Krisenkonkurrenz an der Schwelle des 21. Jahrhunderts bildet freilich nur noch die grausame Karikatur dieses bürgerlichen Grundverhältnisses. Und dass diese Gewalt sich im wesentlichen nach innen statt nach außen richtet, ist ein weiteres Zeichen für den Zerfall der zu Grunde liegenden Scheinzivilisation des Geldes. Das Verhältnis hat sich umgekehrt: Nicht mehr der äußere, sondern der innere Feind bestimmt die Konfliktdefinition. Mit demselben kulturellen und psychischen Aufwand wie in der Vergangenheit das äußere, wird jetzt das innere Feindbild konstruiert und bis zum exzessiven Ausbruch entwickelt.

Dabei ist es offenbar völlig egal, ob alte, schon halb vergessene Kriegsbeile zwischen bestimmten Bevölkerungsteilen wieder ausgegraben oder ganz neue Feindbilder erfunden werden. Ebenso gleichgültig bleibt es, ob ethnische und rassistische, religiöse oder andere Zuschreibungen die Krisenkonkurrenz dominieren. Oft handelt es sich um völlig willkürliche Eklektizismen, etwa wenn im jugoslawischen Krieg die einen Kombattanten über die Sprache („Kosovaren“), die anderen über die Religion (bosnische „Moslems“) oder über ethnische und kulturelle Muster („Serben“, „Kroaten“) definiert werden. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, ob bestimmte Menschengruppen gewaltsam ausgegrenzt und vertrieben (wie in Borneo oder Ruanda) oder gewaltsam eingegrenzt und einem bestimmten Staatsapparat unterworfen bleiben sollen (wie im Kosovo oder den türkischen Kurdengebieten).

Alle ideologischen Kostüme, soweit sie überhaupt noch getragen werden, sind mehr als fadenscheinig geworden, ideelle und metaphysische Bezüge nur noch Vorwand. Das gilt selbst für den bewussten Rückgriff auf scheinbar vormoderne Weltanschauungen. Der sogenannte „islamische Fundamentalismus“ etwa hat so gut wie gar nichts mit den wirklichen islamischen Kulturen der Vergangenheit zu tun; er ist vielmehr die typische Erscheinungsform einer „postmodernen Verwilderung des Patriarchats“ (Scholz 2000).

Längst sind die Übergänge zwischen Mafia, Sekte, ethnischem Separatismus, Nazi-Bande, Räuberhorde, Guerilla etc. fließend geworden. Und der Phänotyp der Gemetzel ist überall derselbe: der moralisch und kulturell verwahrloste, völlig bindungslose „junge Mann“ zwischen 15 und 35 als Exekutor der Krisenkonkurrenz - ein wahrer „Selbstunternehmer“ mit Handy und Turnschuhen von Reebok oder Adidas, lässig die kühle Maschinenpistole als Attribut und Mordinstrument umgehängt, der die unmittelbare physische Macht und die Angst des menschlichen Freiwilds genießt, weil er sonst nichts mehr hat: „Es ist High Noon. Die Männer haben abenteuerliche, zusammengewürfelte Uniformen, dazu komische Hüte und modische Sonnenbrillen. Je nach Status tragen sie Maschinenpistolen oder Kalaschnikows“ (Neue Zürcher Zeitung, 26.3.2001). Diese Impression von der „Wildwest-Stimmung“ in der südserbischen Pufferzone ist eine für alle einschlägigen Konfliktgebiete in der zerbrechenden One World des Kapitals. Vielleicht wird heute bereits der größere Teil der Erdoberfläche von diesem Typus real beherrscht.

Die globale Plünderungsökonomie

Der Wahn, der sich in solchen Verhältnissen Bahn bricht, ist nur die Weiterentwicklung des ganz normalen kapitalistischen Wahns unter den Bedingungen der qualitativ neuen Weltkrise. Deshalb liegt diesem mörderischen Verhalten auch durchaus eine gewisse ökonomische Rationalität zu Grunde; nur dass diese aus der äußeren Regulation und Verrechtlichung kapitalistischer Verhältnisse und einer daran gebundenen Bewusstseinsform zu unmittelbaren Gewaltverhältnissen auch im gesellschaftlichen Binnenraum - „zurückkehrt“ kann man nicht sagen, denn der historische Durchgang durch die kapitalistische Form ist natürlich irreversibel. Was hier entsteht, sind keine kulturell eingebundenen unmittelbaren Gewaltverhältnisse mehr wie in vormodernen agrarischen Gesellschaften, sondern „entbundene“ Gewaltstrukturen, wie sie aus dem Zerfall der warenproduzierenden Anti-Zivilisation des Geldes hervorgehen.

Die unmittelbare Brutalität dieser Gewalt erscheint daher zwar oberflächlich als archaisch (im Unterschied zur „zivilisierten Barbarei“ der kapitalistischen Bürokratien und Schreibtischtäter bis hin zur äußersten Zuspitzung durch die Nazi-Mordmaschine); aber dahinter verbirgt sich ein von der bürgerlichen ökonomischen Konkurrenz wie von der damit verbundenen Individualisierung geformtes, gleichzeitig allerdings aus bürgerlichen Rechtsverhältnissen herausgefallenes Bewusstsein.

Die ökonomische Ratio des Irrationalen, die sich aus dieser negativen „Freisetzung“ ergibt, ist zunächst die Gewaltvernunft einer Plünderungsökonomie, wie sie inzwischen in Wahrheit die vorherrschende Form moderner kapitalistischer Verhältnisse in den großen Krisen- und Zusammenbruchsregionen der Welt bildet. Natürlich folgen die Bluträusche, Massaker und spontanen Grausamkeiten der inzwischen die Welt überziehenden „Bürgerkriege“ (selbst dieser Begriff ist brüchig geworden und kann das wirkliche Szenario nur andeuten) keinerlei ökonomischer Logik mehr. Aber sogar die meisten Gotteskrieger oder Ethnobanditen besitzen so viel von kapitalistischen Kriterien geformten Willen zur Selbstbehauptung, dass sie nach Geld und Gütern des modernen bzw. „postmodernen“ Massenkonsums gieren; auch wenn diese „Selbstbehauptung“ andererseits in gewisser Weise schon keine mehr ist, weil ihr der gesellschaftliche Funktionszusammenhang kapitalistischer Reproduktion abhanden gekommen ist.

Es leuchtet ein, dass diese Plünderungsökonomie keiner betriebswirtschaftlichen Produktionsweise mehr entspricht, eben weil diese in der jeweiligen Region bereits zerbröselt bzw. ganz zusammengebrochen ist oder sich davongemacht hat und somit die Konkurrenz auch nicht mehr in der Realisationssphäre des Marktes, sondern nur noch in der Realisationssphäre des bewaffneten Übergriffs ausgetragen werden kann. Die Voraussetzungen gleichen sich wie die sekundär-barbarischen Krieger aufs Haar: ausweglose Außenverschuldung und Selbstaufgabe der jeweiligen Nationalökonomie; an Beschäftigte und Beamte werden nur noch sporadisch oder gar keine Löhne und Gehälter mehr gezahlt; Verlotterung und schließliche Liquidation (soweit überhaupt vorhanden) der Infrastrukturen von der Müllabfuhr bis zum Gesundheitswesen; Rückfall großer Bevölkerungsteile in primitive Subsistenzwirtschaft usw.

Es ist eine „verlorene Generation“ ebenso tatkräftiger wie desorientierter junger Männer, die auf ihre kapitalistische „Überflüssigkeit“ bösartig reagiert und sich in den hoffnungslosen Milizen dieser Welt wiederfindet. Natürlich kann nichts geplündert werden, was nicht produziert worden ist. In einigen Ländern bietet sich dafür zum Beispiel der Restbestand an legaler und illegaler (Drogen) Rohstoffproduktion für den Weltmarkt an. So waren die so genannten radikalislamistischen afghanischen Taliban in den 90er Jahren zu den größten Heroindealern der Welt aufgestiegen, noch vor der kolumbianischen Drogenmafia.

Selbstverständlich gehen solche Strukturen von krimineller Ökonomie und Plünderungen im fast schon volkswirtschaftlichen Maßstab über das Potential der destruktiven Energie von arbeitslosen bewaffneten Jugendlichen hinaus. Es sind „Paten“, die das System der Plünderungsökonomie organisieren und beherrschen. Einerseits wird das organisierte Verbrechen in den konkurrenzschwachen und schließlich vom regulären Weltmarkt abgekoppelten Regionen längst vor dem manifesten nationalökonomischen Zusammenbruch zu einem entscheidenden sekundären Wirtschaftsfaktor. Es sind die Mafiabosse und Bandenhäuptlinge des illegalen Drogen-, Frauen- und Waffengeschäfts, die in den vom Gesetz des Weltmarkts induzierten gesellschaftlichen Erschütterungen schnell zu Quasi-Armeeführern aufsteigen und eine pseudo-politische Qualität gewinnen, die Bestandteil des Übergangs zur Plünderungsökonomie (in alter marxistischer Terminologie: gewissermaßen deren „politischer Überbau“) wird. So bestand etwa der Kern der so genannten „bosnischen Armee“ zu Beginn des Bürgerkriegs mit den Serben schlicht aus der Kommandostruktur der mit Handfeuerwaffen ausgerüsteten heimischen Kriminalität.

Nicht selten sind es allerdings auch ursprünglich ganz gewöhnliche Geschäftsleute, Händler, Fabrikdirektoren, Banker usw. (in vielen Weltgegenden mehr oder weniger identisch mit den Oberhäuptern von patriarchalischen Großfamilien-Clans), für die sich natürlich in einer Zusammenbruchsregion das Geschäftsfeld ebenso verändert wie das Geschäftsgebaren. Als Paten der Plünderungsökonomie können sie ihren regulären Bankrott kompensieren. Für den Fall, dass sie noch kapitalkräftig sind, eröffnen sich neue Anlagefelder, während die alten marktregulären unsicher werden oder ganz verschwinden.

Schon vorher ist der Übergang von größerer oder kleinerer Geschäftstätigkeit zur Kriminalität fließend, wie der Fall des inzwischen unter dubiosen Umständen erschossenen Serben Zeljoko Raznjatovic zeigt, der unter seinem Kriegsnamen „Arkan“ berüchtigt geworden ist: „Dieser … Warlord betätigte sich ursprünglich als Kneipier in Belgrad. Sein Café, das sich unmittelbar neben dem Belgrader Fußballstadion befand und das vornehmlich von den Fanclubs von Roter Stern Belgrad frequentiert wurde, warf aber keinen sonderlichen Gewinn ab. Raznjatovic wechselte daher das Metier und ging zunächst einmal ins Ausland. Wegen Bankraubs in Schweden, in der Bundesrepublik, in Belgien und in Holland mit Haftbefehl gesucht, zog sich Raznjatovic nach einigen Jahren vor dem Fahndungsdruck von Interpol wieder in das heimatliche, gerade im Auseinanderbrechen begriffene Jugoslawien zurück. Dort verstand er es, seine alten Kontakte als Kneipier nutzbar zu machen, und baute mit Hilfe seiner alten Stammgäste seine ‚Tigertruppe' auf' (Lohoff 1996, 165 f.).

Nicht zu vergessen sind die Paten aus der Diaspora: nach Westeuropa oder in die USA ausgewanderte Einheimische, die dort als Geschäftsleute zu Geld gekommen sind und nun gönnerhaft in die heimatliche Zusammenbruchsökonomie zurückkehren, um sich als marktwirtschaftliche „Entwicklungshelfer“ zu gerieren. Soweit sie nicht durch äußerlich reguläre Geschäfte zum Beispiel die Kreditgelder von IWF und Weltbank absahnen, gefallen sich viele von ihnen in der Rolle von Geldgebern irgendwelcher Milizen oder sie treten gleich selber als Hobby-Generäle auf.

 

Schließlich sind auch die Chargen des jeweiligen, nahezu platt gemachten Staats- und Verwaltungsapparats nicht zu vergessen, die ebenfalls umso leichter und geschmeidiger in die Rolle von Paten der Plünderungsökonomie fallen, je gewohnheitsmäßiger sie schon vorher in den schwelenden sozialökonomischen Krisenprozessen der Korruption gefrönt hatten: „Von der treulosen Gesellschaft im Stich gelassen, verschwindet der entkoppelte Staatsapparat aber nicht einfach spurlos. Wenn die Staatsbediensteten mit keinem nennenswerten Einkommen aus Steuermitteln mehr rechnen können, sind sie darauf angewiesen, ihr Auskommen aus anderen Quellen zu sichern… Aus dem idealiter symbiotischen Verhältnis zur Gesellschaft entlassen, nach wie vor aber mit hoheitlichen Rechten und den damit verbundenen Durchsetzungsmöglichkeiten ausgestattet, liegt es für Teile der staatlichen Apparate nahe, zur Plünderung der Gesellschaft überzugehen“ (Lohoff 1996, 163). Dieser Fall, hier aus einer Studie über die Entwicklung Jugoslawiens, findet sich überall in der vom Weltmarkt überrollten, niederkonkurrierten und zusammenbrechenden Peripherie. Zu den Plünderern gehören auch die längst verwilderten offiziellen Armeen, Polizei- und Sicherheitskräfte. Vom Verwaltungs- oder Polizeichef zum Bandenchef ist der Schritt schließlich so groß nicht.

Die Motive all dieser Paten wie ihrer Klienten und ihres bewaffneten Fußvolks sind äußerst durchsichtig; irgendwelche ideologischen Rechtfertigungen sind für sie weniger wert als eine löchrige Unterhose. Inzwischen müssen sogar die offiziellen supranationalen Institutionen einer schnöden ökonomischen Interpretation der globalen „Störungspotentiale“ Rechnung tragen. Eine Studie der Weltbank vom Sommer 2000, verfasst von Paul Collier, Forschungsdirektor der Abteilung Entwicklungsökonomie, kommt zu dem Schluss: „Interne kriegerische Auseinandersetzungen rund um die Welt sind entgegen gängiger Auffassung bzw. öffentlicher Wahrnehmung selten von politischen Zielsetzungen oder ethnischen und religiösen Streitigkeiten, sondern maßgeblich von wirtschaftlichen Motiven getrieben… Politische Motive werden … meist nur als Rechtfertigung und zu internationalen Public-Relations-Zwecken vorgeschoben. Collier vertritt die Meinung, Rebellenorganisationen seien vielfach genauso wenig ideologisch motiviert wie die Mafia… Als größten Risikofaktor für interne kriegerische Auseinandersetzungen nennt der Bericht die hohe Abhängigkeit von Rohstoffexporten. Diamanten, Kaffee und andere Rohstoffe könnten leicht geplündert und von Guerillaorganisationen als Finanzquelle benützt werden“ (Neue Zürcher Zeitung, 17.6.2000).

Treuherzig fügt das Schweizer Urblatt des Wirtschaftsliberalismus hinzu: „Bei den Wirren in Jugoslawien dürfte Colliers These allerdings ins Wackeln kommen“ (ebda.). Tatsächlich sind jedoch ausnahmslos alle „Wirren“ und „Bürgerkriege“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts Moment einer Plünderungsökonomie. Die Besetzung von Diamantenfeldern etc. in Afrika (Angola, Kongo) stellt nur einen Spezialfall dieses globalen Phänomens in wenigen Ländern dar. Die meisten Banden, Milizen, Warlords, Regionalfürsten usw. müssen sich mit einfacheren Formen der Plünderung begnügen, wie die Berichte aus Tschetschenien, Ex-Jugoslawien, Afghanistan oder Somalia einhellig vermerken. Das Beutegut holt man sich natürlich zuerst beim offiziellen ethno-religiösen oder sonstigen Bürgerkriegsgegner; beide Seiten plündern aber ebenso auch die „eigenen Leute“ aus.

Teilweise handelt es sich dabei um Sekundärkreisläufe des Weltmarkts, ähnlich wie das inzwischen auch in den Zentren zu beobachtende Elendsunternehmertum, die allerdings nicht mit dem Händewechsel von Ware (Elendsware bzw. Elendsdienstleistung) und Geld enden, sondern in der Mündung einer Handfeuerwaffe. Um sich in Geld oder Ware verwandeln zu können, muss das Plünderungsgut dann zwar wieder auf Märkte und damit in Tausch Verhältnisse zurückkehren; aber an irgendeiner Stelle ist der Händewechsel von Ware und Geld durch ein unmittelbares Gewaltverhältnis unterbrochen.

Auf der Geldebene handelt es sich meistens um Devisen-Ersparnisse (Dollar oder DM), die von aus der EU oder aus Nordamerika heimgekehrten Arbeitsmigranten mitgebracht oder von dort beschäftigten Familienangehörigen geschickt wurden; auf der Bank, sofern es noch eine gibt, ist das Geld aber nicht sicher, weil es sich „in Luft auflöst“, gesperrt oder von der Regierung konfisziert wird, wie zu ihrem Leidwesen nicht nur die jugoslawischen Arbeitsmigranten erfahren mussten. So landen die Devisen nach großmütterlicher Manier im Sparstrumpf oder unter dem Kopfkissen - und werden zur leichten Beute der Kalaschnikow-Jünger. Auf der Warenebene sind es oft westliche Hilfsgüter aller Art für die Krisen- und Hungergebiete, die sich in Plünderungsgut für die Sekundärkreisläufe verwandeln.

Teilweise werden die Zusammenbruchsregionen auch zur Drehscheibe für global operierende Mafia-Organisationen. Albanien oder Montenegro etwa leben großenteils vom Schmuggel mit Drogen, Waffen und Zwangsprostituierten über die Adria gen EU. Im Kosovo werden von den „Befreiungskämpfern“ minderjährige Mädchen für die Zwangsprostitution auf offener Straße weggefangen; und wenn kein menschliches Raubgut der „feindlichen“ Bevölkerungsgruppe greifbar ist, tut es auch das „ethnisch“ eigene Fleisch, wie ein Bericht aus dem „befreiten“ Kosovo zeigt: „Nach 20 Uhr verwaist der Boulevard von Prístina. Vor allem jüngere Frauen und Mädchen bleiben zu Hause… Gegen 20 albanische Frauen sind angeblich alleine in Prístina verschwunden. Niemand kennt die genaue Zahl… Werden die Frauen nach Italien verschleppt und dort zur Prostitution gezwungen?… Gewalt richtet sich längst nicht mehr nur gegen Angehörige der Minderheiten im mehrheitlich albanischen Kosovo“ (Handelsblatt, 16.12.1999). In Afghanistan gründeten Milizangehörige sogar Knabenbordelle, deren Insassen wahllos aus der Bevölkerung gegriffen wurden. Es gibt keine Bande oder Miliz, die in ihrem Gebiet nicht eine Schreckensherrschaft ausüben würde.

Schließlich reproduziert sich die Plünderungsökonomie schlicht durch Ausschlachtung der ökonomischen Ruinen und durch Raub von noch aus der Vergangenheit vorhandenen Gütern. So heißt es in einem Bericht über Tschetschenien: „Nicht nur Alu-Kabel bringen Geld. Die gesamte Infrastruktur, von Industrieanlagen bis zu Leitungsrohren, wird ausgeschlachtet, auch Altmetall lässt sich verkaufen… Herausgerissen und gestohlen werden Röhren, Zäune, Ausrüstungsgegenstände und andere Anlagen aus Metall…“ (Avenarius 2000). Bei der individuellen Plünderung werden den Opfern die Devisen, das Auto, der Fernseher, die Waschmaschine und andere elektronische Geräte abgeknöpft - in dieser Reihenfolge. Zu großen Teilen tauchen die naturalen Raubgüter dieser Art auf den Second-Hand-Märkten wieder auf, die sich legal und halblegal durch ganze Kontinente ziehen (in Ost- und Südosteuropa von der polnischen Ost- und Westgrenze bis nach Istanbul).

Auf der untersten Stufe der Plünderungsökonomie geht es nur noch um Nahrungsmittel und Früchte der primitiven Subsistenzproduktion. Die Schrebergärten im Weichbild von Moskau werden ebenso ausgeraubt wie die Gemüsefelder in Asien. Eine Reportage über die Schikanen serbischer Polizisten gegen in Südserbien wohnende Albaner berichtet, die Paramilitärs hätten mit vorgehaltener Pistole das „Kochen von Mittagessen“ verlangt.