Die Herren von Hermiston

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»'s ist doch 'n jämmerliches Geschöpf, die Frau«, sagte eine der Dirnen.

»Unsinn«, meinte die andere, »das Weib ist krank.«

»Pah, ich seh' keinen Unterschied«, entgegnete die erste. »Ein saftloses Frauenzimmer, ein elendes, altes Weibsbild.«

Das so besprochene arme Wesen schlenderte währenddessen verloren durch das Grundstück. In ihrem Geiste wogten und verebbten die Strömungen und rissen sie wie Seetang hin und her. Sie schlug den einen Pfad ein, blieb stehen, kehrte um und versuchte es mit einem neuen, immer suchend, suchend und hatte doch schon im nächsten Augenblick ihr Vorhaben wieder vergessen, da das Wahlvermögen in ihrem Busen längst erloschen oder zum mindesten jeder Konsequenz beraubt war. Plötzlich jedoch war es ihr, als habe sie sich des Vergessenen erinnert oder einen Entschluß gefaßt; sie wandte sich eilig, hastete zurück und erschien im Speisezimmer, das Kirstie gerade aufräumte, wie jemand, der einen wichtigen Auftrag zu erledigen hat.

»Kirstie«, hub sie an und stockte; dann fuhr sie mit Überzeugung fort: »Mr. Weir ist nicht geistlich gesinnt, aber er ist mir ein guter Mann gewesen.«

Es war vielleicht das erstemal seit ihres Mannes Aufstieg, daß sie das Vorwort zu seinem Namen, auf das die zärtliche, inkonsequente Frau nicht wenig stolz war, vergaß. Und als Kirstie der Sprechenden ins Gesicht blickte, erkannte sie, daß dort eine Veränderung vorgegangen war.

»Gott steh uns bei, was fehlt Ihnen, Madame?« rief die Haushälterin und erhob sich hastig von dem Teppich.

»Ich weiß nicht«, erwiderte kopfschüttelnd ihre Herrin. »Aber er ist nicht geistlich gesinnt, meine Liebe.«

»Hier, setzen Sie sich! Um Gottes willen, was fehlt der Frau?« rief Kirstie, eilte, sie zu stützen, und drückte sie in Mylords eigenen Sessel neben dem Kamin.

»Gott schütz uns, was ist das?« keuchte Mrs. Weir. »Kirstie, was ist es nur? Ich fürchte mich.«

Das waren ihre letzten Worte.

Es war um die Dämmerstunde, als Mylord heimkehrte. Der Sonnenuntergang, eine strahlende Wolkenmasse, stand ihm im Rücken, und vor ihm am Wegrande entdeckte er wartend Kirstie Elliott. Sie war in Tränen aufgelöst und redete ihn in den hohen, falschen Tönen barbarischer Trauer an, wie man sie heute noch, wenn auch gemildert, in der schottischen Heide findet.

»Der Herr erbarme sich Eurer, Hermiston! Der Herr gebe Euch Kraft!« schrillte sie. »Weh über mich, daß ich es Euch verkünden muß!«

Er parierte sein Pferd und blickte mit seinem Henkergesicht auf sie herab.

»Sind die Franzosen gelandet?«

»Mann, Mann«, rief sie, »ist das alles, woran Ihr zu denken vermögt? Der Herr gebe Euch Geduld: der Herr tröste und schütze Euch!«

»Ist jemand gestorben?« fragte seine Lordschaft. »Doch nicht Archie?«

»Gott sei Dank, nein!« rief das Weib, vor Schreck in einen natürlichen Ton fallend. »Nein, nein, so schlimm ist es nicht, 's ist die Frau, Mylord; vor meinen Augen ist sie verschieden. Einen einzigen Seufzer stieß sie aus und war hinüber. Ach, mein süßes Fräulein Hannchen; ich sehe sie noch vor mir!« Und wieder brach sie in eine Klageflut aus, von der Art, in der Frauen ihrer Klasse stets schwelgen und exzellieren.

Lord Hermiston saß aufrecht im Sattel und musterte sie. Dann schien er seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen.

»Nun, es ist etwas plötzlich gekommen«, meinte er. »Aber sie war immer schon ein schwächliches Frauenzimmer.«

Und er ritt in eiligem Trabe heim, Kirstie an seinem Sattelknopf. In den Kleidern ihres letzten Ausganges hatten sie die tote Frau auf ihrem Bette aufgebahrt. Im Leben war sie niemals interessant gewesen; sie war auch nicht ergreifend im Tode; und als ihr Gatte jetzt vor ihr stand, die Hände hinter seinem mächtigen Rücken verschränkt, erschien ihm das, was er aus seiner Höhe dort betrachtete, als eine Verkörperung alles dessen, was in der Welt unbedeutend ist.

»Sie und ich waren niemals füreinander zugeschnitten«, bemerkte er endlich. »Es war eine verdrehte Heirat.« Und er fügte mit ausnehmender Sanftheit hinzu: »Arme Krott, arme Krott!« Dann plötzlich: »Wo ist Archie?«

Kirstie hatte ihn in ihr Zimmer gelockt und ihm eine Marmeladenschnitte gegeben.

»Einen Funken von Verstand hast du ja«, bemerkte der Richter und betrachtete grimmig seine Haushälterin. »Alles in allem – es hätte können schlimmer kommen –, ich hätte auch eine keifende Jesabel wie dich heiraten können!«

»Wer denkt jetzt an Euch, Hermiston!« rief die gekränkte Frau. »Wir denken nur an sie, die endlich ihren Leiden entrückt ist. Hätte sie es etwa schlechter treffen können, Hermiston – antwortet mir darauf, hier vor ihrer starren Leiche!«

»Nun, es gibt immer welche, die nie zufrieden sind«, bemerkte seine Lordschaft.

2
Vater und Sohn

Mylord, der Oberrichter, war vielen bekannt, der Mensch, Adam Weir, wohl niemandem. Der hatte nichts zu zeigen oder zu verbergen; der war restlos und schweigend sich selbst genug; und jener Teil unserer Natur, welcher (nur allzuoft mit falscher Münze) Ruhm und Liebe zu erwerben sucht, war bei ihm anscheinend vergessen worden. Er strebte nicht nach Liebe, er fragte nicht danach, ja höchstwahrscheinlich war ihm nicht einmal der Gedanke an sie je gekommen. Er war ein vielbewunderter Jurist, ein äußerst unbeliebter Richter und sah herab auf alle, die in diesen beiden Eigenschaften, sei es als weniger scharfsinnige Juristen oder als minder verhaßte Richter, unter ihm standen. Sonst war in all seinem Leben und Wirken keine Spur von Eitelkeit; er durchmaß das Dasein fast wie ein Nachtwandler, mit einem mechanischen Rhythmus, der an das Erhabene grenzte.

Seinen Sohn sah er nur selten. Wenn die üblichen Kinderkrankheiten den Jungen heimsuchten, pflegte er sich täglich nach ihm zu erkundigen und ihm täglich einen Besuch abzustatten, wobei er das Krankenzimmer mit einem fürchterlichen, humoristisch sein wollenden Ausdruck betrat, pflichtgemäß ein paar Scherze vom Stapel ließ und sich zu des Patienten Erleichterung sehr bald wieder entfernte. Einmal, als die Gerichtsferien in einen gelegenen Moment fielen, ließ Mylord seinen Wagen vorfahren und brachte das Kind persönlich nach Hermiston, dem gewöhnlichen Erholungsort. Es ist anzunehmen, daß er sich in diesem Falle ganz besonders um Archie sorgte, denn jene Reise stand einzig da in des Jungen Gedächtnis, da der Vater ihm von Anfang bis zu Ende und mit allen Einzelheiten drei authentische Mordfälle auseinandersetzte. Archie durchlief den üblichen Bildungsgang der Edinburger Jugend: das Gymnasium und die Universität, und Hermiston sah ihm von ferne zu, oder richtiger blickte hinweg, ohne auch nur ein schwaches Interesse für seine Fortschritte zu heucheln. Täglich nach dem Diner wurde Archie auf ein Zeichen zu ihm hereingeführt, erhielt eine Handvoll Nüsse und ein Glas Portwein und wurde einer sardonischen Musterung sowie einem sarkastischen Verhör unterzogen. »Nun, junger Mann, was haben wir heute gelernt?« lautete Mylords gewöhnliche Begrüßung, und zugleich ging er dazu über, ihm auf Juristenlatein allerlei Fragen zu stellen. Für ein Kind, das sich gerade durch seinen Corderius durchackerte, erwiesen Papinian und Paul sich als unüberwindlich. Aber Papa hatte alles andere selbst verlernt. Er war nicht etwa hart gegen den angehenden kleinen Gelehrten, da er sich vom Richterstuhl her einen unermeßlichen Vorrat an Geduld angeeignet hatte, aber ebensowenig gab er sich Mühe, seine Enttäuschung auszudrücken oder zu verbergen. »Na, du hast ja noch eine nette Strecke Wegs vor dir!« – so ungefähr lautete sein Kommentar, und in zwei Fällen von vier versank er sogleich von neuem in seine Gedanken, bis die Stunde des Schlafengehens schlug und er Karaffe und Glas ergriff und sich in sein Hinterzimmer mit dem Blick über die Meadows zurückzog, um dort noch bis tief in die Nacht hinein seine Akten zu bearbeiten. Im ganzen Richterkollegium gab es keinen beschlageneren Menschen; sein Gedächtnis war schier wunderbar, obwohl lediglich auf juristische Dinge beschränkt; galt es extempore zu arbeiten, so kam ihm keiner gleich, und doch war niemand so sorgfältig vorbereitet wie er. Wenn er so die Nächte durchwachte oder bei Tisch die Gegenwart seines Sohnes vergaß, schöpfte er ohne Zweifel tief aus verborgenen Genüssen. Gleich ihm sich völlig einer einzigen intellektuellen Übung hingeben bedeutet den sicheren Erfolg im Leben; und vielleicht vermögen nur die Jurisprudenz und die höhere Mathematik ohne Reaktion eine derartige Hingabe zu erzeugen und ohne Erregungen so unerschöpflichen Lohn zu spenden. Diese Atmosphäre gediegensten Fleißes war der beste Teil von Archies Erziehung. Sicherlich bot sie ihm nicht die leisesten Reize; sicherlich stieß sie ihn eher ab und bedrückte ihn. Und doch war sie allgegenwärtig, unauffällig wie das Ticken einer Uhr, ein dürres Ideal, ein unschmackhafter Stimulans in des Knaben Leben.

Aber Hermiston war nicht völlig aus einem Holze. Er war auch ein gewaltiger Zecher, der bis zum Morgengrauen beim Wein zu sitzen vermochte und sich dann direkt von der Tafel weg mit fester Hand und klarem Kopf auf den Richterstuhl begab. Nach der dritten Flasche verkündete er in immer größer werdenden Lettern den Plebejer; der breite, gewöhnliche Akzent wurde breiter, der gemeine, schmutzige Humor noch gröber; er wirkte jetzt weniger schreckenerregend, aber unendlich viel abstoßender. Nun hatte aber der Junge von Johanna Rutherford ein mimosenhaftes Zartgefühl geerbt, das sich nur schlecht mit einer Anlage zum Jähzorn paarte. Auf dem Spielplatz unter seinen Altersgenossen vergalt er einen gemeinen Ausdruck mit einem Hieb, an seines Vaters Tisch (als die Zeit kam, da er an dessen Gelagen teilnehmen mußte) erbleichte er und versank in angeekeltes Schweigen. Von allen Gästen, die er dort traf, vertrug er nur einen einzigen: David Keith Carnegie, Lord Glenalmond. Lord Glenalmond war hochgewachsen und hager mit schlanken, zarten Händen; man hatte ihn häufig mit Forbes Statue von Cullodon im Parlamentshaus verglichen, und seine blauen Augen hatten, selbst über die Sechzig hinaus, sich noch etwas von dem Feuer der Jugend bewahrt. Der vollendete Gegensatz, den er zu den anderen Gästen bot, seine Erscheinung, die der eines Künstlers und Aristokraten glich, welcher unversehens in rüde Gesellschaft geraten ist, fesselten des Knaben Aufmerksamkeit; und da Neugier und Interesse diejenigen Dinge sind, die auf dieser Welt den raschesten und sichersten Lohn ernten, fühlte sich Lord Glenalmond auch seinerseits von dem Knaben angezogen.

 

»Das ist also Ihr Sohn, Hermiston?« fragte er und legte seine Hand auf Archies Schulter. »Er wird mal ein großer Junge werden!«

»Pah!« sagte der gnädige Vater. »Ganz seiner Mutter Ebenbild – wagt nicht, buh zu 'ner Gans zu sagen!«

Aber der Fremde hielt den Jungen fest, verwickelte ihn in ein Gespräch über sich selber und entdeckte in ihm einen Geschmack an Büchern sowie eine reine, begeisterungsfähige, bescheidene jugendliche Seele. Er lud ihn ein, ihn an Sonntagabenden in seinem kahlen, kalten, einsamen Eßzimmer zu besuchen, wo er selbst in der Verlassenheit eines alten, in vornehmer Zurückgezogenheit ergrauten Junggesellen über seinen Büchern saß. Die schöne Sanftmut und Anmut des alten Richters, die Zartheit seiner Person, Gedanken und Sprache redeten unmittelbar in seiner eigenen Zunge zu Archies Herzen. In ihm wuchs der Ehrgeiz, ein ebensolcher Mann zu werden; und als der Tag erschien, da er sich einen Beruf wählen mußte, geschah es in Nacheiferung Lord Glenalmonds und nicht Lord Hermistons, daß er sich für die Jurisprudenz entschied. Hermiston begegnete dieser Freundschaft mit geheimem Stolz, öffentlich jedoch mit der Unduldsamkeit der Verachtung. Nur selten ließ er sich eine Gelegenheit entgehen, das Paar durch groben Spott zu ducken; und das war, um die Wahrheit zu sagen, nicht schwer, denn beide waren nicht schlagfertig. Er hatte ein verächtliches Wort für die ganze Horde von Poeten, Malern, Musikanten und deren Bewunderer: die Bastardrasse der Amateure. Es gab ein Wort, das er wieder und wieder gebrauchte. »Signor Fiedeldumdei«, pflegte er zu sagen. »Um Gottes willen, nichts mehr von dem Signor!«

»Sie und mein Vater sind sehr befreundet, nicht wahr?« fragte Archie einmal.

»Es gibt niemanden, den ich höher achte«, entgegnete Lord Glenalmond. »Er hat zwei unschätzbare Eigenschaften. Er ist ein großer Jurist, und er ist so aufrecht wie der Tag.«

»Sie und er sind so verschieden«, sagte der Junge, und sein Blick ruhte in dem seines alten Freundes wie der eines Liebhabers in den Augen seiner Herrin. »In der Tat«, erwiderte der Richter, »sehr verschieden. Und ich fürchte, du und er seid es auch. Und doch würde es mir sehr mißfallen, wenn mein junger Freund seinen Vater falsch beurteilte. Er besitzt alle Tugenden eines Römers: Cato und Brutus waren Männer seines Schlages; ich meine, ein Sohn müßte stolz sein, von solch einem Manne abzustammen.«

»Und ich wollte, er wäre ein einfacher Bauer!« rief Archie mit plötzlicher Bitterkeit.

»Das ist weder sehr klug noch, glaube ich, ganz ehrlich«, antwortete Glenalmond. »Wenn du es dir recht überlegst, wirst du finden, daß einige dieser Ausdrücke dir wie Reue in der Kehle aufsteigen werden. Sie sind rein literarisch und dekorativ; sie drücken nicht deine wahren Gedanken aus; auch hast du diese Gedanken selbst nicht klar erfaßt. Zweifellos würde dein Vater (wäre er jetzt hier) ›Signor Fiedeldumdei!‹ rufen.«

Mit dem unendlich feinen Takt der Jugend mied Archie von jener Stunde an das Thema. Das war vielleicht schade. Hätte er nur gesprochen – sich frei ausgesprochen – sich selbst in einen Strom von Worten aufgelöst (wie es die Jugend liebt und das ihr gutes Recht ist) – es hätte vielleicht nie eine Geschichte derer von Hermiston zu schreiben gegeben. Jedoch bereits der Schatten einer Drohung von Lächerlichkeit genügte; aus der milden Schärfe jener Worte las er ein Verbot, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß Glenalmond es auch als solches beabsichtigt hatte.

Diesen Greis ausgenommen, besaß der Junge keinen Vertrauten oder Freund. Ernst und feurig legte er den Weg durch Schule und Universität zurück und bewegte sich unter einer Schar von Gleichgültigen in dem unsichtbaren Panzer seiner Schüchternheit. Er wuchs heran, ein schöner Mensch, mit offenem, sprechendem Antlitz und anmutigem, jugendlichem Wesen; er war klug, errang sich Auszeichnungen, glänzte im »Speculative Club«. Von Rechts wegen hätte er den Mittelpunkt eines Freundeskreises bilden sollen; allein etwas, das teils seiner Mutter Feinfühligkeit, teils seines Vaters Strenge war, hielt ihn allen fern. Es ist eine Tatsache – und obendrein eine äußerst sonderbare –, daß Hermistons Sohn unter seinen Altersgenossen als ein echter Sproß vom alten Stamme galt. »Sie sind ein Freund Archie Weirs?« bemerkte einst jemand zu Frank Innes; und Innes antwortete mit seiner üblichen Frivolität und mit mehr als gewöhnlicher Einsicht: »Ich kenne Weir, aber mit Archie hatte ich noch nie das Vergnügen.« Niemand kannte Archie, eine Krankheit, die vornehmlich einzigen Söhnen eigen ist. Er segelte unter eigener Flagge, und keiner achtete darauf; es war, als sei er in eine Welt verpflanzt, wo selbst die Hoffnung auf Intimität verbannt war, und er blickte um sich: auf das Treiben seiner Kommilitonen und vorwärts in die Zukunft und sah nichts als banale Tage voll banaler Bekanntschaften, ohne Hoffnung und ohne Interesse.

Als die Zeit verstrich, fühlte sich der alte, zähe Sünder immer mehr zu dem Sohne seiner Lenden und dem einzigen Stammhalter des neubegründeten Geschlechts hingezogen, und das mit einer Weichheit des Gefühls, die er selbst kaum zu glauben vermochte und die auszudrücken er sich völlig außerstande sah. Mit einem Gesicht, einer Stimme und einem Wesen, in vierzig Jahren geschult, Schrecken und Widerwillen einzuflößen, wird Rhadamanth vielleicht groß, niemals jedoch liebenswürdig erscheinen. Daß er Archie zu gewinnen versuchte, ist eine Tatsache, jedoch nicht gering genug zu bewerten, so unauffällig war der Versuch, so stoisch wurde sein Scheitern ertragen. Eiserne Naturen wie die Hermistons dürfen kein Mitgefühl beanspruchen. War es ihm mißlungen, seines Sohnes Freundschaft, ja auch nur dessen Duldung zu erringen – nun, so mußte er seinen Weg aufwärts über die mächtige, öde Treppenflucht seiner Pflicht allein, ungestützt, aber auch unverzagt fortsetzen. Vielleicht hätte er seinen Beziehungen zu Archie ein wenig mehr Freude abgewinnen können, das sah er zu Momenten ein; aber Freude war in der seltsamen Chemie des Lebens lediglich ein Nebenprodukt, auf das nur Narren rechneten.

Schwieriger ist es, Archies Standpunkt verständlich zu machen, da wir inzwischen alle erwachsen sind und die Tage unserer Jugend vergessen haben. Er machte auch nicht den leisesten Versuch, diesen Mann zu verstehen, mit dem er beim Frühstück und beim Abendessen beisammensaß. Scheu vor Schmerz, Gier nach Genuß – das sind die beiden einander ablösenden Pole der Jugend; und Archie neigte mehr zu dem ersteren. Der Wind blies kalt aus der einen Richtung – er kehrte ihr den Rücken, blieb so wenig wie irgend möglich in seines Vaters Gesellschaft und wandte, wenn dort, den Blick, soweit der Anstand das erlaubte, von seines Vaters Gesicht. Viele Hunderte von Tagen spielte das Lampenlicht bei der Tafel über diesen beiden Gesichtern – Mylords, gerötet, finster, geringschätzig; Archies, voll potentiellen Lebens, das jedoch in dieser Gesellschaft stets gedämpft und wie unter einem Schleier erglänzte; vielleicht gab es in der ganzen Christenheit keine zwei Wesen, die einander so radikal fremd waren. Der Vater sprach entweder mit großartiger Einfachheit nur von dem, was ihn selbst interessierte, oder bewahrte ein ungekünsteltes Schweigen. Der Sohn zerbrach sich währenddessen den Kopf nach irgendeinem ganz sicheren Thema, das ihm erneute Beweise von Mylords eingeborener Grobschlächtigkeit oder restloser Inhumanität ersparen möchte. Dabei betrat er die Wege der Unterhaltung zimperlich gleich einer Dame, die auf einer Nebengasse ihre Röcke hochrafft. Machte er einen Mißgriff und floß Mylord über von verletzenden Reden, so straffte sich Archies Gestalt, seine Stirn verfinsterte sich, sein Anteil an dem Gespräch erstarb; Mylord dagegen fuhr getreulich und unbekümmert fort, vor seinem schweigenden und beleidigten Sohne sein schlimmstes Selbst zu entbreiten.

»Nun, der ist ein armer Teufel, der nicht auch einen guten Tag zu genießen versteht«, pflegte er am Schluß solch einer nachtmahrähnlichen Unterhaltung zu bemerken. »Aber ich muß jetzt wieder an meinen Pflug!« Und er zog sich, wie gewöhnlich, in sein Hinterzimmer zurück, während Archie zitternd vor Feindseligkeit und Verachtung in die Dunkelheit und auf die Straße hinausstürzte.

3
Betrifft das Hängen von Duncan Jopp

Eines Tages im Jahre 1813 verirrte sich Archie durch Zufall in den Kriminalgerichtshof. Der diensttuende Beamte schaffte dem Sohne des Vorsitzenden Platz. Dort vor den Schranken, im Mittelpunkt aller Augen, stand eine elende, gemeine Mißgeburt von einem Menschen, ein gewisser Duncan Jopp, im Kampf um seinen Kopf. Seine Geschichte, wie sie an diesem öffentlichen Ort mühsam aus ihm herausgepreßt wurde, bot ein Abbild der Schande, des Lasters und der Feigheit, kurz, des Verbrechens in seiner nacktesten Gestalt, und das Geschöpf dort lauschte ihr zeitweilig, als habe es sie begriffen – als vergäße es mitunter das Grauen seiner Umgebung und erinnere sich der Schmach, die es hierhergebracht. Sein Haupt war auf die Brust gesunken, seine Hände umklammerten zuckend die Schranken; die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und von Zeit zu Zeit warf er sie in den Nacken zurück; jetzt blickte er sich hastig voll abgründigen Entsetzens im Publikum um, jetzt betrachtete er das Antlitz des Richters und schluckte krampfhaft. Um seinen Hals hatte er einen Fetzen schmutzigen Flanells gebunden; das war es vielleicht, was das zwischen Ekel und Mitleid schwankende Zünglein der Waage in Archies Herzen zu seinen Gunsten sich neigen ließ. Das Wesen dort stand vor dem Sprung ins Nichts; noch eine kleine Weile, noch das pomphaft rohe Possenspiel des Endes, und es hatte zu leben aufgehört. Inzwischen aber pflegte es mit einem letzten menschlichen Zug, der den Zuschauer selbst an der Kehle packte, einen wehen Hals. Ihm gegenüber, in der roten Robe der Kriminaljustiz, saß Lord Hermiston, das Gesicht von einer weißen Perücke umrahmt. Ehrlich wie er war vom Scheitel bis zur Sohle, gab er sich nicht die Mühe, die Tugend der Unparteilichkeit zu heucheln. Der vorliegende Fall verlangte auch keine Feinfühligkeit; hier war ein Mann, der gehenkt werden mußte – so etwa würde Hermistons Auffassung gelautet haben –, und er war dabei, ihn zu henken. Auch konnte man seine Lordschaft unmöglich von einer gewissen Freude an seiner Aufgabe freisprechen. Es war klar, er schwelgte im Gebrauch seines geschulten Intellekts, in der klaren Einsicht, mit der er sofort die Lücken in dem Tatbestand entdeckte, in dem groben, unverhohlenen Spott, mit dem er die fadenscheinigen Vorwände der Verteidigung zerpflückte. Er hatte es sich bequem gemacht, er scherzte und benahm sich an diesem feierlichen Ort mit der Ungeniertheit der Schenke; und der Fetzen Menschheit mit dem Flanellappen um den Hals wurde unter Hohn- und Spottgelächter zum Galgen gejagt.

Duncan besaß eine Geliebte, eine kaum weniger jämmerliche Kreatur, wenn auch weit älter als er selbst, die jetzt knicksend und winselnd vortrat, um noch das Gewicht ihres Verrats hinzuzufügen. Mylord sprach ihr in seinen donnerndsten Tönen die Eidesformel vor und schloß mit einer schneidenden Ermahnung.

»Achte auf deine Worte, Janet. Ich hab' schon längst ein Auge auf dich gerichtet und lasse nicht mit mir spaßen.« Bald darauf hatte sie zitternd ihre Aussage begonnen. »Und wie kamst du dazu, so zu handeln, alte Urschel?« mischte sich der hohe Gerichtshof ein. »Willst du mir etwa sagen, daß du des Kerls Hure warst?« »Zu Befehl, Mylord«, wimmerte das Frauenzimmer. »Gott steh uns bei! Ihr macht ein sauberes Paar!« bemerkte seine Lordschaft, und in seiner Verachtung lag eine so wilde Drohung, daß nicht einmal die Galerie zu lachen wagte.

Die Schlußrede enthielt ein paar Leckerbissen.

»Diese zwei erbärmlichen Geschöpfe scheinen einander in die Hände gearbeitet zu haben – die nähere Erklärung kommt mir nicht zu.« – »Der Angeklagte ist (was immer er sonst sein mag) gleich abstoßend an Geist wie an Körper.« – »Weder der Angeklagte noch das alte Frauenzimmer scheinen auch nur so viel Verstand gehabt zu haben, im erforderlichen Moment zu lügen.« Und im Verlauf der Urteilssprechung bekannte sich Mylord zu folgendem obiter dictum: »Ich bin unter Gott das Werkzeug gewesen, bereits einen stattlichen Haufen Gesindels an den Galgen zu bringen, aber noch nie einen so gottverlassenen Lumpen wie Euch.« Die Worte waren an sich schon stark, allein die Schärfe und Wucht und Betonung, mit der sie gesprochen wurden, und die barbarische Freude, die der Redner an seiner Aufgabe hatte, bewirkten, daß sie allen noch lang in den Ohren klangen.

 

Als alles vorüber war, trat Archie hinaus in eine veränderte Welt. Hätte das Verbrechen auch nur einen Schatten versöhnender Größe gezeigt, etwas Dunkles, Geheimnisvolles, er hätte vielleicht verstanden. Aber der Delinquent stand dort in seinem Todesschweiß, ohne Abwehr, ohne Entschuldigung, mit einem wehen Hals, ein Etwas, das Scham einen jeden zu verhüllen zwang: ein Wesen, so weit unter der Grenze der Sympathie und des Mitleids, daß es fast harmlos anmutete. Und der Richter hatte es mit monströser, mit genießerischer Heiterkeit, ein Bild aus einem Albtraum, über alle Maßen furchtbar, in den Tod gehetzt. Einen Tiger erlegen ist ein ander Ding als eine Kröte zertreten; selbst das Schlachthaus besitzt seine Ästhetik; und das Abstoßende, das Archie bei Duncan Jopps Anblick empfand, hatte auf seinen Richter übergegriffen und verpestete dessen Bild.

Unter wirren Reden und Gesten schritt Archie auf der Hauptstraße an seinen Freunden vorüber. Wie im Traum erblickte er Holyrood, Erinnerung an dessen romantische Geschichte erwachte und verblaßte wieder, visionär sah er die alten, strahlenden Gestalten: Maria Stuart, Prinz Charlie, den gekrönten Hirsch, den Glanz und die Verbrechen, Samt und funkelnden Stahl der Vergangenheit. Er verscheuchte das alles mit einem schmerzlichen Aufschrei. Jetzt lag er stöhnend auf der feuchten Erde von Hunters Bog, und die Himmel über ihm waren verdunkelt und die Gräser auf dem Felde ein Greuel in seinen Augen. »Das ist nun mein Vater«, dachte er. »Von ihm habe ich das Leben empfangen; das Fleisch auf meinen Knochen ist sein Fleisch, das Brot, das ich esse, ist der Lohn dieser Scheußlichkeiten.« Er gedachte seiner Mutter und trommelte mit der Stirn gegen den Boden. Er dachte an Flucht und an ein neues Leben. Wohin sollte er wohl fliehen? Und gab es überhaupt ein Leben, des Lebens wert, in dieser Höhle blutrünstiger, schadenfroher Tiere?

Die Zeit bis zur Hinrichtung verging ihm wie ein quälender Traum. Er kam mit seinem Vater zusammen, allein er konnte ihn nicht ansehen, er brachte es nicht über sich, mit ihm zu sprechen. Man hätte glauben können, jedes lebende Wesen müsse unverzüglich diese schwelende Feindschaft empfinden, aber des Lord Oberrichters Fell blieb unverletzt. Wäre Mylord zum Sprechen aufgelegt gewesen, der Waffenstillstand hätte niemals dauern können; aber zum Glück befand er sich gerade in einer seiner Launen sauertöpfischen Schweigens, und so nährte Archie die Begeisterungsflamme der Rebellion unter den Breitseiten des Feindes selbst. Ihn dünkte es von der Höhe seiner neunzehnjährigen Erfahrung herab, als sei er von Geburt aus dazu bestimmt, Träger irgendeiner großen Tat zu werden, die am Boden liegende Barmherzigkeit neu aufzurichten und den Teufel samt Hörnern und Klauen, der ihren Thron usurpiert, zu stürzen. Verführerische, jakobitische Trugschlüsse, die er im Speculative Club häufig widerlegt, tauchten vor seinem geistigen Auge auf und erschreckten ihn mit ihren Stimmen; und es war ihm, als wandle er in Begleitung einer fast greifbaren Gegenwart neuer Grundsätze und Pflichten einher.

An dem betreffenden Morgen begab er sich an den Ort der Hinrichtung. Er sah den grinsenden Pöbel, sah die Vorführung des zitternden Verbrechers. Eine Weile war er Zeuge einer Art parodistischer Andachtsübung, die dem bejammernswerten Geschöpf noch seinen letzten Anspruch auf Menschentum zu rauben schien. Dann folgte der brutale Akt der Vernichtung und das armselige Zappeln der Überreste gleich denen eines zerbrochenen Hampelmannes. Er war auf etwas Furchtbares gefaßt gewesen, nicht auf dieses Schauspiel tragischer Gemeinheit. Einen Augenblick verharrte er in seinem Schweigen, dann brüllte er: »Ich verdamme dies als einen gotteswidrigen Mord!«, und sein Vater, der zwar den Inhalt jenes Ausrufs zurückgewiesen haben würde, hätte doch die Stentorstimme, mit der dieser vorgebracht wurde, schwerlich verleugnen können.

Frank Innes schleppte ihn mit Gewalt hinweg. Die beiden hübschen jungen Burschen folgten demselben Studium und den gleichen Vergnügungen und fühlten sich, hauptsächlich durch ihr gutes Aussehen, zueinander hingezogen. Dieses Gefühl ging jedoch niemals tief; Frank war von Natur ein schmächtiges, zynisches Geschöpf, weder fähig, Freundschaft zu empfinden noch einzuflößen, und die Beziehungen zwischen den beiden waren rein oberflächlich und wurzelten in gemeinsamen Kenntnissen sowie in den Annehmlichkeiten, die einem gemeinsamen Bekanntenkreise entspringen. Um so anerkennenswerter war es von Frank, daß er sich über Archies Ausbruch ehrlich entsetzte und zum mindesten den Vorsatz faßte, ihn tagsüber im Auge und, wenn möglich, unter seiner Zucht zu behalten. Aber Archie, der soeben Gott oder dem Satan – es war unklar, welchem von beiden – getrotzt hatte, wollte auf das Wort eines Studiengenossen nicht hören.

»Ich werde nicht mit Ihnen gehen«, sagte er. »Ich wünsche Ihre Begleitung nicht, Herr; ich will allein sein.«

»Weir, Mensch, machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte Innes und hielt ihn hartnäckig am Ärmel fest. »Ich lasse Sie nicht fort, bis ich nicht weiß, was Sie vorhaben; es hat gar keinen Zweck, derart mit dem Stocke herumzufuchteln.« Im Augenblick hatte Archie tatsächlich eine rasche, vielleicht sogar kampflustige Bewegung gemacht. »Das hier war kompletter Wahnsinn; Sie wissen es selber ganz genau. Sie wissen genau, daß ich jetzt lediglich den barmherzigen Samariter spiele. Ich will ja nichts weiter, als daß Sie sich beruhigen.«

»Wenn das alles ist, Mr. Innes«, entgegnete Archie, »und Sie mir versprechen, mich in Ruhe zu lassen, kann ich Ihnen das eine verraten: Es ist meine Absicht, aufs Land zu gehen und die Schönheiten der Natur zu bewundern.«

»Ehrenwort?« forschte Frank.

»Ich pflege nicht zu lügen, Mr. Innes«, lautete Archies Erwiderung. »Ich habe die Ehre, Ihnen einen guten Tag zu wünschen.«

»Sie werden doch nicht vergessen, in den Speculative Club zu kommen?«

»Den Speculative Club? O nein, ich werde es nicht vergessen.«

Und der junge Mann trug seinen gefolterten Geist hinaus aus der Stadt wegauf, wegab, einen ganzen Tag lang, auf eine endlose Pilgerfahrt der Qual, während der andere sich lächelnd beeilte, die Nachricht von Weirs Wahnsinnsanfall zu verbreiten und auf den Abend hin den ganzen Speculative Club zusammenzutrommeln mit der Mitteilung, daß weitere exzentrische Entwicklungen mit Gewißheit zu erwarten ständen. Es ist zu bezweifeln, ob Innes selbst ernstlich an seine Voraussage glaubte; wahrscheinlich entsprang diese vor allem dem Wunsche, eine gute Geschichte auszuschmücken und den Skandal so groß wie möglich zu machen, und das nicht etwa aus bösem Willen gegen Archie, sondern lediglich, um den Kreis gespannter Gesichter zu sehen. Trotzdem waren seine Worte prophetisch. Archie vergaß den Club nicht; er war pünktlich zur Stelle und hatte vor Ablauf des Abends seinen Kameraden einen denkwürdigen Schock versetzt. Zufällig führte er an jenem Abend den Vorsitz. Er saß in dem nämlichen Zimmer, in dem auch heute noch der Club tagt – nur waren die jetzigen Porträts noch nicht vorhanden: die Männer, die für sie saßen, standen damals noch an den Anfängen ihrer Laufbahn. Aber die nämliche Lichtflut zahlreicher Kerzen umspielte die Versammlung; ja, vielleicht saß Archie in dem gleichen Sessel, auf dem seither so viele von uns gesessen. Zeitweilig schien er die Geschäfte des Abends ganz zu vergessen; aber auch in diesen Momenten zeigte sein Ausdruck trotzige Energie und Entschlossenheit. Dann wieder griff er bitter und unberufen in die Debatten ein und erhob mit herausfordernder Miene Geldbußen, welche die kostbare und selten benutzte Artillerie des Vorsitzenden bilden. Schwerlich ahnte er, wie sehr er dabei seinem Vater glich und daß seine Freunde darüber kichernd ihre Bemerkungen machten. Bislang schien er dort auf seinem erhöhten Sitze über die Möglichkeit eines Skandals erhaben; aber er hatte seinen Beschluß gefaßt – er war fest entschlossen, sein Vergehen bis in dessen letzte Konsequenzen zu verfolgen. Durch ein Zeichen berief er Innes (den er soeben gestraft hatte und der gegen seine Art, den Vorsitz zu führen, protestierte) auf den Präsidentenstuhl, trat von dem Katheder herunter und nahm seinen Platz neben dem Kamin ein, wo der Glanz vieler Wachskerzen sein bleiches Gesicht erhellte und die rote Glut des Feuers die Umrisse seiner schlanken Gestalt klar abzeichnete. Als Amendment zu dem nächsten auf der Liste stehenden Gegenstande hatte er Folgendes vorzuschlagen: »Ist die Todesstrafe mit Gottes allmächtigem Willen und menschlicher Politik vereinbar?«

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