Das Versprechen der Nonne

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Walburga hob den rechten Zeigefinger. „Im sechsten Kapitel der Klosterregel verfügt der heilige Benedikt: Ich sprach, ich will auf meine Wege achten, damit ich mich mit meiner Zunge nicht verfehle. Ich stellte eine Wache vor meinen Mund, ich verstummte, demütigte mich und schwieg sogar vom Guten. Du dagegen hast auf der Lichtung deine Zunge nicht gehütet. Statt dich in Demut zu üben, schwatztest du, als niemand dich fragte.“

„Ich schwatzte doch nicht!“, rief Michal aus. „Ich wollte jenen Menschen helfen! Wie unser Herr Jesus! Er hütete seine Zunge nicht, als er auf jenen Berg stieg und verkündete, dass unser Licht leuchten soll vor den Menschen. Wie soll denn unser Licht leuchten vor jenen Menschen auf der Lichtung, wenn wir schweigen in jenem Augenblick, da sie unserer Worte dringender bedürfen denn je?“

Auf Walburgas Stirn kündigte sich ein Gewitter an. „Meine liebe Nichte, dich zeichnet vor allen anderen Schwestern eine hervorragende Begabung im Schreiben und überhaupt in den geistigen Werken aus. Doch du zählst erst achtzehn Jahre, was viel zu jung ist, um die in der Schrift verborgene Wahrheit zu erfassen. Vielmehr sollst du die Regeln des heiligen Benedikts beachten. Allein dies ebnet dir den Weg zum Schleier. Eine dieser Regeln heißt: Stelle eine Wache vor den Mund! Wer diese Regel missachtet, ist des Schleiers unwürdig. Dies gilt für dich als meine Nichte ebenso wie für alle anderen.“

Michal wollte etwas entgegnen, brachte aber kein Wort heraus. Die Verleihung des Schleiers erwartete sie in Bälde, dies war ihr innigster Wunsch seit den Tagen in der Klosterschule zu Wimborne, wo die bewundernswerten gottgeweihten Jungfrauen ihr den Weg zum tugendhaften Leben gewiesen hatten.

Walburga sagte: „Du schweigst heute und am morgigen Tag. Öffne Ohr und Herz für die Stimme Gottes!“

Vom Gießbach her rief eine Stimme: „Verehrungswürdige Walburga!“ Es war der Mann, den Wulfhardt auf der Lichtung mit dem Schwert bedroht hatte, an der Hand hielt er das Mädchen ohne Haarschopf, hinter ihm standen die Bewohner der Lichtung.

Während Walburga sich zum Gießbach begab, damit sie die Wünsche der Heiden erfahren konnte, ohne dass diese den Bereich der Nonnenklausur betraten, stapfte Michal mit geballten Fäusten zum Nonnenkloster. Wenn sie die in der Schrift verborgene Wahrheit nicht verstand, warum erklärte Walburga sie ihr dann nicht? Was für ein Unrecht, für diese mutige Tat gemaßregelt zu werden! Immerhin hatte sie einen Sieg gegen den Teufel errungen! Michal erschrak. Sie blieb stehen. Sie war zu stolz gewesen. Sie hatte sich selbst anstatt Gott gelobt, der ihr die Kraft für diesen Sieg verliehen hatte. Sie bekreuzigte sich und schickte ein stilles Gebet zum Himmel. „Vergib mir, Herr. Ich drängte mich selbst in den Vordergrund.“

Mit demütig gesenktem Kopf betrat Michal das Nonnenkloster, das − im Gegensatz zum Komplex der Mönche − nur aus einem Gebäude bestand, schließlich zählten sie nur acht Mägde Christi gegenüber zwanzig Mönchen. Dennoch neidete sie den Mönchen nicht ihre düsteren Häuser, sah das Pfostenhaus der Nonnen doch freundlicher aus: Zwar wurde es durch dunkle Holzpfosten aus Baumrinde getragen, die Räume zwischen diesem Gerüst waren dagegen mit hellen Blockbohlen aufgefüllt. Im Haus war der Boden ausgelegt mit den weißen Fliesen der Römervilla, die einstmals an diesem Ort gestanden hatte, die Räume wurden durch Holzbretterwände voneinander getrennt.

Michal ging nach dem Eingang durch den Vorraum, in dem Walburga die Besucher empfing, und gelangte in das Refektorium, wo sie stehen blieb, um einen freundlichen Anblick zu genießen: Die Katzenmutter, die sie Mieze riefen, lag auf der Seite, und fünf kleine Kätzchen nuckelten an ihren Zitzen. Mieze hatte ein braunes, von schwarzen Streifen durchzogenes Fell, das sich auf zwei ihrer Kätzchen übertragen hatte, die drei anderen trugen rötliches Fell. Michal riss sich von Mieze und ihrem Wurf los, durchquerte das Dormitorium und öffnete die Tür zum hintersten Raum des Nonnenklosters: der Schreibstube. Sie zog einige Manuskripte aus dem Schrank und legte sie auf das Schreibpult direkt unter dem Fenster, durch das Sonnenstrahlen schienen und kühle Luft zog.

Das erste Manuskript stammte aus Lucca im fernen Italien, zu dem Wynnebald auf seinen Pilgerreisen Kontakte geknüpft hatte. Seine Nachfolgerin Walburga hatte die Manuskripte ungeordnet vorgefunden, deshalb sollte Michal ein Register anlegen, in dem sie alle Schriftstücke verzeichnete. Und so studierte sie Tag für Tag die schwarzen Pfade der Blätter, immer mehr lernend über Gottes unerschöpfliches Wirken in der Welt. Jetzt nahm sie das Manuskript aus Lucca, das gerade vor ihr lag, und legte es auf ihre Knie. Es enthielt die Psalmen 66 und 50, die sie zu Beginn der Laudes sangen. Sie trug es in das Register ein, ebenso wie die folgenden Manuskripte, den Federkiel über das Pergament aus der Haut von Schafen führend, nur unterbrochen vom Eintunken in das Tintenhorn, das zu ihrer Rechten stand. Ab und an quietschte der Federkiel, doch nie griff sie zum Radiermesser, dafür nach jedem Absatz zum Holzlineal, um die nächsten Zeilen zu ziehen.

Eben nahm Michal ein weiteres Manuskript in das Register auf, als zur Non gerufen wurde. Sie legte den Federkiel zur Seite und zog mit ihren Schwestern zur Kirche. Vor dem Portal angekommen, kam ihnen Walburga von der Rückseite der Kirche entgegen, wo der Wynnebaldsbrunnen stand, so genannt, weil Wynnebald dort die Einwohner von Heidenheim getauft hatte. Ihr folgten, tropfnass, die Heiden, begleitet von misstrauischen Blicken der Mönche. Die Nonnen warteten auf Walburga, sodann folgten sie ihr durch das Portal. Ehrfurcht ergriff Michal, als sie das Holzkreuz über dem Altar erspähte. Sie bekreuzigte sich und bat den Herrn um Vergebung. Nicht für die Worte, die sie auf der Lichtung gesprochen hatte, sondern für ihren Stolz, der sie Gott hatte vergessen lassen.

Mea culpa, mea culpa!

Michal schritt durch das Langhaus auf das Holzkreuz zu. Sie und die anderen Nonnen blieben vor der Holzschranke stehen, hinter der sich das Langhaus zum Quadrat des Altarraums hin öffnete. Die Mönche trotteten an ihnen vorbei, die Blicke auf den Altar gerichtet, schlüpften unter der Schranke durch und betraten das Allerheiligste. Dort, rund um den Altar, waren noch weiße Fliesen der Römervilla zu erkennen, wohingegen die Nonnen auf Lehmboden standen. Prior Goumerads Halbglatze löste sich aus den Reihen der Mönche, seine Augen wurden von weit hervorspringenden Augenbrauenbogen beschattet. Fehlerfrei und mit verdrießlichem Gesichtsausdruck führte er durch Vers, Hymnus, Psalmen, Lesung, Versikel und Kyrie eleison.

Nach der Non, vor der Mahlzeit, fasste Walburga im Kreis der Nonnen zusammen, was inzwischen mit den Heiden geschehen war: Bis auf eine alte Frau hatten alle Heiden die Lichtung verlassen, sodann hatten sie gebeten, mit der Taufe in die Gemeinschaft Jesu aufgenommen zu werden und sich in Heidenheim niederlassen zu dürfen, da sie sich auf der Lichtung nicht sicher fühlten.

Daraufhin hatte Walburga Goumerad ersucht, die Heiden zu taufen. Dieser hatte jedoch Bedenken geäußert: Sie könnten Blut an den Händen haben, fernerhin bestehe der Verdacht, sie wollten die heilige Taufe nur empfangen, um sich in Heidenheim einzunisten, obgleich sie heimlich im Heidentum verharrten. Es sei deshalb nicht geraten, das heilige Sakrament der Taufe vorschnell zu spenden, vielmehr müsse die Sache von allen Seiten geprüft werden, folglich werde er sich morgen zum Grafenhof begeben. Dort werde er die Meinung des Grafen einholen.

Nachdem Walburga den Heiden diese betrübliche Nachricht überbracht hatte, hatten diese nachdrücklich ihren Beistand verlangt. Daher war sie mit ihnen zum Wynnebaldsbrunnen gepilgert und hatte mit ihnen gebetet. Daraufhin waren sie, vom Gebet ergriffen, einer nach dem anderen ins Wasser getaucht, trotz Walburgas Einwand, nur ein Priester könne sie taufen. Alsdann hatte sie die Heiden in den Wirtschaftsgebäuden des Klosters untergebracht.

Nach der Mahlzeit unterdrückte Michal nur mit Mühe einen Seufzer, während sie sich in die Schreibstube begab. Sie hätte sich gerne mit Aebbe unterhalten, doch die Regel des heiligen Benedikts verlangte Schweigen. Sie war fest entschlossen, die Regel zu befolgen, um zu dem Ziel zu gelangen, das sie von Kindesbeinen an sehnsuchtsvoll erstrebte: den Schleier der heiligen Jungfrau. Dennoch: Etwas in ihr wehrte sich gegen diese Regel, deren Sinn sich ihr nicht erschloss. Und tief in ihrem Innern zweifelte sie zum ersten Mal, ob Gott sie für das Leben im Kloster erschaffen hatte. Sie erschrak ob dieser Erkenntnis, verbissen widmete sie sich ihrer Arbeit. Sie schrieb, unterbrochen von der Vesper, bis zur Komplet.

Nach der Komplet entzündete Goumerad wie jeden Abend eine Kerze am Altar und trug sie, vor den Nonnen einherschreitend, bis zum Nonnenkloster, wo er sie Walburga übergab. Das Licht erhellte die Nacht im Dormitorium.

Am nächsten Morgen betete und arbeitete Michal wie immer, aber als Goumerad nach den Laudes den Wanderstab zur Hand nahm und Richtung Grafenhof zog, konnte sie sich nicht mehr auf die Manuskripte aus Lucca konzentrieren. Gewiss, Goumerad war ein ehrwürdiger Mann, ausgezeichnet durch sein priesterliches Gewand, weit überlegen einer schwachen und gebrechlichen Frau, die sich nicht auf das Vorrecht weiser Einsicht stützen konnte, dennoch zweifelte sie, ob er dem Einfluss Wulfhardts, der zweifellos mit dem Teufel im Bunde war, widerstehen konnte. Vielleicht rührten ihre Zweifel daher, dass er die Messe zwar stets fehlerfrei, aber ohne jene Hingabe zelebrierte, die sie aus Walburgas Gebeten vernahm.

Goumerads Platz war bei den Laudes am Morgen nach seiner Abreise immer noch verwaist. Sollte seine lange Unterredung mit Wulfhardt nur um die Heiden von der Lichtung kreisen? Michal glaubte es nicht. Was bereden sie wohl so lange?, grübelte sie während des Morgenlobs. Voll böser Ahnungen verließ sie die Kirche, doch kaum war sie ins Refektorium getreten, flatterten alle Sorgen davon: Ihre Mädchen hatten die Stühle schon herausgetragen und den Tisch, an dem Michal für gewöhnlich mit ihren Schwestern speiste, an die Seite gerückt. Jedoch saßen die Mädchen nicht brav auf dem freigewordenen Platz und warteten auf den Unterricht, sondern tobten herum. Sie spielten so etwas wie Fangen, obwohl Michal nicht erkannte, wer vor wem davonrannte. Vielleicht hüpften sie auch nur in völligem Durcheinander hin und her.

 

Vor drei Monaten hatte Walburga den Unterricht für die Mädchen des Dorfes eingeführt, wogegen Goumerad umgehend gewettert hatte, weil das Weib, zumal in jungen Jahren, zu wenig Verstand für eine Unterweisung in geistigen Dingen besitze und dies mithin nicht von Gott gewollt sein könne. Seit sie das gehört hatte, unterrichtete Michal die Mädchen mit noch mehr Vergnügen.

Michal hatte den Kinderlärm in den letzten beiden Wochen, als die Mädchen bei der Ernte hatten helfen müssen, vermisst, erst recht an den letzten beiden schweigsamen Tagen. Jetzt genoss sie die ausgelassenen Kinder umso mehr − und bedauerte gleichzeitig, dass dieser Spaß ihr in der Kindheit verwehrt geblieben war: Damals, in ihrer Heimat jenseits des Meeres im Norden, in der Klosterschule zu Wimborne, hatte niemand gewagt, weiter herumzuspringen, wenn eine Lehrerin den Raum betreten hatte. Nur am Hof ihrer Eltern hatte sie in den wenigen freien Stunden nach Schule und Gebet mit den Kindern der Knechte und Mägde gespielt. Es hatten sich auch Knaben unter ihren Spielkameraden befunden, doch kurz nach ihrem elften Geburtstag hatte Mutter alle Knaben vom Hof geschickt, um, wie sie sagte, sie vor schädlichem Einfluss zu schützen.

Schweren Herzens beschloss Michal, das Durcheinander zu beenden. Sie klatschte in die Hände. „Ruhe, Kinder!“

Niemand hörte sie, nur eine Kohlmeise, die auf dem Fensterrahmen herumgesprungen war, flatterte davon. Sie schritt zum Pult, wo während der Mahlzeiten die Vorleserin stand, und knallte mit der Faust auf das Pult − ohne Erfolg. Also griff sie zur schrecklichsten Drohung: „Ich schicke euch alle in die Schule der Mönche, wenn ihr nicht sofort eure Wachstafeln nehmt und euch auf die Fliesen setzt!“

Die Mädchen blieben dort, wo sie gerade herumsprangen, wie festgewurzelt stehen. Wahrscheinlich dachten sie an ihre Brüder, die oft mit schmerzenden Hinterbacken aus dem Unterricht kamen. Begleitet von einem enttäuschten Murmeln nahmen die 24 Schülerinnen Wachstafeln und Griffel zur Hand und drängten sich auf den weißen Fliesen der alten Römervilla zusammen.

Michal lächelte, trat hinter dem Pult hervor und begann mit einer Rechenaufgabe. „Die Bäuerin melkt die Kühe Elsa und Frida. Elsa gibt zwei Kannen Milch, Frida drei.“ Sie nickte einer Schülerin in der ersten Reihe zu. „Clara, was denkst du: Wie viele Kannen Milch hat die Bäuerin?“

„Vier!“, antwortete das rotwangige Mädchen mit dem Blondschopf.

Michal setzte sich im Schneidersitz vor Clara auf die Fliesen und legte das Kinn auf die gefalteten Hände. „Wie viele Brüder hast du, Clara?“

Das Mädchen runzelte die Stirn, wahrscheinlich ahnte sie, dass ihre Antwort falsch war. Trotzig antwortete sie: „Vier!“

„Und wen von ihnen magst du am meisten?“

„Den Michel!“

„Und was ist mit den anderen?“

Clara ballte die kleinen Hände zu Fäusten. „Die sind blöd!“

„Du streitest dich mit ihnen?“

„Ja. Weil sie blöd sind!“

„Und wenn du dich mit ihnen streitest, was würdest du da am liebsten mit ihnen tun?“

„Ich hau ihnen Ohrfeigen rein!“ Sie holte mit dem rechten Arm aus, als stünden ihre Brüder vor ihr.

Michal schaffte es, ernst zu bleiben. „Das wären wie viele Ohrfeigen?“

Clara überlegte kurz mit zur Decke gewandtem Blick, dann hielt sie zwei Finger hoch und rief: „Drei!“

„Ah! Das sind so viele Ohrfeigen wie die Kannen Milch, die von der Kuh Frida gefüllt werden, richtig?“

„Glaub schon.“

Michal fuhr fort, während die Kohlmeise wieder auf dem Fensterrahmen Platz nahm: „Nun haben wir noch die Kuh Elsa, sie gibt zwei Kannen. Angenommen, du hast noch zwei weitere Ohrfeigen frei. Wem würdest du sie geben?“

Die Antwort kam wie aus dem Bogen geschossen: „Cristan und Georig!“

„Nun sage noch einmal die Namen von allen Knaben, die du ohrfeigen willst. Und bei jedem Namen machst du einen Strich in die Wachstafel.“

Clara nahm den Griffel, murmelte die Namen und zog nach jedem Namen, begleitet vom Zwitschern der Kohlmeise, einen Strich in das Wachs. Am Ende zählte sie fünf Striche.

„Richtig!“, lobte Michal. „Die Striche stehen für deine drei Brüder und für die anderen zwei Knaben, die du nicht magst, sie könnten aber auch für die drei Kannen von Frida und die zwei Kannen von Elsa stehen. Somit hast du die Aufgabe gelöst, wenn auch mit Ohrfeigen statt mit Milch.“

Die Mädchen lachten, die Meise flatterte davon.

Michal stellte weitere Rechenaufgaben und freute sich, dass ihre Mädchen noch so gut rechnen konnten wie vor zwei Wochen. Auch Clara, der sie noch zwei weitere Aufgaben stellte, gab auf Anhieb die richtigen Antworten. Als zur Terz gerufen wurde, beendete Michal den Unterricht, nicht ohne zu mahnen, nach der Terz wieder brav auf den Plätzen zu sitzen. Die Mädchen stürmten nach draußen in den kühlen, aber sonnigen Herbsttag.

Nach der Terz, als Michal die Kirche verließ, nahm sie im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sie sah die Anhöhe hinauf, die jenseits des Nonnenklosters anstieg. Aus dem Wald, in dem sich erste gelbe Flecken in das grüne Blätterdach mischten, trat ein Mann, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, den Wanderstab auf die Erde setzend: Goumerad.

Goumerad führte ruhig durch die Sext, ohne die Ergebnisse seiner Reise zu verkünden, die Non eröffnete er mit dem Vers, den der heilige Benedikt dafür vorgesehen hatte: „O Gott, komm mir zu Hilfe!“

Mönche und Nonnen antworteten: „Herr, eile mir zu helfen.“

Sodann erfüllten die acht Strophen des Hymnus „A solis ortus“ die Kirche zu Heidenheim. Auch Goumerad schien versunken in den Lobpreis des Lebens Jesu, doch manchmal schielte er zu den Nonnen herüber, und da war es Michal, als erkenne sie einen Schimmer Schadenfreude auf seinem Gesicht. Doch er verschwand so schnell, wie er aufgeschienen war, und die Psalmen 119 bis 121 trug Goumerad vor wie stets: fehlerfrei, in der immer gleichen Stimmlage, ohne Pausen.

Nach Lesung und Kyrie eleison − die ersten Mönche wandten sich zum Portal − hob Goumerad die Hände zum Zeichen, dass er etwas sagen wollte. „Meine lieben Brüder und Schwestern in Christo! In diesen Mauern hat sich ein Sakrileg ereignet, dessen Ahndung fürwahr keinen Aufschub duldet.“ Er wartete, bis er sich der Aufmerksamkeit der Mönche und Nonnen gewiss war. „Das Spenden des heiligen Sakraments der Taufe ist Priestern vorbehalten, Ausnahmen sind nur beim Vorliegen einer Notsituation erlaubt. Obwohl das Vorliegen einer derartigen Notsituation nicht gegeben war, beobachteten am gestrigen Tage einige Mönche, wie die Äbtissin Walburga die Taufe vollzog am Brunnen, der den Namen unseres hochverehrten Klostergründers trägt. Es liegt somit das Vergehen der Anmaßung einer Würde vor, die der Sünderin, allein wegen der Unterlegenheit und Sündhaftigkeit ihres Geschlechtes, niemals zusteht.“ Er zog eine Schriftrolle aus dem Ärmel und streckte sie in die Höhe. „Auf diesem Pergament habe ich die Frevel der Äbtissin für alle Zeiten festgehalten. Möge es als Mahnung dienen für alle, die ihr in diesem Amt nachfolgen!“

Walburga trat vor, die Hände krallten sich um die Holzschranke. „Verehrter Prior, hier liegt ein Missverständnis vor. Es ist wahr, ich betete mit unseren Gästen am Wynnebaldsbrunnen, jedoch tauchten sie sich aus freien Stücken ins Wasser, obschon ich ihnen erklärte, dass sie dadurch nicht die Taufe empfingen.“

Goumerad grinste. „Nun, die Entscheidung hierüber obliegt dem Richter − Wulfhardt, dem neuen Grafen. Er wird morgen eintreffen.“

„Ich unterstehe nicht dem Urteil des Grafen“, wandte Walburga ein. „Selbst wenn Wulfhardt der neue Graf wäre. Das Kloster steht unter dem Schutz des Königs!“

Goumerad stolzierte zur Schranke, einen Schritt vor der Äbtissin stoppte er, steckte die Schriftrolle zurück in den Ärmel und vergrub die Hände in den Ärmeln der Tunika. „Der König ist viele Tagesreisen entfernt, sodass es ihm unmöglich ist, jedes Sakrileg selbst zu ahnden. Zu diesem Zweck setzt er Stellvertreter ein wie Wulfhardt. Er ist der Mann mit dem edelsten Blute im Sualaveldgau. Die Christen der Grafschaft sind ihm treu ergeben, besonders einige Männer, die ihm fürderhin als Waffenknechte dienen werden.“ Er schlüpfte unter der Schranke durch und spazierte zum Portal.

Walburga ließ ihre Hände auf zwei Amphoren sinken, die an ihrem Gürtel hingen: „Herr, vergib ihm, denn er weiß nicht, was er tut.“

Ohne einzuhalten trat Goumerad vor das Portal.

Michal hatte Goumerads Worte vernommen, glauben mochte sie diese nicht. Erst als sie im Gefolge Walburgas das Portal durchschritt, gewahrte sie, dass ihre schlimmsten Ahnungen eingetroffen waren: Goumerad hatte einen Pakt mit Wulfhardt geschlossen, um gegen die hervorragendste Magd Christi zu Felde zu ziehen.

Welches Urteil würde Wulfhardt sprechen?

Sie erinnerte sich, wie er sie angestarrt hatte. Ihm war alles zuzutrauen.

War Walburga der Märtyrertod bestimmt?

Nur eine Hoffnung blieb: Bischof Willibald. Walburga sandte den Mann von der Lichtung, dem Wulfhardt das Schwert an den Hals gedrückt hatte, zu ihm nach Eihstat. Doch der Bischof würde frühestens in vier Tagen eintreffen.

Im Refektorium entzündeten die Nonnen Talgkerzen auf dem langen Tisch und Öllampen an den Wänden, Teller und Kessel klapperten. Wie immer sagte niemand ein Wort, aber dieses Mal bedrückte Michal das Schweigen mehr denn je, besonders als sie erfasste, dass dies das letzte abendliche Mahl im Beisein Walburgas sein könnte. Aebbe, die neben ihr saß, schluchzte. Auch aus Michals Augen kullerten Tränen. Truthgeba, die Cellararia, teilte Spinat und Sellerie aus, tröstend strich sie den zwei Jüngsten über die Wangen. Schnell wischte Michal die Tränen weg, disziplinierte sich, ergriff den Löffel und entdeckte im Teller drei Spinatblätter, die nicht grün, sondern schwarz waren. Wie zufällig hatten sie sich hintereinander angeordnet, das letzte Spinatblatt kringelte sich zusammen. Gelegentliches Kratzen der Löffel auf den hölzernen Tellern durchbrach die Stille im Refektorium, in dem noch heute Vormittag die Mädchen des Dorfes herumgetobt waren. Sie aß die drei schwarzen Blätter und den Rest des Spinats, anschließend nahm sie Wachstafel und Griffel zur Hand, die sie an ihrem Gürtel trug. Sie ritzte in das Wachs: Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen.

Walburga lächelte und blickte Michal dankbar an. Doch sofort wurde sie ernst und verkündete, sie wolle in dieser Nacht wachen und beten, auf dass der Herr seinen gnädigen Blick auf ihr Schicksal und das jener guten Menschen von der Lichtung lenke, die in das Licht Jesu treten wollten. Ebenso beten wolle sie für Goumerads Seele, die, weil es ihm nach dem Amt des Abtes gelüste, schwere Sünde auf sich geladen habe.

Alle Nonnen blieben in jener Nacht an Walburgas Seite. Im Kreis saßen sie um die Kerze im Dormitorium; Eadburga, die Leiterin des Chores, stimmte Lieder an, dazwischen rezitierten sie die Psalmen.

Walburga und ihre Nonnen stellten sich neben dem Kirchenportal in Heidenheim auf. Wulfhardt, der über Walburga richten würde, stolzierte mit dem silbernen Bischofsstab in der Hand auf sie zu. Er spähte unter den Nonnen nach der mit dem Kopftuch. Vor allem sie sollte sehen, dass, nach dem Donnerschlag auf der Lichtung, die Sterne wieder ihn begünstigt hatten: Nachdem er von der Lichtung heimgekehrt war, hatte Hroutland, der Waffenmeister des Grafenhofs, ihn erwartet.

Was Wulfhardt nicht gewusst hatte: Er war während des Überfalls nicht auf dem Grafenhof gewesen, sondern unterwegs, um Waffen zu kaufen. Hroutland, groß und stämmig wie eine hundertjährige Eiche, heulte gleich einem Kind über den Tod seines Herrn. Sodann schwor er Wulfhardt, als einzigem Überlebenden der Grafenfamilie, die Treue und warb aus den umliegenden Dörfern zwanzig Waffenknechte zur Verteidigung des Grafenhofs an. Ihre Ergebenheit sicherte Wulfhardt durch Münzen aus dem Grafenschatz. Mit Hroutland und den zwanzig bewaffneten Männern an seiner Seite machte ihm niemand mehr seine Grafschaft streitig. Er hatte denn auch einen Boten an den Hof des fränkischen Königs geschickt, um die Bestätigung seiner Regentschaft über den Sualaveldgau einzuholen. Er zweifelte nicht am positiven Bescheid des Königs, zumal Gerold noch immer verschollen war. Noch ein Zeichen, dass die Sterne günstig standen!

 

Allein Walburga und die römische Kirche störten seine Herrschaft über den Sualaveldgau. Jetzt rächte sich, dass sein Vater und sein Bruder nicht sofort gegen die Missionare der römischen Kirche, angeführt von Willibald und Wynnebald, vorgegangen waren. Sie hatten sich nicht getraut, weil die Missionare unter dem Schutz des Königs gestanden hatten. Wulfhardt hatte seinem Bruder vorgeschlagen, ihnen eine Falle zu stellen, zum Beispiel mithilfe des Gifts der Eibennadeln. Aber dazu hatte seinem Bruder der Mumm gefehlt. Und weil er nicht auf ihn gehört hatte, hatte sich die römische Kirche im Sualaveldgau zum Problem ausgewachsen, was schon daran zu erkennen war, dass er Walburga nicht mehr geradeheraus meucheln konnte, weil ihm dies den Zorn seiner Untergebenen, sogar seiner Waffenknechte, eingebracht hätte. Also musste er zuerst Walburgas Ruf zerstören. Und was eignete sich dafür besser, als sie mithilfe mehrerer Zeugen eines Verstoßes gegen die Gesetze der Kirche zu überführen, deren Botschaft sie verkünden sollte? Außerdem hatte er ein Rind sowie etliche Fässer Bier und Wein mit nach Heidenheim karren lassen, um den Bewohnern zu zeigen, dass ihr neuer Graf gut für sie sorgte.

Nun drehte sich das Rind auf dem Platz vor der Kirche am Spieß über dem Feuer. Einige Bauern waren herangekommen, doch niemand schnitt etwas vom Gebratenen ab oder nahm sich etwas von dem Bier oder dem Wein. Stattdessen hielten sie die Arme vor der Brust verschränkt und warfen ihm finstere Blicke zu, sodass Wulfhardt froh war um jeden der zwanzig Waffenknechte, der ihn beschützte. Was für störrische Bauern dies doch waren, bemerkte Wulfhardt, verwundert über den großen Rückhalt, den Walburga unter den Dorfbewohnern genoss. Trotzdem wollte er sie hinrichten. Danach, so hoffte er, würden sie ihre Äbtissin schnell vergessen. Und falls doch nicht, würde er auch die Bauern bestrafen.

Jetzt erfassten Wulfhardts Augen die Nonne. Wieder spitzten wilde Locken unter dem Kopftuch hervor. Auch unterhalb des Philtrums verbarg sich die Sünde: Von der Einkerbung aus verbreitete sich nach beiden Seiten die lockende Oberlippe. Er setzte ein siegesgewisses Lächeln auf und drehte die Krümmung des Bischofsstabs in ihre Richtung. Vor ihm schritt Hroutland, die rechte Hand am Schwertgriff, die linke hielt die Lanze des Grafen mit der vergoldeten Spitze. Jetzt musste sie vor ihm zittern!

Doch ihre großen, graugrünen Augen erwiderten seinen Blick entschlossen und voller Trotz. In diesem Moment musste er an Hildegard denken.

Genau so hatte sie ihn angestarrt, als sie sich von ihm losgesagt hatte. Auch jetzt noch, mehr als zehn Jahre danach, flammte bei dem Gedanken an Hildegard Wut in ihm auf: Wenigstens bei der Brautwerbung hatte Wulfhardt seinem Bruder den Rang ablaufen wollen. Im Rangau, der im Norden des Sualaveldgaus angrenzenden und ungleich größeren Grafschaft, hatte er eine Grafentochter ausgemacht, der es nicht an Schönheit gemangelt hatte. Dieses Mal hatte sich sogar sein Vater für ihn eingesetzt und sich um die Heirat mit Hildegard bemüht. Tatsächlich hatte der Graf des Rangaus, Graf Ernst, in diese Verbindung eingewilligt. Wulfhardt hatte sich auf den Weg zu ihr gemacht. Sie war schüchtern gewesen, also hatte er das Wort geführt: hatte von seinen Jagden, auf denen er Eber erlegte, berichtet, und davon, dass selbst die kräftigsten Waffenknechte sich nicht trauten, gegen ihn im Schwertkampf anzutreten. Hildegard hatte gelächelt, hier und da bewundernd die Augenbrauen nach oben gezogen, und als er ihr einen Pelz aus Biberfell zum Geschenk gemacht hatte, hatte sie ein leises „Danke“ gehaucht.

Nach dieser Begegnung war ihm alles, einfach alles, das ganze Leben, federleicht erschienen. Sogar der Groll gegen seinen Bruder war verschwunden, besonders, wenn er an Hildegard dachte: ihre himmelblauen Augen, die lockige Haarpracht, die rosigen Wangen, die Lippen, die immerzu lächelten. Jeder im Frankenreich würde ihn um diese Braut beneiden!

Zwei Monate vor der geplanten Hochzeit hatte er es dann nicht mehr erwarten können: Er war zu ihr aufgebrochen, hatte sie sehen müssen. Doch dort, am Hof des Grafen Ernst, hatte ihn nur der Graf erwartet. Er hatte ihn reichlich bewirten lassen, nur um ihm schließlich sein Bedauern darüber auszudrücken, dass er das Verlöbnis lösen müsse, da seine Tochter ihn darum gebeten habe. Wulfhardt hatte ihm kein Wort geglaubt. „Nein“, hatte er erwidert. „Damit bin ich nicht einverstanden.“ Ruhig, doch bestimmt, hatte der Graf auf seiner unfassbaren Entscheidung bestanden. Er hatte bedauert, dass seine Tochter Wulfhardt nicht sehen wolle. „Das kann nicht sein!“, hatte Wulfhardt beharrt.

Da war Hildegard in den Saal geschritten, der Blick voller Trotz, und hatte laut verkündet, als sollte das ganze Frankenreich sie hören, dass sie ihn nicht heiraten wolle. Er sei ein ungehobelter Klotz, ein Prahlhans und Wichtigtuer.

Wulfhardt hatte sich gefühlt, als wäre er in ein endlos tiefes dunkles Loch gestürzt. Er wusste nicht mehr, wie er aus dem Saal gekommen war, nur an eines konnte er sich erinnern: an ein leises Kichern. Es musste von einem der Männer des Grafen gekommen sein. Dieses leise Kichern hatte sich in seinen Ohren zu einem Dröhnen ausgewachsen, den ganzen Weg nach Hause durch die endlosen Wälder, denn er wusste: Kaum dass er den Saal verlassen hatte, war dieses leise Kichern in johlendes Gelächter ausgebrochen, der ganze Hof von Graf Ernst hatte ihn ausgelacht.

Zurück im Sualaveldgau hatte er seinem Vater mit stockender Stimme von seinem Besuch berichtet. Er hatte ihn aufgefordert, diese Schmach rächen zu dürfen und ihm Männer zu geben, um gegen Graf Ernst in den Krieg zu ziehen. Vater hatte ihn getröstet, nur um anschließend zu behaupten, dass Graf Ernst viele Kämpfer habe und, noch wichtiger, dass der König einen derartigen Angriff keinesfalls gutheißen, sondern ihn hart bestrafen würde. Wulfhardt hatte getobt: „Wäre meinem verdammten Bruder so etwas passiert, würdest du ihn sofort rächen!“

Nie mehr hatten sie über diese Angelegenheit gesprochen, das Leben am Grafenhof war seinen Weg gegangen. Doch bis heute sah er manchmal die Menschen grinsen, wenn sie in seine Richtung sahen. Dann wusste er, dass sie über seine Schmach witzelten.

Dies bestärkte Wulfhardt jedes Mal in seinem Entschluss: Nie mehr würde er um eine Braut werben, nie mehr würde er zum Gespött werden. Und: Er würde sich rächen. Bald schon würde er seine Macht im Sualaveldgau gesichert haben, dann würde er sich um Graf Ernst kümmern. Und um Hildegard.

Wulfhardt riss den Blick von der Nonne los und wendete sich nach links, wo die Mönche standen. Goumerad verneigte sich so tief, dass Wulfhardt die Hinterseite seiner Segelohren sah. Er sprach einige salbungsvolle Worte, aus denen Wulfhardt eine Hochnäsigkeit heraushörte, die ihn an seinen lieben Bruder, diesen Musterschüler, erinnerte. Trotzdem nickte er ihm freundlich zu, schließlich sollte Goumerad nach Walburgas Ableben das Kloster in seinem Sinn leiten. Heute Abend würde Wulfhardt eine Messe zelebrieren, die Verhandlung über Walburgas Sakrileg hatte er für morgen angesetzt.

Wulfhardt führte durch die Messe mit den Formeln, die er vor Jahren auswendig gelernt hatte. Währenddessen überlegte er, auf welche Art Walburga ihr Leben beenden sollte. Er entschied sich für das Verbrennen, um ihr einen Vorgeschmack zu geben auf das Höllenfeuer, das sie erwartete.