Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit

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KAPITEL 2.
FORTSCHRITT IM MITTELALTER: TECHNISCH, KULTURELL UND RELIGIÖS

Der christliche Einsatz für die Vernunft und den Fortschritt war nicht bloßes Gerede; nach dem Untergang Roms läutete er eine Epoche bestechender Erfindungen und Innovationen ein. Um diese Leistung aber tatsächlich würdigen zu können, ist es notwendig, zunächst eine unerhörte Lüge aufzudecken, die seit langer Zeit unser geschichtliches Wissen verunstaltet.

Seit zwei oder drei Jahrhunderten hat jeder gebildete Mensch zu hören bekommen, dass Europa zwischen dem Untergang Roms und dem 15. Jahrhundert herum im »finsteren Mittelalter« festgesteckt habe – sprich in Jahrhunderten der Unwissenheit, des Aberglaubens und des Elends –, aus dem es unerwartet und gleichsam wie durch ein Wunder gerettet wurde, wofür einerseits die Renaissance, andererseits die Aufklärung verantwortlich gewesen sei.1 Doch war es keineswegs so. Stattdessen überflügelte in diesen sogenannten finsteren Zeiten die europäische Technologie und Wissenschaft die gesamte restliche Welt.2

Die Vorstellung, dass Europa dem finsteren Mittelalter gleichsam zum Opfer fiel, ist ein Schwindel, den verbittert antireligiöse und vor allem anti-katholische Intellektuelle des 18. Jahrhunderts in die Welt gesetzt haben. Diese versuchten mit allen Mitteln, die kulturelle Überlegenheit ihrer eigenen Zeit hervorzuheben und untermauerten diesen Anspruch, indem sie frühere Jahrhunderte schlechtmachten. Mit einem Wort von Voltaire sprachen sie von dieser Zeit als einer, in der »Barbarei, Aberglaube und Unwissenheit das Angesicht der Erde bedeckten«.3 Dergleichen Ansichten sind bis vor kurzem so oft und einträchtig wiederholt worden, dass selbst Lexika und Wörterbücher das »finstere« Mittelalter als historisches Faktum ansehen.4 Manche Autoren gehen gar so weit zu behaupten, dass die Menschen, die, sagen wir, im 9. Jahrhundert lebten, ihre eigene Zeit als abergläubisch und zurückgeblieben betrachtet hätten.

Zum Glück sind diese Ansichten in den letzten Jahren so gründlich diskreditiert worden, dass selbst manche Enzyklopädien inzwischen damit anfangen, den Begriff des Finsteren Mittelalters als Mythos bloßzulegen.5 Allerdings ist dieser Mythos so tief in unsere Kultur eingesunken, dass selbst die meisten Gelehrten es für bare Münze nehmen, dass sich – in den Worten Edward Gibbons – nach dem Untergang Roms »der Triumph der Barbarei und Religion« vollzog.6 Zum Teil liegt das daran, dass es keine angemessenen, überblicksartigen Darstellungen dessen gibt, was wirklich geschehen ist.

Das Kapitel versucht, diese Lücke zu füllen. Es möchte etwa zeigen, dass, als mit dem Untergang des Römischen Reiches »Millionen Steuerzahler von ihrer bedrückenden Zwangsherrschaft befreit wurden«7, viele neuartige Technologien entstehen konnten, welche rasch und weithin übernommen wurden, was wiederum zur Folge hatte, dass normale Leute fortan viel besser leben konnten und, nach Jahrhunderten des Niedergangs unter den Römern, die Bevölkerungen wieder zu wachsen begannen. Nicht länger mussten die produktiven Klassen bluten, um den gigantischen Ausschweifungen der römischen Eliten zu dienen, um imperialen Egos riesige Monumente zu bauen oder um die vielen römischen Kolonien mit gigantischen Armeen aufrechtzuhalten. Stattdessen wurden menschliches Arbeitsbemühen und Geschick nun auf andere Dinge verwendet – auf die Verbesserung der Landwirtschaft, der Seefahrt, des Gütertransports, des Kirchenbaus, der Kriegsführung, der Bildung und sogar des Musizierens. Da aber noch heute, Jahrhunderte später, viele Beispiele großer griechischer und römischer Baukunst als Ruinen stehen, sehen sich viele Intellektuelle veranlasst, den Verlust dieser »großartigen Zivilisationen« zu beklagen. Selbst viele, die sich ansonsten klar darüber sind, wie viel menschliches Leid diese Herrlichkeit gekostet hat, spielen die Sklaverei herunter und nennen sie »das Opfer, das für diese Errungenschaften bezahlt werden musste«.8

In mancherlei Hinsicht war der Untergang Roms eher der einer einzelnen Stadt und weniger der einer Zivilisation. Während des 2. Jahrhunderts zählte die Bevölkerung Roms eine ganze Million, im 8. Jahrhundert weniger als 50 000 und im Jahr 1377, als der Papst seinen Hofstaat von Avignon wieder zurück nach Rom verlegte, lebten in der Stadt nicht mehr als 15 000 Menschen. Obwohl die Stadtbevölkerung auch in anderen Teilen Europas zurückging, waren die Verluste in Italien jedoch moderat und bald wieder wettgemacht,9 selbst auf dem Höhepunkt der imperialen Macht waren diese Städte, abgesehen von Rom, nicht groß – nur Mailand und Capua hatten mehr als 30 000 Einwohner.10 Es stimmt natürlich, dass abseits des städtischen Niedergangs auch das gesamte Reich zerfiel. Bedauern kann dies jedoch nur, wer eine Vorliebe für lasterhafte Herrscher, gesprochenes Latein und der Reichen Müßiggang hat.

Deutlich gesprochen heißt das, dass zu lange zu viele Historiker leichtgläubig wie Touristen gewesen sind. Mit offenen Mündern bestaunten sie die alten Denkmäler, die Paläste, den offenkundigen Verfall Roms (oder Athens oder Istanbuls) und stellten dann gehässige Vergleiche an zwischen solch »kosmopolitischen« Metropolen und »provinziellen« Gemeinden wie etwa den mittelalterlichen Handelsstädten. Irgendwie scheinen diese Historiker, obgleich selbst mit nur bescheidenen Mitteln ausgestattet, stets vorausgesetzt zu haben, dass sie, hätten sie damals gelebt, sicher Teil der Elite und nicht der missmutigen, verarmten Massen gewesen wären. Freilich wäre ihnen das lieber gewesen, denn als bloße Bürger in langweiligen Mittelalter-Städtchen gelebt zu haben.

Aber vielleicht gab es die Langeweile ja auch gar nicht. Nachdem es die Fesseln der Tyrannen los war, erlebte das sogenannte finstere Mittelalter geradezu eine Explosion von Innovationen sowohl auf dem Gebiet der Technologie wie auf dem der Kultur. In manchen Fällen handelte es sich um genuine Erfindungen, anderes kam aus Asien herüber. Doch noch erstaunlicher am Mittelalter war der Umstand, dass das ganze Potential der neuen Technologien sehr rasch erkannt und weitgehend erschlossen wurde – so, wie man es von einer Kultur, die von einem Glauben an den Fortschritt dominiert wird, ja auch erwarten darf; man denke nur an Augustinus’ Wort der »überschäumenden Erfindungen«. Auch war die Innovation nicht auf die Technologie beschränkt. Es gab ebenso einen bemerkenswerten Fortschritt im Bereich der Hochkultur – die Literatur, Kunst und Musik betreffend. Darüber hinaus sollten die neuen Technologien auch neue Organisations- und Verwaltungsformen anregen, was einen Höhepunkt in der Geburt des Kapitalismus in den großen klösterlichen Anwesen fand. Dies führte dann wiederum im Umkehrschluss zu einer vollkommenen Neubewertung der moralischen Implikationen des Handelsverkehrs seitens der Theologie. So lehnten die führenden Gelehrten es ab, Profit und Zinsgewinn im Vorhinein doktrinär zu beanstanden, wodurch sie zwei elementare Bestandteile des Kapitalismus für statthaft erklärten. So historisch wichtig all diese Entwicklungen jedoch auch waren, sie stellten doch eine »Revolution im Geheimen« dar, wie R. W. Southern11 es treffend ausdrückte – geheim, weil wir in den meisten Fällen gar nicht wissen, wer da genau was, wann und wo entdeckt hat. Das einzige, was wir wissen, ist, dass sich durch diese Innovationen der Westen schlagartig an die Spitze der Welt setzten sollte.

Technischer Fortschritt

Der Umstand, dass es nach dem Untergang Roms zu einem solchen Boom der Erfindungen kam, beweist, dass despotische Staaten den Fortschritt pauschal hemmen und sogar verhindern. Warum sollten Bauern auch neue und bessere landwirtschaftliche Technologien übernehmen, wenn das Mehr an Produktion ihnen ja doch weggenommen wird? Wer würde seine Profite in die Ausweitung einer Industrie stecken, wenn diese durch den Adel enteignet wird? Erfindung und Innovation entstehen meist nur dann, wenn das Eigentum vor der Beschlagnahme geschützt ist – sei es, weil der Staat sie durch eigene Unordnung nicht bewerkstelligt oder weil sein Machteinfluss gemindert wird. Die imponierende Epoche der Innovation, die auf den Zusammenbruch Roms folgte, war so gesehen auch eine Vorschau auf die Zukunft und bot eine Gelegenheit für rapiden Fortschritt und die Heraufkunft des Kapitalismus. Es empfiehlt sich daher, das ganze Ausmaß der technologischen Innovationen des frühen Mittelalters in den Blick zu fassen. Hierbei lassen sich drei Varianten unterscheiden: Innovationen gesteigerter Produktionsfähigkeit, der Kriegsinstrumente und des verbesserten Transports.

Innovationen im Produktionsbereich

Womöglich war es die größte Leistung des Mittelalters, als erstes eine Wirtschaft herausgebildet zu haben, die nicht mehr allein auf menschlicher Arbeitskraft beruhte.

Die Römer hatten zwar die Wasserkraft begriffen, sahen aber keinen Anlass, sie auszuschöpfen, da sie ja genug Sklaven hatten, die sich um die entsprechenden Aufgaben kümmerten. Warum hätte ein römischer Edelmann sein Geld in die Konstruktion eines Abflusskanals und eines Wasserrads stecken sollen, um Getreide zu Mehl zu vermahlen, wenn er doch genügend Sklaven hatte, die die Mühle mit ihren Händen antrieben? Im Gegensatz hierzu zeigt ein Inventar aus dem 9. Jahrhundert, dass zu dieser Zeit bereits ein Drittel aller Gutshöfe im Gebiet der Seine und um Paris herum Wassermühlen besaßen, die meisten waren Klöster.12 Das auf Veranlassung von Wilhelm I. im Jahr 1086 zusammengestellte Domesday Book, ein Vorläufer des modernen Zensus, belegt, dass es in England zumindest 5.624 wasserbetriebene Mühlen gab bzw. eine für jeweils fünfzig Familien.13 Jenseits des Ärmelkanals wurde im frühen 11. Jahrhundert in Toulouse ein Unternehmen gegründet, die Société du Bazacle, um Aktien einer Reihe von Wassermühlen längs der Garonne auszugeben. Die Anteile wurden frei gehandelt, weshalb Jean Gimpel die Société »das vielleicht älteste kapitalistische Unternehmen der Welt« nannte.14 Ein Jahrhundert später waren Wassermühlen bereits so wichtig geworden, dass es in Paris entlang der Seine 68 Mühlen auf einer Strecke von anderthalb Kilometer Länge gab, was bedeutete, dass auf alle 21 Meter Flusslauf eine Mühle entfiel!15

 

Die Mühlen der Seine und der Garonne, aber letztlich die meisten anderen Wassermühlen auch, waren unterschlächtig – das Wasser läuft unter dem Rad hindurch und die benötigte Kraft wird allein von dem Strom des Flusses oder Bachs gespendet. Sehr viel größere Kraft kann ein oberschlächtiges Wasserrad nutzen – das Wasser strömt durch eine Rinne zum Scheitelpunkt des Rades, fällt dort in dessen Zellen und setzt das Rad durch sein Gewicht und seine kinetische Energie in Bewegung. Bis auf wenige Ausnahmen benötigt das oberschlächtige Wasserrad jedoch einen Damm, der das Wasser vom Mutterfluss oder -bach ableitet und in einem künstlichen Kanal mit wenig Gefälle zum Rad geleitet. Niemand weiß genau, wann diese Räder zuerst zum Einsatz kamen. Sie werden häufig in Schriften des 14. Jahrhunderts erwähnt, doch angesichts dessen, dass Dämme schon um einiges früher gebaut worden waren, dürften auch oberschlächtige Wasserräder bereits früher zum Einsatz gekommen sein. Obwohl Dämme manchmal auch zur Hochwasserregulierung gebaut werden, dienen sie noch heute vor allem zur Stauung des Wassers, um dessen Gewicht und Druck zur Energiegewinnung zu nutzen. Bereits im 12. Jahrhundert hatte man sehr große Dämme gebaut – einer in Toulouse war knapp 400 Meter lang und bestand aus tausenden von riesigen Eichenstämmen, die, ins Flussbett gerammt, auf der Vorder- und Rückseite eine Palisade bildeten, die man außerdem mit Schlamm und Steinen aufgefüllt hatte.16 Zusätzlich angebrachte Zahnräder und Kurbeln sollten die Energieleistung der Wasserräder erhöhen und aus ihrer Drehung nicht mehr ein bloßes Rotieren, sondern eine Umkehrbewegung machen. Bald schon wurde die Wasserkraft genutzt, um Holz zu sägen und Stein zu zerkleinern, um Messer und Schwerter zu schleifen, um Stoff zu walken, um Metall zu bearbeiten, als Drehbank, als Seilzug und um Stofflumpen zu zerstampfen, aus denen dann Papier hergestellt wurde.17 Was letzteren Punkt angeht, schreibt Jean Gimpel, dass Papier, »das über tausend Jahre mit bloßen Händen und Füßen hergestellt wurde, nachdem es in China erfunden und von den Arabern übernommen worden war, schließlich zur mechanischen Erzeugung gelangte, sobald es das mittelalterliche Europa des 13. Jahrhunderts erreicht hatte … Die ganze Welt hatte schon Papier gesehen, doch keine Kultur oder Zivilisation hatte versucht, seine Herstellung zu mechanisieren«18, bevor die Europäer es taten.

Aber es war nicht nur die rasche Ausbreitung, fortlaufende Verbesserung und Adaptierung der Wasserkraft, die das frühe Mittelalter kennzeichnete. Der Wind sollte von den Europäern nicht weniger schnell genutzt werden. Die großen Reiche des mittleren Ostens und Asiens, in denen die Hydraulik zum Einsatz gekommen war, hatten sich noch darauf beschränkt, dass sie Wasser auf ihre Felder gossen; das mittelalterliche Europa vergrößerte stattdessen seine landwirtschaftliche Produktion, indem es Wasser von potentiellen Anbauflächen abpumpte – große Teile des heutigen Belgiens oder der Niederlande standen zu Zeiten der Römer noch unter Wasser. Mit Hilfe tausender Windmühlen, die Tag und Nacht liefen, legte man sie trocken und machte sie urbar.

Windmühlen breiteten sich sogar noch schneller aus als Wasserräder, da der Wind ja überall wehte. Um sich seiner bestmöglich zu bedienen, und auch dann, wenn der Wind die Richtung wechselte, erfanden Ingenieure des Mittelalters die Bockwindmühle, bei der die Flügel an einem drehbaren Untergestell, dem »Bock«, eingehängt sind, wo sie sich frei und dem Wind entsprechend bewegen. Am Ende des 12. Jahrhunderts standen schon derart viele Windmühlen in Europa, dass manche ihrer Besitzer untereinander vor Gericht zogen, weil sie behaupteten, der Nachbar blockiere den Wind.19

Doch das genügte noch nicht. Die Europäer des Mittelalters richteten ihre Aufmerksamkeit zudem auf Pferdestärken, und zwar im Wortsinn. Weder die Römer noch andere klassische Zivilisationen hatten ihre Pferde tatsächlich zu nutzen verstanden. Bevor dies den Europäern im Mittelalter gelang, waren Pferde auf die gleiche Weise wie Ochsen genutzt worden. Sie trugen sogar das gleiche Geschirr. Damit ein Pferd sich dabei nicht selbst strangulierte, musste es stets den Kopf nach hinten geworfen halten und konnte bloß leichte Lasten schleppen. Die Römer, denen das Problem bewusst war, wussten sich nicht anders denn mit einem Gesetz zu behelfen. Der Codex Theodosianus sah schwere Strafen vor, wenn einem Pferd Lasten aufgeladen wurden, die schwerer waren als fünf Kilogramm.20 Im Gegensatz dazu wurde im Mittelalter ein unelastisches, gut gepolstertes Geschirr gefertigt, das das Gewicht einer Traglast nun auf dem Rücken und nicht mehr auf dem Hals des Pferdes platzierte, was es diesem ermöglichte, genauso viel zu schleppen wie ein Ochse, jedoch ungleich schneller als dieser zu sein. Mit dem neuen Geschirr wechselten die Bauern sehr bald von Ochsen auf Pferde, was ein großes Plus an Leistungsfähigkeit bedeutete – ein Pferd konnte etwa beim Pflügen zweimal so viel Arbeit leisten wie ein Ochse.21

Auch musste Rom erst untergehen, bevor die Europäer Metallbeschläge erfanden, die Pferden unter die Hufe genagelt wurden, um sie vor Abrieb und Rissen zu schützen, wodurch die Tiere zuvor oft lahm geworden waren. Die Römer hatten zwar bereits mit diversen Arten von Pferdeschuhen experimentiert (die Tiere Neros hatten Schuhe aus Silber), doch fielen diese bereits herab, sobald die Pferde auch nur trabten. Mit den neuen metallenen Sohlen jedoch waren die Pferde viel weniger von Erlahmung bedroht und konnten ihre Hufe tiefer in die Erde graben, was wiederum positiv auf ihre Zugkraft wirkte.

Nachdem sie nun einen sehr viel besseren Ersatz für den Ochsen gefunden hatten, erfanden die Europäer des Mittelalters bald den schweren Pflug auf Rädern, der die Erträge der fruchtbaren, aber sehr schweren Erdböden verbessern sollte. Bis ins 6. Jahrhundert hinein wurde im Ackerbau allein der Hakenpflug verwendet, ein einfaches Gerät, das bloß aus mehreren, in einer Reihe angebrachten Wühlstöcken bestand.22 Der Hakenpflug gräbt die Erde nicht um, sondern wird bloß über deren Oberfläche gezogen, wobei er nur wenig tiefe Furchen hinterlässt. Dies mag zwar ausreichen für seichte und trockene Böden, wie es sie etwa in Italien gibt, doch nicht für die schweren, feuchten Böden Nordeuropas. Was hier benötigt wurde, war ein schwerer Pflug mit schweren Klingen bzw. Scharen, die tiefe Furchen hinterlassen. Zudem brauchte man eine zweite Schar – das messerartige Sech –, das, in einem bestimmten Winkel angebracht, eine Schicht der soeben umgewälzten Erde wegschneidet. Zuletzt wurde ein Streichbrett angefügt, das diese herausgeschnittene Erde zur Gänze umwendete, und Räder an den Pflug angebracht, so dass man ihn leicht von einem Feld zum nächsten fahren konnte. Und siehe da! Land, das die Römer zuvor überhaupt nicht hatten bewirtschaften können, wurde auf einmal sehr fruchtbar. Selbst auf seichteren Böden konnte der Ernteertrag durch die verbesserte Pflugtechnik nahezu verdoppelt werden.23 Diese unglaubliche Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität reduzierte gleichzeitig den Bedarf an Arbeitskraft und vergrößerte die Ernten. Auch entstanden in ihrer Folge ganze Ortschaften und Städte, welche auf diese Weise ernährt werden konnten.24

Doch bauten die Bauern des Mittelalters nicht nur Feldfrüchte an, sondern züchteten auch Fische. Schon die Römer hatten ein wenig Fischzucht betrieben, doch sollte hieraus erst im 8. Jahrhundert eine ganze Industrie werden, als nämlich die Kirche den Verzehr von Fleisch an Freitagen und Fastentagen untersagte (in einem Jahr betraf das damals 150 Tage). Da Fisch nicht mit Fleisch gleichgesetzt war, entstanden nun überall in Westeuropa künstliche Seen und Teiche, in denen oft nur eine besondere Sorte Fisch gezüchtet bzw. der Lebenszyklus einer speziellen Gattung erhalten wurde. Sogar Burggräben wurden hierfür genutzt.

In klösterlichen Anwesen, vornehmlich der Zisterzienser, war man bei der Fischzucht ganz besonders aktiv, da Mönchen das Essen von Fleisch generell verboten war. Manche Klöster legten so viele Teiche und Aquarien an, in denen sie Karpfen und Forellen züchteten, dass sie damit den Bedarf ganzer Regionen abdecken konnten.25 Auch der Adel tat sich bei der Fischzucht hervor: Wilhelm I. besaß ein großes und aufwendiges Teich-System, das er um 1086 in York hatte bauen lassen und das den englischen Hof über Jahrhunderte mit Fisch versorgte. Auch entdeckten erfindungsreiche Züchter mit der Zeit, dass die Böden der Fischgründe durch Exkrementablagerungen extrem fruchtbar wurden. Daher legten sie sie alle paar Jahre trocken und pflanzten auf ihnen Getreide. Nach einer reichen Ernte wanderten die Böden dann zurück in den Fischteich.26 Bis im 12. Jahrhundert kommerzielle Fangflotten in der Nord- und Ostsee entstanden, blieben Bauernhöfe die wichtigste Bezugsquelle für Fisch in ganz Europa.

Das Potential der damaligen Landwirtschaft, nicht nur für das Nötige zu sorgen, sondern sogar Überschüsse zu produzieren, wurde noch vergrößert durch die Einführung der Dreifelderwirtschaft. Bei dieser wird das Ackerland in drei Parzellen geteilt: eine, auf dem Wintergetreide wie etwa Weizen angepflanzt wurde; eine zweite, die Sommergetreide trug, so etwa Hafer (der besonders wichtig wurde, als Pferde verstärkt zum Einsatz kamen), Hülsenfrüchte (vor allem Erbsen und Bohnen) und Gemüse; und eine dritte Parzelle, die unbepflanzt brachliegen durfte. Im Folgejahr wurde auf letzterer dann das Wintergetreide angebaut, auf der zweiten Parzelle das Sommergetreide und die, auf der vorher das Sommergetreide wuchs, ließ man nun ihrerseits brachliegen. (Vor dem Einsatz von Kunstdünger mussten Ackerflächen regelmäßig unbestellt gelassen werden, damit sie sich erholten und ihre Fruchtbarkeit zurückgewannen.)

Die Dreifelderwirtschaft tauchte zuerst im 8. Jahrhundert auf und wurde so schnell und weithin übernommen, dass viele Historiker des 19. Jahrhunderts fälschlicherweise annahmen, sie stamme bereits aus römischen Zeiten. Doch gab es bei den Römern bloß ein Zwei-Felder-System, da sie nicht wussten, dass sich Ackerland durch den Anbau von Hülsenfrüchten regeneriert und daher weniger oft brachliegen muss. So blieb die Hälfte ihrer Böden jedes Jahr ungenutzt, wogegen das mittelalterliche System mit nur einem Drittel auskam.27 Nicht nur aßen die meisten Europäer des Mittelalters weitaus besser als unter den Römern, sie waren dadurch auch gesünder, vitaler und wahrscheinlich auch intelligenter.

Dass man das brachliegende Land zum Weiden der Tiere nutzte, hatte dramatische Auswirkungen auf die mittelalterliche und frühe kapitalistische Wirtschaft. »Dünger war sehr teuer, da er ein seltenes und kostbares Produkt darstellte, das keinesfalls verschwendet werden durfte. Das Tier, das sich damals am glücklichsten schätzen durfte, war das Schaf.«28 Schafe stellten Milch zur Verfügung, Butter, Käse und Fleisch. Aus ihrer Haut wurde Pergament gemacht, auf dem Skribenten ihre Bücher abschrieben. Doch vor allem gaben Schafe Wolle. Da Kleider aus Wolle im Mittelalter ausgesprochen begehrt waren, war Vlieswolle das wichtigste industrielle Rohmaterial. Die frühen Tage des Kapitalismus waren von ihrer Verarbeitung bestimmt. Kleiderhersteller in Italien und Flandern etwa verwendeten »Millionen von Schafpelzen« pro Jahr.29

Das bringt uns natürlich zu einer weiteren herausragenden Innovation des Mittelalters: der Kleiderherstellung. Bevor die damaligen Europäer den Trittwebstuhl erfanden, die wasserbetriebene Walkmühle, das Spinnrad und die mit einem metallenen Tambour versehene Kardiermaschine, war die Kleiderherstellung extrem arbeitsintensiv und fand nur in kleinem Maßstab statt, da alles mit der Hand gemacht werden musste. Erst die Mechanisierung des Arbeitsprozesses ermöglichte das Entstehen von Zentren und Industrien der Kleiderherstellung, welche ihrerseits ein wichtiger Antriebsmotor für den Handel und, damit natürlich einhergehend, die Geldwirtschaft werden sollten.

 

Zusätzlich zu der direkt in der Produktion genutzten Technologie profitierten die Europäer des Mittelalters von drei Erfindungen, die indirekt von größter Bedeutung waren: Kamine, Brillen und Uhren.

Römische Gebäude waren notorisch unbeheizt. Es gab keine Feuerstellen, Herde oder Öfen, weil man noch nicht wusste, wie man den Rauch abziehen lassen sollte. In ihren Hütten und Schuppen saßen die römischen Bauern um ein offenes Feuer herum, dessen Rauch durch ein großes Loch im Dach abzog, durch das aber auch Regen, Schnee, Wind und Kälte eindrangen.30 In den Städten hatten die Römer noch nicht einmal das; wenn sie mit Holz und Kohle kochten, verbreitete sich der Rauch im Innern. Erstickungen konnten nur vermieden werden, weil die Häuser extrem zugig und die Fenster gar nicht mit Glas verschlossen waren, sondern nur mit Tüchern aus Stoff oder Haut verhängt.31 Während die Caesaren sich also mit der Kälte herumplagen und den Küchenrauch ertragen mussten, lernten die Europäer des Mittelalters – die Bauern ebenso wie der Adel – schon bald, wie es sich viel besser leben ließ. Sie erfanden Feuerstellen mit Kamin, so dass auch größere Flammen den Raum nicht länger mit Rauch erfüllten. Zudem waren zugige Wohnungen nicht mehr vonnöten. Sobald der Rauch einmal bequem durch den Schornstein abziehen konnte, bereiteten die Menschen des Mittelalters ihre Speisen besser zu, atmeten weitaus reinere Luft und hatten es im Winter sehr viel wärmer.

Die menschliche Biologie will es, dass viele Menschen von Kindheit an nicht gut sehen und sich das Sehvermögen obendrein ab der Lebensmitte verschlechtert. Aus diesem Grund war vor der Erfindung der Brille ein sehr großer Anteil der arbeitenden Erwachsenen, besonders die Handwerker, in ihrem Tun massiv eingeschränkt. Als um 1284 in Norditalien die Brille erfunden wurde, hatte das dramatische Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit. Ohne Brillen waren viele Handwerker des Mittelalters im Alter von vierzig erledigt gewesen. Mit Brillen konnten sie nicht nur ihre Arbeit weiterführen, sondern hatten durch ihre lange Erfahrung ihre besten Jahre sogar noch vor sich.32 Zudem konnte der Einsatz von Lupen viele Aufgaben erleichtern, selbst für Arbeiter, deren Sehkraft nichts zu wünschen übrigließ. Zuvor hatten diese Aufgaben noch außerhalb des Möglichen gelegen. Kein Wunder also, dass sich Brillen rasend schnell verbreiteten. In dem Jahrhundert nach ihrer Erfindung entstand in florentinischen und venezianischen Betrieben eine echte Massenproduktion, die zehntausende Brillen pro Jahr bereitstellte. Gleichwohl waren noch 1492, als Kolumbus Amerika entdeckte, Brillen ausschließlich in Europa bekannt.33

Irgendwann im 13. Jahrhundert erfand irgendwer irgendwo in Europa eine zuverlässige mechanische Uhr. Bald darauf war die europäische Gesellschaft die einzige auf der Welt, in der die Leute wussten, wie spät es war. Wie Lewis Mumford anmerkte, war »die Uhr – und nicht die Dampfmaschine – die Schlüssel-Apparatur des Industriezeitalters«,34 da sie die genaue Planung und Koordinierung von Arbeitsgängen ermöglichte. Die ersten mechanischen Uhren war sehr groß, so dass es in manchen Orten oder Ortsteilen mitunter nur eine einzige gab (am Kirchturm oder am Rathaus) und man sich Techniken des Glockengeläuts einfallen ließ, womit der gesamten Einwohnerschaft die genaue Uhrzeit angegeben wurde.

Wie die Brille gab es auch die mechanische Uhr jahrhundertelang allein in der westlichen Welt. Offenbar waren zu Beginn des 12. Jahrhunderts auch in China einige mechanische Uhren gebaut worden, doch hatten die Mandarine derart wenig für technische Apparate übrig, dass sie alsbald deren Zerstörung anordneten. Danach gab es bis in die Neuzeit hinein überhaupt keine Uhren in China.35 1560 wurde berichtet, dass man öffentliche Uhren auch aus dem Osmanischen Reich (und anderen islamischen Ländern) verbannt hatte, da diese die Zeit als solche verweltlichen würden.36 Doch war der Islam hier nicht allein: auch die orthodoxe Kirche des Ostens weigerte sich bis ins 20. Jahrhundert, in ihren Kirchen mechanische Uhren zuzulassen.37 Erfreulicherweise hatte man in der römisch-katholischen Kirche nichts dagegen, die genaue Tageszeit zu wissen, und baute in die Türme tausender Gotteshäuser mechanische Uhren ein.

Dies sind nur einige der Innovationen und Erfindungen, durch die das angeblich so finstere Mittelalter den Grundstein für den Kapitalismus legte. Man könnte noch anderes anführen, etwa die Verbesserungen von Kränen und Flaschenzügen, die Fortschritte beim Bergbau, dem Hüttenwesen und der Metallverarbeitung, die neuen Techniken beim Aussäen von Saatgut oder auch nur die Erfindung der Schubkarre. Doch war der Erfolg der Europäer nicht nur auf verbesserte Produktionsmethoden oder höhere Lebensstandards beschränkt. Man ließ den Rest der Welt auch deshalb hinter sich zurück, weil man es besser verstand, Krieg zu führen.