Liebe, wie geht's?

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6. Der Staffellauf

Das Hölzchen, das wir von anderen bekommen, müssen und sollen wir auch nicht ungefragt weitertragen. Die nächste Generation wird es uns danken!

Sie und er gehen durch das Holocaust Memorial Museum in Washington, als er plötzlich aus tiefstem Herzen zu schluchzen beginnt.

Sie (legt ihren Arm um ihn): Du kannst doch nichts dafür! Hörst du mich? Du kannst nichts dafür!

Er (zwischen Schluchzern): Es ist so furchtbar, was da passiert ist. Ich kann den Schmerz richtig spüren!

Sie: Ja, es ist auch furchtbar. Das war jedoch vor deiner Zeit und du kannst nichts dafür. Für diese Gräueltaten sind wir nicht verantwortlich. Wir haben die Verantwortung, dass so etwas nie, nie wieder passiert!

Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einer Lichtung im grünen Gras, da kommt eine Figur auf Sie zu. Sie hat schwer zu tragen, und von diesen Gewichten, die sie umgehängt hat, sind manche grausig stinkend, andere hübsch poliert. Die Figur bleibt vor Ihnen stehen und sagt: „Da, nimm mir dieses grausige Gewicht ab, ich mag es nicht mehr tragen.“ Was würden Sie tun? Es nehmen?

Als Kind jedenfalls nehmen wir diese Gewichte ungefragt von unseren Eltern an. Nicht nur die grausigen, das muss man sagen, auch die hübsch polierten. Doch es sind die grausigen, die uns besonders prägen und so schwer belasten. Unsere Vorfahren haben viele schlimme Erlebnisse nicht verarbeitet und stattdessen Schuld, Trauer und seelischen Schmerz tief in sich vergraben, damit sie ihr Leben bewältigen konnten. Leider sind diese dunklen Seiten damit nicht beseitigt. Sie bleiben lebendig in Form von „komischem“ Verhalten unserer Eltern und anderer Bezugspersonen, und dieses Verhalten nehmen wir auf wie einen Staffelstab.

Darüber hinaus kompensieren wir mitunter auch das ungelebte Leben unserer Eltern. Da hat die Mutter davon geträumt, Balletttänzerin zu werden, doch der Krieg hat das für sie unmöglich gemacht – also übernimmt das Kind diesen Traum unbewusst als Staffelstab und wird Balletttänzerin, ohne viel zu hinterfragen, ob es das wirklich möchte. Oder der Vater wollte Medizin studieren und musste jedoch einrücken. Nach dem Krieg begann er eine Lehre als Bürokaufmann, weil ein Studium zu lange gedauert hätte und er eine Familie ernähren wollte. Und das Medizinstudium? Diesen Staffelstab übernimmt die Tochter und schreibt sich an der Uni ein. Es gibt auch berühmte Beispiele dazu: Konstantin Wecker erzählt, dass sein Vater Sänger und seine Mutter Literatin war, jedoch beide weder erfolgreich noch berühmt. Diesen Staffelstab hat er übernommen, er ist erfolgreicher Liedermacher, Schauspieler und Autor geworden. Wie C. G. Jung treffend sagte: „Nichts hat psychologisch gesehen einen stärkeren Einfluss auf ihre Umgebung und besonders auf ihre Kinder als das ungelebte Leben der Eltern.“

Diesen Dialog im Washingtoner Museum haben wir beide selbst geführt, und er ist ein sehr deutliches Beispiel dafür, wie heftig wir an diesen tonnenschweren Staffelstäben leiden, die wir von den Eltern übernehmen. Rolands Vater wurde vor dem Zweiten Weltkrieg in eine Fleischerfamilie geboren, und damit aus ihm ein ordentlicher Fleischer wurde, steckte man ihn schon sehr früh ins Burschenzimmer des Betriebs, in dem die Lehrlinge und Gesellen lebten. Dort traf er auf lauter hartgesottene und muskelbepackte Männer, die vor allem Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus verband. Das prägte den Vater dementsprechend. Als dann der Nationalsozialismus stark wurde, war er entsprechend präpariert und dachte, das wäre die Lösung. Der Weg zur illegalen Hitlerjugend war nicht weit. Im Weltkrieg stand er zu hundert Prozent hinter dieser Ideologie und war dennoch gleichzeitig im Herzen ein liebender Mensch, der keinem anderen etwas zuleide tun konnte. Er schaffte es selbst im Partisanenkrieg, keinen einzigen Gegner zu töten, weil er das nicht über sich gebracht hätte.

Trotzdem war in seinem Leben damals kein Platz, um dieses Elend, diesen Schmerz und diese Ungerechtigkeit in sich zu spüren und an die Oberfläche zu bringen. Mit seiner Vorprägung hatte er den Entschluss gefasst: „Jetzt werde ich auch endlich etwas gelten.“ Dieser Beschluss machte ihn blind dafür, dieses Elend, diesen Schmerz, diese Scham und die große Not zu spüren, die daraus entstanden ist. Umgeben von lauter Nazis war er einer richtigen Gehirnwäsche unterzogen und es hätte schon sehr viel Mut und Rückgrat gebraucht, sich dagegenzustemmen. Auch nach dem Krieg dauerte es noch lange, bis er Schritt für Schritt dieses Unrecht realisieren konnte. Seine unbewussten Schuldgefühle haben ihm schwer zu schaffen gemacht und er hat es bis zu seinem Tod kaum geschafft, diese Gefühle zu verarbeiten.

Als Kind übernimmt man solche Staffelstäbe prinzipiell natürlich unbewusst. Und es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man übernimmt sie, indem man das übernommene Gedankengut fortsetzt, oder man verfällt ins Gegenteil. Beide Optionen sind schwierig und machen uns nicht frei, auch wenn das gegenteilige Verhalten uns glauben lässt, wir hätten uns befreit.5 Und so hat auch Roland diesen düsteren Staffelstab übernommen und das gegenteilige Verhalten gelebt. Es hat viele Jahre gebraucht, bis er sich davon wirklich befreien und einen Weg finden konnte, bei dem er den Schmerz und die Trauer bei seinem Vater lassen, die Verantwortung für das Hier und Jetzt und für die Zukunft jedoch bewusst und tatkräftig übernehmen konnte.

Gerade bei diesem Thema merkt man, wie wichtig es ist zu erkennen, dass weder die Fortführung noch das gegenteilige Verhalten den Staffelstab endgültig begraben. Genauso ist es bei allen anderen Staffelstäben, die wir übernehmen. Wir erinnern uns an eine Frau, deren Mutter von ihrem Ehemann total unterdrückt wurde, sodass sie sich nicht emanzipieren konnte. Als Tochter übernahm sie unhinterfragt diesen Konflikt der Eltern, indem sie sich ganz besonders um ihre Emanzipation bemühte, also das Gegenteil praktizierte. Sie emanzipierte sich nicht nur für sich selbst, sondern in erster Linie stellvertretend für die Mutter. Der Preis, den sie dafür zahlte, waren Probleme in ihrer Ehe, weil sie sich nicht fallen lassen und auf ihren Partner einlassen konnte. Erst in der Therapie wurde ihr klar, dass sie damit ihrem Vater etwas heimzahlen wollte – aus lauter Loyalität zu ihrer Mutter durfte sie die Liebe zu ihrem Vater gar nicht spüren, und somit war auch die Liebe zu den Männern in ihrem Leben abgeschnitten.

Es geht einmal mehr darum, eine neue, eigene Tradition zu begründen. Was brauchen wir dafür? Zum einen brauchen wir Achtung vor dem, was unsere Vorgeneration erlebt hat. Wir dürfen weder urteilen noch loben, sondern sollten Respekt dafür haben, wie unsere Eltern, Großeltern oder auch Urgroßeltern schwierige Situationen gemeistert und auch Irrtümern aufgesessen sind und Unheil gestiftet haben.

Stellen Sie sich vor, mit welchen schweren, belastenden Gewichten Ihre Mutter oder Ihr Vater durchs Leben gingen, und gleichzeitig machen Sie sich bewusst, dass sie auch viele glänzend polierte Ressourcen, Begabungen und Talente tragen. Überlegen Sie, was davon Sie gerne für Ihr Leben mitnehmen wollen. Welche Erfahrungen, welche Traditionen gibt es, die Sie übernehmen möchten? Und welche wollen Sie lieber bei den Eltern belassen? Wenn wir in unseren Generationen-Workshops eine Übung dazu machen, ist dies immer einer der stärksten Momente des gesamten Wochenendes. Für erwachsene Söhne und Töchter so entlastend – und auch für Väter und Mütter ein so emotionaler Moment, denn welche Mutter oder welcher Vater möchte sein Kind schon mit einer Last in die Welt schicken!

5In unserem Buch „Warum haben Eltern keinen Beipackzettel?“ haben wir ein ganzes Kapitel diesem Thema gewidmet, das wir „Ich mache es ganz bestimmt anders“ genannt haben.

7. Ich bringe ein bisschen Schmutz mit

Über den Frust außerhalb der Beziehung, den man in die Beziehung mit reinnimmt.

Sie kommt von der Arbeit nach Hause und geht ins Wohnzimmer, wo er mit den Kindern spielt.

Sie: Ich bin’s!

Er: Hallo! Schön, dass du da bist!

Sie (schweigt und wirft einen Blick in die Küche): Wir hatten doch ausgemacht, dass es etwas zu essen gibt, wenn ich nach Hause komme.

Er: Was ist denn los? Du grüßt nicht und grantelst hier herum.

Sie: Ich ärgere mich. Du hast gesagt, du kümmerst dich um alles. Aber wie es aussieht, ist nichts geschehen.

Er: Was heißt da nichts geschehen? Das Essen ist ja fast fertig. Ich brauche nur noch zehn Minuten.

Sie: Aber fertig ist es noch nicht wie vereinbart!

Nach dem Abendessen räumen beide das Geschirr weg.

Er: Nun sag, was war denn heute los?

Sie: Bitte verzeih mir, dass ich vorhin so schlecht gelaunt war. Ich war ungerecht zu dir. Aber ich war außer mir. Wir hatten heute Teambesprechung, und da hat unsere Chefin meine Kollegin gelobt wegen des guten Projektfortschritts. Dabei ist das doch mein Projekt und sie hat es nur interimistisch übernommen, während ich in Karenz war. Die Chefin hat mich mit keinem Wort erwähnt und meine Kollegin hat nichts dazu gesagt. (Sie beginnt bitterlich zu weinen.)

So passiert es oft: Wir sind verletzt oder frustriert wegen einer Sache und können kein Ventil finden. Dann kommen wir nach Hause – und wer ist Ventilersatz? Die Partnerin oder der Partner. Das ist natürlich nicht fair. Doch das ist im Grunde genommen der „Deal“, den wir zu Beginn unserer Beziehung eingegangen sind. In der Verliebtheit haben wir diesen unbewussten Vertrag geschlossen, dass wir füreinander da sein wollen, wenn es eng wird. In guten wie in schlechten Zeiten. Nur das Kleingedruckte haben wir nicht gelesen, denn da steht: Du wirst damit deine liebe Not haben!

 

Im Grunde ist es ein Vertrauensbeweis, wenn wir unsere Partner als Blitzableiter verwenden. Das mag Sie überraschen, doch wenn wir uns das näher anschauen, liegt es auf der Hand. Die Frau in unserer Beispielszene fühlt sich offenbar im Teammeeting nicht sicher genug, um dort ihren Frust loszuwerden. Nur bei ihrem Mann, in ihrer Familie fühlt sie sich sicher und kann ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Nur, dass sie nicht ihren Schmerz loslässt, sondern ihn in Wut umwandelt, weil Wut ein Gefühl ist, das wir viel leichter aushalten können als Schmerz. Wenn es Ihnen gelingt, solche Situationen als Vertrauensbeweis zu sehen, haben Sie schon viel gewonnen!

In der Szene ist etwas Wunderbares passiert: Der Mann ist ruhig geblieben. Oft passiert es auch, dass der andere explodiert und die Situation dann eskaliert. Doch dieser Mann hat wohl schon vermutet, dass es um etwas geht, das gar nichts mit ihm zu tun hat, und hat seine Partnerin dann auch danach gefragt. Das hat ihr die nötige Sicherheit gegeben, um von ihrem Schmerz zu erzählen und sich von ihm trösten zu lassen. Im Unternehmen, wo sie als Projektleiterin mehrere Mitarbeiter führt und viel Verantwortung trägt, war es für sie nicht möglich, ihre Gefühle zu zeigen. Auch sie hat sich schließlich vorbildlich verhalten, indem sie ihn wegen ihres Grants um Verzeihung gebeten hat.

Unsere Partner sind also in solchen Situationen Blitzableiter. Es kann gut sein, dass diese Blitzableiter die Situation nicht so gut durchschauen wie der Mann in unserem Beispiel. Wir laden unseren Schmutz bei ihnen ab, der in eine ganz andere Baustelle gehört, und strafen sie für etwas, das gar nichts mit ihnen zu tun hat – und alles nur, weil wir bei niemandem sonst so viel Vertrauen und Sicherheit genießen. Da ist es wirklich nur recht, wenn wir im Nachhinein, wenn wir uns wieder beruhigt haben, sagen können: „Es tut mir leid!“ und auch „Danke, dass du bei mir bleibst, auch wenn ich meinen Schmutz bei dir ablade.“

Genauso wichtig wie das Verständnis, dass es ein Vertrauensbeweis ist, ist auch, Stopp zu sagen, und zwar in Liebe und Wertschätzung: „Bitte sag mir, worum es geht. Ich habe den Eindruck, deine Wut hat gar nichts mit mir zu tun. Kann es sein, dass du dich gerade verrennst?“ Wenn es in der Situation nicht möglich ist, genug Ruhe für diese geforderte Selbsterkenntnis zu finden, dann vielleicht ein paar Stunden später. Werfen Sie einen Blick hinter die Kulissen und entwirren Sie diese Vermischung der Situationen. Analysieren Sie in aller Ruhe, was das eigentliche Thema ist. Das hilft Ihnen auch, den Schmutz dort zu bereinigen, wo er hingehört. In unserer Szene oben hat die Frau gleich am nächsten Tag das Gespräch mit ihrer Chefin gesucht und die Sache konnte geklärt werden.

Ein besonderes Phänomen in diesem Zusammenhang ist, wenn das Fass überläuft. In der Früh ist das Frühstücksbrot schimmelig, auf dem Weg zur Arbeit werden Sie von einem Auto angespritzt. Im Büro läuft es zäh, das Essen in der Kantine schmeckt Ihnen nicht, am Nachmittag haben Sie Kopfweh und zu allem Überfluss eröffnet Ihnen Ihre Kollegin, dass sie morgen nicht kommen kann und Sie für zwei arbeiten werden müssen. Dann kommen Sie nach Hause und geraten in einen Streit, den Ihre beiden Kinder miteinander gerade austragen. Es reicht dann schon ein falsches Wort Ihres Partners, und die Zündschnur wird gezündet und die Explosion folgt.

Auch an solchen Tagen, wo einfach zu viel zusammenkommt, geht es darum zu klären, wo der Schmutz hingehört. Und noch etwas gilt es zu lernen: früher schon den Stopp-Schalter umlegen. In unserer Leistungsgesellschaft ist das eine Herausforderung, weil wir doch so viel aushalten wollen, um als anerkannter und wertvoller Mensch dazustehen. Doch vielleicht gelingt es Ihnen beim nächsten Mal, schon früher zu bemerken, wenn es Ihnen zu viel wird. Vielleicht gönnen Sie sich eine Mittagspause außer Haus, bei der Sie gut durchatmen und Ihre Batterie wieder aufladen können. Dann sammelt sich gar nicht erst so viel Schmutz an. Und wenn Ihnen auffällt, dass Sie häufig in solchen ermüdenden Tagen landen, dann laden wir Sie herzlich ein, zu hinterfragen, weshalb Sie sich so antreiben lassen und sich viel zu spät eine Auszeit gönnen. Auch hier hilft ein Blick in Ihre Familienhistorie, denn möglicherweise gibt es eine vorgelegte Spur, die sich vielleicht sogar schon über Generationen hinzieht.

Ein letztes, sehr hilfreiches Tool, um zu verhindern, Schmutz von außen in die Beziehung hineinzubringen, ist zu lernen, gute Übergänge zu gestalten. Wir haben oft einen stressigen Tag und manchmal sind uns die verschiedenen kleinen Widrigkeiten, die uns die Laune verdorben haben, gar nicht bewusst. Da hilft es, Rituale zu finden. Freunde von uns haben sich angewöhnt, mit dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause zu fahren, weil die körperliche Anstrengung ihnen hilft, so manches wegzustrampeln. Bewährt ist auch alles, was mit Wasser zu tun hat: beim Heimkommen als Erstes Hände waschen, duschen oder auch ein Glas Wasser trinken. Auch die Kleidung zu wechseln hilft. Ein Paar hat uns erzählt, dass die Frau sich beim Heimkommen zuerst in die Tür stellt, sagt, dass sie sich freut, hier zu sein, und sich ansonsten ein paar Minuten ruhig umschaut und sich auf diese Weise eintaktet in die private Welt.

In Beziehungen ist es eine unserer größten Aufgaben, genau zu unterscheiden, wo der Schmutz hingehört, der auf unser Gemüt drückt, damit wir ihn nicht unserer Partnerin, unserem Partner um die Ohren schmieren. Damit reduzieren wir nicht nur die vielen kleinen Querelen und zeigen gleichzeitig Respekt und Achtung vor unseren Beziehungen, sondern sind auch noch ein gutes Vorbild für die nächste Generation.

Wie konnte ich mich nur in die verlieben!

Wenn der reizende Mensch, in den wir uns verliebt haben, zu einer Enttäuschung wird, zweifelt man gern an der eigenen Urteilskraft.

Warum wir uns ausgerechnet in diesen einen Menschen verlieben und in keinen anderen – und was das für einen unschätzbaren Wert hat.


8. Der Zebraeffekt

Was hinter der Magie der Partnerwahl steckt. Wie wir unseren Seelenverwandten finden und welche unschätzbaren Vorteile das hat.

Er: Wo gehst du hin?

Sie: Habe ich dir doch gesagt, ich habe heute Supervision.

Er: Wann kommst du nach Hause?

Sie (ungehalten): Weiß ich nicht.

Er: Das letzte Mal ist es so spät geworden.

Sie (verärgert): Ich kann es dir nicht sagen. Du wirst bestimmt schon schlafen, wenn ich komme, also ist es doch egal!

Er: Bitte sage mir, wann du kommst. Ich mache mir sonst Sorgen!

Sie schnaubt wütend, verdreht die Augen und macht die Tür hinter sich zu.

Es ist schon etwas Magisches daran: Wir gehen an einem Samstagabend mit Freunden aus, und da ist plötzlich jemand, der offenbar einen Magneten eingebaut hat. Beim bloßen Anblick dieses Menschen kribbeln Schmetterlinge im Bauch, wir bekommen Herzklopfen, unsere Wangen röten sich leicht. Alle anderen rundherum sind nicht mehr wichtig. Amor hat seinen Pfeil abgeschossen und getroffen. Wir haben uns verliebt.

Warum jedoch verlieben wir uns gerade in diese eine Person? Wir finden vielleicht mehrere attraktiv, aber diese eine Person hat es uns angetan – woran liegt das? Weil diese eine Person mit uns seelenverwandt ist. Und weil die Natur uns so ausgestattet hat, dass wir diese Seelenverwandtschaft intuitiv erkennen, obwohl wir sie kognitiv noch gar nicht erfassen konnten. Wir haben ein Erklärungsmodell für Sie, damit Sie sich das gut vorstellen können: den Zebraeffekt.

Ein Zebra hat, wie Sie wissen, ein gestreiftes Fell, am Rumpf ist es längs-, an den Beinen quergestreift, und dort, wo diese zusammenstoßen, entsteht ein Muster, das wie ein Daumenabdruck höchst individuell ist. Wird ein Zebrababy geboren, ist es abhängig von seiner Mutter, weil es nur von ihr genährt wird. Es ist also überlebenswichtig, die Mutter in der Herde jederzeit erkennen zu können. Daher macht sich das Zebrababy ein inneres Bild von diesem individuellen Streifenmuster seiner Mutter. Mit dem Strichcode hat die Natur also vorgesorgt, dass jedes Zebrababy überleben kann.

Auch für uns Menschen hat die Natur eine Art Strichcode vorgesehen. Ab dem Zeitpunkt der Geburt machen wir uns ein inneres Bild von unseren Eltern und anderen Bezugspersonen. Das geschieht natürlich alles unbewusst. Als hätten wir eine integrierte Kamera eingebaut, speichern wir viele Bilder ab: wie gut es ist, wenn wir vor Hunger schreien und schnell an die Brust genommen werden; wie beängstigend es ist, wenn Mama und Papa streiten; wie Mama und Papa nach Schulschluss nicht zu Hause sind und wie überfordernd es als Schlüsselkind ist, auch noch auf das jüngere Geschwister aufpassen zu müssen; wie einsam man sich fühlt, wenn sich in der Familie alles nur um den kranken Bruder dreht … All diese unzähligen Erfahrungen werden abgespeichert und ergeben unseren individuellen Strichcode, mit dem wir durch die Welt gehen. Wenn wir dann auf einen Menschen treffen, der einen ähnlichen Strichcode mit sich herumträgt, passiert es: Wir fühlen uns hingezogen und verlieben uns.

Je größer die Seelenverwandtschaft – je ähnlicher also der Strichcode –, desto stärker ist die Anziehung. Wir bekommen schwitzige Hände, Herzklopfen, die Hormone kribbeln im Bauch. Wir geraten in einen Zustand der Euphorie, kommen mit weniger Schlaf und weniger Essen aus. Ein ganzer Hormoncocktail sorgt dafür, dass unser Kritikzentrum ausgeschaltet ist. Wir finden diesen Menschen toll! „Er ist mein Fels in der Brandung“, sagen wir dann, oder: „Sie ist so wunderbar quirlig, ich liebe das!“ Wir sehen also quasi nur die hellen Streifen im Zebramuster, die dunklen blenden wir aus, die interessieren uns nicht. Umgekehrt zeigen wir uns auch von unserer besten Seite, präsentieren unser ganzes Potenzial und wagen dabei Dinge, für die uns sonst immer der Mut gefehlt hat. Das ist auch gut so, denn würden wir gleichzeitig auch die dunklen Seiten sehen, würden wir uns womöglich gar nicht verlieben und die Menschheit wäre längst ausgestorben!

Warum machen wir das? Die Wissenschaft ist sich einig darin, dass die Seelenverwandtschaft der entscheidende Aspekt für die unbewusste Partnerwahl und auch der Kitt in der Beziehung ist. Wir Menschen haben alle den Willen zur Entwicklung in uns, und dazu müssen wir Erfahrungen machen und Anregungen bekommen, um zu lernen. Auch in puncto Beziehung wollen wir Erfahrungen machen und uns in unserer Persönlichkeit weiterentwickeln, wir wollen unsere eigenen Themen, unsere Licht- und Schattenseiten neu sortieren, bearbeiten und vielleicht auch korrigieren. Seelenverwandtschaft heißt, dass wir zu ähnlichen Themen ähnliche Erfahrungen gemacht haben, sie aber meist unterschiedlich bewältigt haben. Ein Beispiel: Beide haben streitende Eltern erlebt und die Angst, die man als kleines Kind dabei empfindet. Der Mann hat als Kind beschlossen, dass er das nie wieder erleben will, und geht jedem Konflikt aus dem Weg. Die Frau entwickelte als Kind eine Loyalität zu ihrem Vater, der den Streit meistens angezettelt hatte, und ist dann diejenige, die Konflikte auf den Tisch legt und anspricht. Das heißt, wir suchen uns einen Partner, der uns einerseits an die hellen Streifen unserer Kindheit erinnert, der uns aber auch an unseren wundesten Punkten frustrieren kann.

Schon an diesem Beispiel können Sie erkennen, dass in der Seelenverwandtschaft auch das Potenzial für Krisen steckt. Und so nehmen Beziehungsgeschichten auch ihren typischen Verlauf: Sobald nach ein paar Monaten die Verliebtheit langsam abklingt und der Alltag einkehrt, wird auch die emotionale Bindung weniger und wir werden dadurch verunsichert. Haben wir den richtigen Partner gewählt? Was uns zu Beginn der Verliebtheit begeistert hat, bekommt Risse. Aus einem schwärmerischen „Er ist mein Fels in der Brandung“ wird ein frustriertes „Er ist so langweilig und unternimmt nichts mit mir“, aus „Sie ist so erfrischend quirlig“ wird ein „Sie nervt mit ihrer dauernden Quasselei“. Man könnte sagen, dass wir uns dann langsam darauf einarbeiten, uns mit den dunklen Streifen unseres Strichcodes zu befassen: Wir konfrontieren einander mit den unangenehmen und schmerzlichen Themen aus unserer Kindheit. Weil wir diese Themen selbst gut kennen, sind wir da als Partnerin bzw. Partner auch sehr kompetent!

 

So unangenehm das auch ist, so ist dies der Weg, den wir brauchen, wenn wir etwas weiterentwickeln wollen. Im Englischen heißt es: „You cannot heal, what you do not feel.” Unsere Partnerin, unser Partner konfrontiert uns mit unseren schmerzlichsten Themen, die wir ja meistens unbewusst in uns tragen. Indem uns unser Partner frustriert und einen Konflikt provoziert, spüren wir diesen Schmerz wieder, und nur so kann er auch geheilt werden.

Das macht Beziehungen so herausfordernd. „So hat mich noch nie jemand frustriert“, sagen wir dann und denken über Trennung nach. Dabei haben wir uns diesen Menschen doch selbst ausgesucht, und zwar aus gutem Grund: der Strichcode, die Seelenverwandtschaft, die der Nährboden dafür ist, damit wir alte Wunden heilen und uns in unserer Persönlichkeit weiterentwickeln können. Denn das ist die Kunst der Liebe: es zu schaffen, sich nicht nur in der Verliebtheit mit allen Ressourcen zu unterstützen, sondern ein Leben lang.

Seelenverwandtschaften sind nicht immer leicht erkennbar. In der Szene zu Beginn dieses Impulses haben wir einen Dialog von uns selbst abgebildet: Sabine reagiert ganz offensichtlich gereizt darauf, dass Roland wissen möchte, wann sie heimkommt. Sie fühlt sich dadurch eingesperrt, überwacht. Mit jedem „Wann kommst du wieder?“ drückt er bei ihr einen roten Knopf, der direkt in eine alte Erfahrung von ihr führt: Ihre Mutter hat sie überbehütet. Verständlich, wenn man die Geschichte kennt, denn zwei Jahre, bevor sie geboren wurde, starb ihre Schwester durch einen tragischen Unfall. Aus Angst, der jüngeren Tochter könnte auch etwas passieren, wurde sie quasi eingesperrt. Und noch etwas schwang mit, das ihr Vater einmal treffend auf den Punkt brachte: „Es war schlimm, dass deine Schwester starb“, sagte er, „doch dann kamst du, und dann war alles wieder in Ordnung.“ Es war also implizit ihr Auftrag, den Verlust wiedergutzumachen.

Auch in Rolands Geschichte gab es einen tragischen Verlust im Leben seiner Mutter, und auch er sollte etwas wiedergutmachen. In einem langen Gespräch mit seiner Mutter erfuhr er, dass sie im Krieg schon einmal verlobt war, ihr Verlobter aber im Krieg fiel. Wie es damals so war, sperrte sie ihren Schmerz und ihre Trauer in den hintersten Winkel ihrer Seele und beschloss unbewusst, nie wieder eine neue Liebe einzugehen. Doch wie das so ist mit negativ formulierten Beschlüssen6, kam es anders und sie verliebte sich – in Rolands Vater. Sie gebar drei Mädchen und dann kam endlich der lang ersehnte Stammhalter zur Welt. Und so hörte Roland tatsächlich denselben Satz wie Sabine: „Und dann kamst du zur Welt, und alles war in Ordnung.“

Ein weiterer Teil unserer Seelenverwandtschaft ist, wie wir als Kinder mit unseren Bedürfnissen gesehen wurden: Sabine, die zu viel Aufmerksamkeit bekam, so viel, dass es sie erdrückte und sie sich eingesperrt und unfrei fühlte. Roland, der viel zu viel alleine war, weil die Eltern sehr viel arbeiteten. Und so drücken wir beide in diesem Dialog auf den wunden Punkt des anderen und reagieren inadäquat: Roland drückt auf Sabines Wunde des Eingesperrtseins und Sabine drückt auf Rolands Wunde des Verlassenseins.

Das Wichtigste ist, dass wir wissen: Es ist die Seelenverwandtschaft, die starke Verbindungen erzeugt. Und jedes Mal, wenn wir dank dieser Seelenverwandtschaft auf wunde Punkte stoßen, sollten wir nicht böse auseinandergehen, sondern hinschauen, wie wir den eigenen Strichcode, den wir aussenden, verändern können. Zu jeder Beziehung gehören nun einmal nicht nur die hellen Streifen, sondern auch die dunklen. Und so, wie wir uns über die hellen Streifen freuen, sollten wir auch die dunklen als ein Geschenk, als Teil der gemeinsamen Entwicklung betrachten.7

6siehe auch Impuls Nr. 25

7Falls „Geschenk“ Sie ungläubig den Kopf schütteln lässt: Lesen Sie Impuls Nr. 10!